19 Die Frauen von Troja

W as ist?« Andromache war diejenige, die Kassandra fragte, was ihr Heulen ausgelöst hatte. Ihre Mutter und ihre Schwester hatten es schon lange aufgegeben, Antworten auf Kassandras plötzliche und extravagante hysterische Anfälle zu finden. Es kam vor, dass sie in einem Moment still dasaß, wie ein ganz normales Mädchen. Und dann, wie aus dem Nichts, fing das Zittern an, und ein Schwall an halbverschluckten Worten ergoss sich aus ihrem Mund. Man konnte sich keinen Reim darauf machen.

»Er ist es, er ist es, er ist es«, kreischte Kassandra. Sie merkte, dass ihre Mutter ihr einen Schlag auf den Hinterkopf verpassen wollte, und versuchte, leiser zu sprechen, aber ihr Entsetzen gewann die Überhand. »Mein Bruder«, sagte sie. »Mein Bruder, mein kleinster Bruder, der Gerettete ist tot, er ist tot, er ist tot, er ist tot, er ist tot.«

Bei diesen Worten erstarrte Hekabe. »Sei still, oder ich schneide dir eigenhändig die Zunge heraus. Niemand darf von deinem Bruder erfahren, davon, dass er entkommen ist. Niemand. Hast du mich verstanden? Sein Leben hängt davon ab, dass du den Mund hältst.«

Kassandra schüttelte den Kopf, winzige Bewegungen, wie ein Tic. »Zu spät, zu spät, zu spät, um ihn zu retten«, sagte sie. »Zu spät, um Polydoros vor den Griechen zu retten. Sie wissen schon, wer er ist und dass er ist und wo er ist, denn er ist schon hier, und sie haben ihn.«

Polyxena griff mit einer Hand sanft nach dem Arm ihrer Mutter. »Sie wird bald erschöpft sein, Mutter. Das weißt du ja. Sie wird still sein, bevor die Griechen in Hörweite sind.«

Sie zeigte mit dem Kopf in Richtung der griechischen Soldaten, die ihre schwere Last am Ufer entlangtrugen.

»Spielt keine Rolle, spielt keine Rolle.« Kassandras Stimme war jetzt nur mehr ein Flüstern.

»Polydoros ist nicht hier«, zischte Hekabe Polyxena zu. Ihr jüngster Sohn hatte Polyxena von allen Geschwistern am nächsten gestanden, und dennoch hatten sie seine Flucht aus Troja auch vor ihr verheimlicht, bis er weg war.

»Er ist in Sicherheit. Wir haben ihn schon vor Monaten fortgeschickt, um ihn zu schützen.«

»Ich weiß, Mutter. Mach dir keine Sorgen. Du weißt doch, dass das, was Kassandra sagt, Schwachsinn ist. Es ist immer Schwachsinn.«

Andromache sagte nichts, aber sie legte ihre Hand zwischen Kassandras Schulterblätter und tätschelte ihr den Rücken. Kassandra aus ihren schlimmsten Exzessen herauszuholen war in etwa so, als müsse man ein verängstigtes Maultier beruhigen. »Schschsch«, sagte sie. »Schschsch.«

Kassandra machte jetzt nur noch tonlose Mundbewegungen. Und als die Griechen schließlich das Lager der Frauen erreichten, bewegten sich selbst ihre Lippen kaum noch. Tränen flossen ihr in Strömen die Wangen hinab und mischten sich mit dem Schleim, der ihr aus der Nase lief.

Die griechischen Soldaten wechselten ein paar Worte miteinander, dann legten sie ihre Trage im Sand ab. Was darauf lag, sah aus wie ein Haufen Lumpen, aber die beiden Männer richteten sich mit offensichtlicher Erleichterung wieder auf. Der eine massierte sich mit den Fingerknöcheln den Rücken, während der andere mit Hekabe sprach.

»Du bist Priamos’ Frau?«

»Priamos’ Witwe.«

»Wenn Euch das lieber ist, Mylady.« Der Soldat grinste. Für eine siegreiche Armee gab es nichts Amüsanteres als eine aufmüpfige Sklavin, die glaubte, ihr ehemaliger Status hätte in ihrem neuen Leben auch nur die geringste Bedeutung. Vor allem wenn es sich bei der Sklavin um ein selbstgefälliges altes Weib wie dieses handelte.

»Wisst ihr, wer das ist?« Er versetzte den Stoffresten zu seinen Füßen einen Tritt, doch sie blieben bewegungslos. Die Lumpen waren zu feucht, um sich von alleine zu lösen. Der Soldat fluchte und bückte sich wieder, griff nach dem Rand des Stoffes und zog ihn schwungvoll zur Seite.

Niemand hätte ihn an seinem Gesicht erkannt. Es war vom Wasser aufgedunsen und mit Prellungen übersät, die von den Felsen stammten. Ein Teil seiner linken Wange war weggerissen, und um seinen Hals hatte er violette Striemen. Doch es waren die Stickereien auf seiner Tunika, die Hekabes Kehle einen leisen, kehligen Schrei entlockten. Sie konnte sich noch genau daran erinnern, wie er das Kleidungsstück zum ersten Mal getragen hatte. Sie hatte sein Spiegelbild in einem polierten Silberkelch gesehen und darüber gelacht, weil sein Gesicht in dem gerundeten Metall so verzerrt ausgesehen hatte. Sie wusste noch, wie ihre Sklavin die winzigen Stiche am Kragen des roten Stoffes gestickt hatte. Und auch wenn die Tunika im Salzwasser ausgeblichen war – sie hatte jetzt eine fleischartige Farbe, bei der es ihr den Magen umdrehte –, erkannte sie das Kleidungsstück.

Polyxena rannte zu ihrem Bruder und warf sich auf ihn. »Nein«, schrie sie. »Nein, nein, nein.«

»Ihr kennt ihn also.« Der griechische Soldat grinste, aber sein Landsmann schnalzte missbilligend mit der Zunge.

»Lasst die Leiche hier«, sagte der Ältere. »Lasst sie mit ihrer Trauer allein.«

»Odysseus sagte, wir sollen alles, was wir finden, ins Lager bringen«, antwortete der erste Mann, aber sein Lächeln war verblasst.

»Wir werden ihm erzählen, was wir gefunden haben. Lass sie um ihr Kind trauern. Für deine eigene Mutter würdest du das auch wollen.«

Der jüngere Mann nickte, wenn auch mürrisch, und die beiden machten sich auf den Weg zum griechischen Lager.

»Mein Bruder«, schluchzte Polyxena. »Mein wunderschöner Bruder.« Sie zog ihre Fingernägel über ihr Gesicht und hinterließ vier leuchtend rote Striemen auf jeder Wange. Andromache nahm Polyxenas Platz neben Hekabe ein und hielt die alte Frau fest, während die Schluchzer ihren zerbrechlichen, ausgezehrten Körper schüttelten. Sie hätte sich gerne die Haare ausgerissen, aber sie hatte noch nicht die Kraft dazu.

Und irgendwie hatten sie alle vergessen, dass Kassandra ihnen gesagt hatte, was passieren würde. Sie redeten sich ein, dass sie etwas völlig anderes behauptet hatte. Etwas, das sich als falsch erwiesen hatte, wie immer.