22 Die Frauen von Troja

H elena sah als Erste, dass Männer aus dem griechischen Lager auf dem Weg zu ihnen waren. Hekabe hatte die ganze Nacht um ihren Sohn getrauert. Polyxena, Andromache und die anderen trojanischen Frauen hatten in ihr Wehklagen eingestimmt, wobei schwer zu sagen war, ob Kassandra sich ihnen angeschlossen oder einfach für sich geweint hatte. Helena ging zu den Frauen, die sie verachteten, und sagte ihnen Bescheid.

»Die Griechen kommen.«

Hekabe hob ihr zerschundenes Gesicht. Dicke, violette Striemen waren zurückgeblieben, wo sie sich gekratzt hatte.

»Was wollen sie?«, weinte sie. »Wollen sie mich davon abhalten, meinen Sohn zu begraben? Ist es das, was als Nächstes passieren wird?«

»Vielleicht«, antwortete Helena.

»Reg sie doch nicht auf«, sagte Polyxena. »Bitte. Hast du nicht schon genug angerichtet?«

»Es ist nicht meine Absicht, sie aufzuregen«, sagte Helena. »Aber sie hat es verdient, dass ich ihr die Wahrheit sage. Vielleicht kommen sie, um Polydoros fortzubringen. Vielleicht kommen sie, um mich fortzubringen. Oder dich. Oder eine andere von uns.«

»Wie kannst du so unschuldig tun, wo das hier alles deine Schuld ist?«, fragte Polyxena. »Wie nur?«

»Es ist nicht ihre Schuld.« Hekabes Stimme war nach der langen Nacht ganz heiser. »Es ist meine.«

»Deine?«, fragte Polyxena, und Andromache sah, dass sie und Helena für einen kurzen Moment dieselbe Verwunderung teilten. »Wie kann es deine Schuld sein?«

»Als er geboren wurde, sagte man uns, dass er Troja zu Fall bringen würde«, schluchzte Hekabe. »Die Prophezeiung war ganz klar: Wir sollten Paris töten, oder er würde uns alle umbringen.«

Es herrschte Schweigen. »Warum habt ihr ihn nicht …?« Polyxena konnte den Satz nicht zu Ende bringen. Selbst jetzt, wo sie den Rauch ihrer zerstörten Stadt einatmeten, konnte sie es nicht sagen. Warum hatten sie ihren Bruder nicht umgebracht, den Bruder, von dem sie nicht einmal gewusst hatte, bis er als erwachsener Mann in die Stadt gekommen war und sein Geburtsrecht eingefordert hatte?

»Warum wir dem Rat der Götter nicht Folge geleistet haben?«, fragte Hekabe. »Du bist noch nicht verheiratet.«

Daraufhin stieß Kassandra ein lautes Heulen aus, aber niemand beachtete sie.

Hekabe fuhr fort: »Du kannst nicht wissen, wie es ist, dein neugeborenes Kind zu sehen und gleichzeitig zu erfahren, dass es der Untergang deiner Stadt sein wird. Er war so …« Sie zögerte, versuchte ein Wort zu finden, das nicht schmerzhaft abgedroschen war. »… klein. Er war so klein, und seine Augen waren riesig, und er war perfekt. Und wir konnten ihn nicht – ich konnte ihn nicht ersticken, wie man uns geraten hatte. Wenn du selbst ein Kind hast, wirst du das verstehen.«

»Was habt ihr mit ihm gemacht?«, fragte Helena. Sie sprach nie über Hermione, das Mädchen, das sie in Sparta zurückgelassen hatte. Helena wusste nicht einmal genau, ob ihre Tochter noch lebte. Das behielt sie für sich, weil sie wusste, dass Hekabe oder Polyxena sie zurechtweisen würden, wenn sie die Dreistigkeit besaß zu behaupten, sie vermisse eine Tochter, die sie aus freien Stücken zurückgelassen hatte. Aber es war durchaus möglich, jemanden zurückzulassen und trotzdem zu vermissen.

»Wir haben ihn Agelaos gegeben, dem Hirten meines Mannes«, sagte Hekabe. »Wir haben ihm gesagt, er solle das Kind vor den Mauern Trojas aussetzen. Irgendwo auf dem Berg.«

»Ihr habt Paris in den Tod geschickt?«, fragte Polyxena.

»Um euch alle zu retten«, antwortete Hekabe. »Um all unsere anderen Kinder zu retten, auch die, die noch gar nicht auf der Welt waren. Das schreckliche Schicksal war für Paris bestimmt, für ihn allein. Wenn er starb, würde der Rest von euch leben. Die Stadt würde bestehen bleiben. Priamos und ich waren uns einig, dass es das wert sein würde. Wir konnten es nur nicht ertragen, ihn sterben zu sehen.«

Polyxena starrte sie an. Sie hatte schon immer gewusst, dass ihre Mutter rücksichtslos sein konnte, aber das hier war etwas anderes, eine seltsame Mischung aus Emotionalität und Brutalität. Während Hekabe sprach, fiel es Polyxena schwer, den üblichen Gesichtsausdruck ihrer Mutter oder ihre beruhigend ungeduldige Stimme wiederzuerkennen.

»Aber der Hirte hat den Befehl Eures Mannes ignoriert«, sagte Helena. »Das ist nicht Eure Schuld.«

Hekabe weigerte sich normalerweise, Helena anzusehen. Diesen Anblick versagte sie sich. Aber jetzt schaute sie direkt in Helenas perfekte Augen.

»Doch, ist es«, murmelte sie. »Ich wusste, dass der Hirte uns hintergehen würde. Ich wusste, dass er schwach ist. Ich wusste, dass er den Jungen selbst behalten würde. Er hatte schon immer ein weiches Herz. Er konnte nicht einmal einen Wolfswelpen töten, wenn er von seiner Mutter getrennt worden war. Stellt euch das vor! Ein Hirte, der es nicht schafft, einen Wolf zu töten. Ich wusste, dass er viel zu schwach sein würde, um ein Kind zu töten. Aber ich habe nichts gesagt.«

»Hat Priamos auch von dieser Schwäche des Hirten gewusst?«, fragte Helena.

Hekabe nickte.

»Na ja, dann ist es nicht deine Schuld. Jedenfalls nicht deine allein«, sagte Helena. »Priamos hat dieselbe Entscheidung getroffen, und Paris war auch sein Sohn. Und Troja sein Königreich. Du warst in allem seine Partnerin, aber nicht seine Gebieterin. Der Großteil der Schuld liegt in Priamos’ Händen.«

»In Priamos’ Grab«, sagte Hekabe. »Aber unter den Lebenden trage ich die Schuld. Und jetzt hat Paris mich meinen jüngsten, unschuldigen Sohn gekostet. Noch eine letzte Bürde, um mich für meine Selbstsucht und meine Unvernunft zu bestrafen.«

»Polydoros würde dir keine Vorwürfe machen.« Andromache sprach leise, dennoch drehten sich alle um, um zu hören, was sie zu sagen hatte. »Er war ein freundlicher Junge, offenherzig und manchmal unvernünftig, aber er war nicht nachtragend oder grausam.«

Hekabe spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen, aber sie hatte nicht vor, schon wieder zu weinen. »Er war ein freundlicher Junge.« Sie nickte.

»Er wäre dir nicht böse, Mutter«, stimmte Polyxena zu. »Bitten wir die Griechen um Erlaubnis, ihn zu begraben.«

»Und was, wenn sie sich weigern?«, fragte Hekabe. Ihr Schmerz ging schon in eine stille Wut über.

»Wir sollten gleich Staub auf ihn werfen«, sagte Andromache. »Er wird durch die Tore des Hades treten und auf der Insel der Gesegneten wohnen. Das offizielle Begräbnis kommt dann später, oder eben nicht. Aber bis dahin wird er jedenfalls schon dort sein, wo er hingehört.«

Die Frauen erfüllten ihre Pflicht schweigend. Sie wuschen Blut und Sand von Polydoros’ Körper und entfernten die Wasserpflanzen, die an ihm klebten. Dann warfen sie Hände voll Staub über seinen Körper und murmelten Gebete an Hades und Persephone und auch an Hermes, der ihn in die Unterwelt begleiten und ihm den Weg zeigen würde. Die griechischen Soldaten waren fast bei ihnen, aber Polydoros war in Sicherheit, außerhalb ihrer Reichweite.