E ris – die Göttin der Zwietracht – hasste es, allein zu sein. Allerdings war sie das meistens, hier, in den dunklen Nischen ihrer Höhle, auf halber Höhe des Olymps, der Heimat der Gottheiten. Selbst ihr Bruder Ares, der Gott des Krieges, ging ihr zurzeit lieber aus dem Weg. Sie wusste noch genau, wie unzertrennlich sie gewesen waren: als Kinder, die einander an den Haaren zogen, wenn sie sich um ein Spielzeug stritten. Wie sie ihn vermisste, jetzt, wo er nicht mehr auf dem Olymp war. Wohin war er diesmal verschwunden? Sie war schon immer vergesslich gewesen, aber sie versuchte, sich zu erinnern, obwohl die schwarzen Schlangen, die sie um die Handgelenke trug, sie ablenkten. Thrakien? Schmollte er wegen Thrakien? Aber warum? Sie schob eine kletternde Schlange wieder an ihr linkes Handgelenk zurück. Wegen Aphrodite. Das war es.
Ares (sie dachte verächtlich an ihn, obwohl sie ihn vermisste) hatte ständig was mit irgendjemandem, aber seine Affäre mit Aphrodite hatte mehr Raum eingenommen als die meisten anderen. Eris konnte sich nicht mehr erinnern, wer Aphrodites Mann davon erzählt hatte. War es Helios gewesen? Hatte er gesehen, dass die beiden zusammensteckten, wann immer Hephaistos außer Haus war? Der Sonnengott sah schließlich alles, solange es in den Stunden passierte, in denen sein Licht die Welt erhellte. Aber er konnte doch nicht überall gleichzeitig hinschauen, oder? Sonst würde er mit seinem Pferdewagen vom Weg abkommen. Hatte jemand es also Helios erzählt, ihm einen Hinweis gegeben? Aber wer könnte das gewesen sein? Eris erinnerte sich verschwommen daran, wann sie zuletzt mit dem Sonnengott gesprochen hatte. Sie hatte zwar das Gefühl, dass das noch nicht besonders lange her war, aber sie wusste einfach nicht mehr, wann genau es gewesen war oder worüber sie gesprochen hatten.
Jedenfalls hatte irgendjemand es Helios erzählt, und er hatte Hephaistos gesagt, dass Ares und Aphrodite es miteinander trieben. Wie könnte Hephaistos, bucklig und lahm, wie er war, je erwarten, dass Aphrodite ihm treu war? Niemand war oberflächlicher als Aphrodite, sagte Eris sich: Sie hatte die Tiefgründigkeit einer flachen Pfütze, die sich bei einem kurzen Regenschauer bildete. Sie hätte Ares nie widerstehen können: groß und gutaussehend, wie er war, und so wunderbar mit seinem schicken Helm samt Federbusch ausstaffiert. Aber was scherte sich Aphrodite schon um Hephaistos? Er würde ihr immer irgendwann vergeben, egal wie sie sich benahm. Das taten alle.
Als sie über Aphrodite nachdachte, spürte Eris einen altbekannten, stechenden Schmerz in ihrem Rumpf. Sie dachte, dass eine der Schlangen bestimmt gerade ihre mürrischen Fangzähne aus ihrem Fleisch zog. Aber beide wickelten sich um ihre Unterarme, wie es sich gehörte. Sie musste sich den Schmerz wohl eingebildet haben.
Aber in diesem Fall war Hephaistos nicht bereit gewesen, seiner Frau sofort zu vergeben. Nicht, nachdem er herausgefunden hatte, dass sie Ares in ihrem ehelichen Heim verführt hatte, in ihrem ehelichen Bett. Als Helios ihm von ihrer Untreue berichtet hatte, beschloss er, sie auf frischer Tat zu ertappen. Er ging in seine Werkstatt und schmiedete goldene Fesseln, so fein wie Spinnweben. Er brachte sie versteckt im Schlafzimmer an, band sie um die Bettpfosten, befestigte sie unter und sogar über dem Bett, auch wenn keine der Gottheiten sagen konnte, wie der kleine Schmied die Decke erreicht hatte. Jemand musste ihm geholfen haben, aber wer? Helios jedenfalls nicht, der war ja den ganzen Tag mit seinem Wagen beschäftigt. Eris konnte sich vage daran erinnern, das Schlafzimmer selbst gesehen zu haben, aber sie wusste beim besten Willen nicht mehr, warum sie dort gewesen war oder ob Hephaistos auch dort gewesen war. Jedenfalls musste ihm jemand geholfen haben, jemand, der groß genug war, um die Decke zu erreichen. Eris bewunderte ihre eigenen langen Arme, wo sich eine der Schlangen gerade um ihr Handgelenk wand.
Plötzlich juckte es sie am linken Schulterblatt, und sie griff nach hinten, um sich zu kratzen. Sie schob ihren klauenartigen Fingernagel zwischen die Kiele ihrer schwarzen Federn und seufzte vor Erleichterung. Dann straffte sie die Schultern und spürte, wie sich ihre Flügel hinter ihr öffneten, während sie versuchte, sich daran zu erinnern, was als Nächstes passiert war. Ares und Aphrodite hatten einander natürlich nicht widerstehen können. Sie sahen beide so gut aus, dass das niemanden wirklich überraschte. Dennoch, als die Schreie aus Hephaistos’ Haus ertönten – ihre panisch, seine wütend –, konnten es sämtliche Gottheiten kaum erwarten, herauszufinden, was passiert war. Ares sah in den Goldfäden eventuell etwas weniger gut aus, festgebunden und bewegungsunfähig, wie er war. Jedes verzweifelte Zappeln fesselte ihn nur noch fester ans Bett eines anderen Gottes. Aphrodite hingegen, die die Arbeit ihres Mannes sofort erkannt hatte, lag still: Sie wusste, dass es keinen Sinn hatte, sich zu wehren. Ihr perfekter Mund war zu einem wütenden Schmollen verzogen, während die anderen Gottheiten sich um das Bett scharten und über ihre Dummheit und Hephaistos’ hübsche kleine Falle lachten. Aber Hephaistos, dessen Gesicht sich vor Wut verfinstert hatte, lachte nicht. Auch das Paar im Bett lachte nicht, selbst dann nicht, als sie von Athene – die so gut im Weben war, dass sie sofort erkannte, wie sie die Fesseln am schnellsten aufdröseln konnte – befreit wurden. Stattdessen verschwand Ares sofort, niemand wusste, wohin. Und Aphrodite zog sich nach Paphos zurück, wo ihre Priester ihren verwundeten Stolz salben würden. Die Barden nannten sie Aphrodite, die das Lachen liebt. Das war der Beweis, dachte Eris – falls es den überhaupt brauchte –, dass sie sich noch nie begegnet waren.
Wäre Eris eine andere Göttin gewesen, hätte sie vielleicht einen Moment der Solidarität genossen, als sie alle gemeinsam die Demütigung zweier so eingebildeter Wesen beobachteten. Die Gottheiten hätten einander vielleicht angestoßen, Hephaistos für seinen Einfallsreichtum gratuliert und Athene für ihre ganz untypische Gnade gelobt. Vielleicht hätte sich eine wirklich schöne Szene entwickelt, in der Eris eine Hauptrolle gespielt hätte. Doch aus Gründen, die ihr nie wirklich klar waren, passierte das nicht. Stattdessen begann Hephaistos, Athene anzuschreien, weil sie sich eingemischt hatte. Artemis verfluchte Aphrodite für ihre Vulgarität, und Hera schrie Zeus an, weil Helios gerade über ihnen den Himmel passierte – was für sie Grund genug war. Apollo warf Eris vor, dass das alles allein ihre Schuld sei, auch wenn sie überhaupt nicht wusste, warum, und der schöne Moment löste sich in kollektive schlechte Laune auf. Eris hatte sich, wie so oft, in ihre Höhle zurückgezogen, weil ihre Anwesenheit offensichtlich nicht erwünscht war. Aber nachdem sie eine Weile lang elend in der Dunkelheit gesessen hatte (sie hatte kein gutes Zeitgefühl), wurde ihr langweilig.
Eris sah zu, wie eine schwarze Feder trübsinnig von ihrem Flügel zu Boden schwebte, und beschloss, jemanden zum Reden zu finden. Selbst Athene wäre besser als nichts. Na ja, fast besser als nichts. Eris konnte sich nicht entscheiden, wen sie am liebsten sehen wollte, denn um ganz ehrlich zu sein gingen ihr alle Gottheiten irgendwie auf die Nerven. Trotzdem, von ihrer eigenen Gesellschaft hatte sie gerade auch genug, und sie wollte lieber genervt als alleine sein. Also flatterte sie unbeholfen zum Berggipfel hinauf, zu dem großen Palast, den Zeus sein Zuhause nannte.
Irgendetwas stimmte nicht, aber Eris war nicht sofort klar, was das war. Es dauerte einen Moment, bis sie bemerkte, dass sie die Vögel singen hörte, aber sonst nichts. Niemand sprach. Sie lief durch die Hallen der Gottheiten, sah aber niemanden. Als sie schließlich tiefer im Inneren des Gebäudes war, wurden die Vogelstimmen leiser, und sie hörte nur noch das Kratzen ihrer Klauen auf dem Marmorboden. Wo waren sie denn alle? Sie spannte ihre Flügel auf und flog durch Torbögen und über Gänge hinweg, bis sie sich irgendwann auf einen der Dachbalken setzte. Es war alles leer.
Kurz ergriff sie die Angst: Was, wenn etwas Schreckliches passiert war, von dem sie nichts mitbekommen hatte? Ein weiterer Krieg mit den Riesen vielleicht? Aber selbst wenn sie in ihrer Höhle saß (sie zog die beruhigende Dunkelheit dem Blumengestank in Zeus’ und Heras Hallen vor), hätte sie es doch gehört, wenn die Riesen den Berg hinaufgestiegen wären, um zu kämpfen. Das Einzige, was man mit Sicherheit über Riesen sagen konnte, war, dass sie selten unauffällig waren und nie leise. Also hatten die Gottheiten den Olymp freiwillig verlassen. Alle. Zusammen. Ohne sie.
Sie spürte, wie die Schlange an ihrem linken Handgelenk über ihre Hand und zwischen ihre Finger glitt. Und dann erinnerte sie sich, dass jemand etwas über eine Hochzeit gesagt hatte. Wer war es nochmal gewesen? Hera? Ja, genau. Eris hatte, genau wie jetzt, unbemerkt im Gebälk gesessen, nur damals nicht in den Hallen, sondern im Schlafzimmer von Hera und Zeus. Hera hatte das Spionage genannt, aber das lag nur daran, dass sie so eine bösartige alte Schachtel war, wie Zeus ihr gerade auch mitgeteilt hatte, und das wussten auch alle. Außerdem hatte Eris ja nicht wirklich spioniert, sie hatte lediglich ihre Flügel ausgeruht.
Aber als Hera die Federn bemerkte, die aus dem Gebälk herabschwebten und auf ihrem kunstvoll geschnitzten Sofa landeten, verfluchte sie zuerst die Krähen, weil sie dachte, deren schwarzes Gefieder würde ihre Hallen beschmutzen. Dann – als sie ihren Irrtum bemerkte – verfluchte sie Eris. Sie stürzte sich geradezu auf sie und warf sie aus dem Palast. Eris verzog sich wieder in ihre Höhle und schwor Rache. Aber jetzt konnte sie Hera nicht einmal finden. Weil – die flinke Zunge der Schlange berührte ihren Ringfinger –, weil sie alle auf einer Hochzeit waren. Das war es. Alle Gottheiten waren zu einer Hochzeit eingeladen worden. Alle. Sogar Athene. Nur Eris nicht.
Sie spürte, wie die Wut in ihr brodelte. Wessen Hochzeit war das? Wer hatte es gewagt, sie zu übersehen? Sie, Eris, die Königin der Zwietracht und der Missgunst? Wer war so unhöflich, so gemein und grausam, sie nicht einzuladen? Gedankenverloren tätschelte sie den Kopf der Schlange, da fiel ihr der Name wieder ein: Thetis, sie war es gewesen. Die aufgeblasene kleine Meeresnymphe mit ihrem grünlichen Haar und ihren wässrigen Augen heiratete, doch man musste schon blind sein, um wirklich zu glauben, dass dieses feuchte kleine Ding das wirklich wollte. Wie kam diese Meeresnymphe – Eris’ Wut wurde mit jedem Moment größer – nur auf die Idee, sie von einem göttlichen Festmahl auszuschließen? Wie konnte sie es wagen …
Ihre Gedanken brachen ab, als sie mit dem Kopf an die Decke stieß. Nein, es war nicht Thetis, die entschieden hatte, wen sie einlud und wen nicht. Thetis hätte am liebsten selbst nicht an dieser Hochzeit teilgenommen, da hatte sie wohl kaum die Gästeliste geschrieben. Nein. Es war jemand anderes gewesen, der entschieden hatte, welche Gottheiten anwesend sein sollten, und diese Person hatte alle eingeladen, außer ihr. Eris spürte ein plötzliches Prickeln in ihren Augen, dessen Ursache sie nicht erkennen konnte.
Aber auch wenn sie nicht wusste, wer sie verschmäht hatte, so wusste sie eins ganz gewiss: Das war ein Affront. Sie hatte darüber hinweggesehen, dass Hera sie aus ihrem Schlafzimmer geworfen hatte. Sie war darüber hinweg, dass die Gottheiten sich gegeneinander und dann gegen sie wandten, als sie sich über Ares und Aphrodite lustig gemacht hatten. Aber jetzt? Jetzt waren sie zu weit gegangen. Eris war nicht dumm, sie wusste, dass das Chaos ihren schwarzen Flügeln folgte. Aber das war keine Entschuldigung. Diesmal würde sie sich rächen.
Sie stapfte durch die Hallen und warf alles um, was wertvoll oder geliebt aussah: Parfümflaschen und Ölgefäße zerbrachen, verbeulte Schilde fielen klappernd zu Boden, eine Perlenkette zerriss und verteilte sich im ganzen Raum.
Sie wusste nicht genau, wo die Gottheiten waren, aber sie konnte einen Lichtschein auf einer Insel irgendwo weit unter dem Olymp ausmachen, und sie war sich sicher, dass alle oder zumindest die meisten von ihnen genau dort waren. Sicher lachten sie über Eris und hatten Spaß auf ihre Kosten. Was sonst gibt es auf einer Hochzeit zu tun?
Sie würde dorthin fliegen und die Zwietracht säen, für die sie so gefürchtet wurde. Sie würde Gottheit gegen Gottheit aufwiegeln und Mensch gegen Mensch, und wenn dieser Tag vorbei war …
Ihre Gedanken wurden schon wieder unterbrochen, gerade als sie losfliegen wollte. Sie flatterte zurück auf den Boden, den Blick fest auf etwas gerichtet, das dort im Morgenlicht glänzte. Hell und matt zugleich, warm und kühl, hart und rund. Sie griff danach. War der für sie bestimmt, dieser goldene Ball? Sie drehte ihn in ihren Klauen. Nein, das war kein Ball. Es war ein Apfel. Wer auch immer ihn zurückgelassen hatte, wollte ihn offensichtlich nicht haben, sonst läge der Apfel nicht noch hier. Und jetzt, bei näherem Hinsehen, erkannte sie, dass ein Schriftzug auf dem Apfel eingraviert war. Vielleicht stand da ja »Der Apfel von Eris, der Schönsten der Gottheiten«. Vielleicht war der Apfel eine Entschuldigung dafür, wie grausam man sie behandelt hatte. Er konnte die Gemeinheiten zwar nicht wiedergutmachen, aber er war immerhin ein Anfang, dachte sie. Noch schöner wäre es natürlich gewesen, wenn jemand den Anstand gehabt hätte, ihn zu ihr in die Höhle zu bringen, aber es besuchte sie ja nie jemand.
Sie konnte die verschlungenen Worte nicht richtig lesen, also rieb sie die goldene Oberfläche an ihren Federn und hielt den Apfel dann ins Licht. Nein, ihr Name stand da nicht. Aber das bedeutete ja nicht, dass sie ihn nicht haben konnte. Schließlich hielt sie ihn ja gerade in der Hand. Sie hatte ihn bereits.
Sie schaute ihn noch einmal genauer an, drehte ihn hin und her und versuchte, die eng verschlungenen Buchstaben zu entziffern. Sie fuhr den Schriftzug mit dem Finger nach: »Te kalliste .«
Für die Schönste?
Eris lächelte. Sie würde den Apfel nehmen. Aber sie würde ihn nicht behalten.