28 Hekabe

K assandra sah die Zukunft, als wäre sie die Vergangenheit. Für sie war es anders als für die Priesterinnen, die den Vogelflug und die Eingeweide deuteten. Deren nebeligen Voraussagen nach zu urteilen könnte man meinen, dass die Zukunft immer von einem Wolkenschleier verhangen war, dass sie aus winzigen hellen Streifen in der Dunkelheit bestand. Für Kassandra war sie dagegen so klar wie eine frische Erinnerung. Als sie also Odysseus sagen hörte, dass er mit ihrer Mutter nach Thrakien segeln würde, wusste sie, was geschehen würde. Denn für sie hatte es dieselbe Klarheit wie etwas, das sie schon miterlebt hatte.

Sie spürte, wie eine Welle des Ekels sie überrollte und ein altbekannter, saurer Geschmack in ihrer Kehle aufstieg. Doch sie wagte es nicht, sich zu übergeben, weil sie wusste, dass Hekabe sie für die Sauerei bestrafen würde. Ihr Mund wäre angewidert verzogen, und sie würde ihrer Tochter eine Ohrfeige verpassen. Kassandra spürte ein Kribbeln in den feinen Narben an ihrer Schläfe, die sie hatte, seit ihre Mutter sie geschlagen hatte, während sie ihren vollständigen zeremoniellen Schmuck trug. Das Gold war jetzt natürlich weg, sicher verstaut in den Truhen der Griechen. Kassandra schluckte zwei-, dreimal in rascher Folge, holte tief Luft und versuchte, sich auf den leicht salzigen Geschmack der Luft zu konzentrieren. Salz hatte ihr schon immer die stärkste Übelkeit genommen.

Aber wie konnte Salz vom Geräusch der aufplatzenden Augäpfel ablenken, vom Anblick des schwarzen, glibberigen Gelees, das über ein wettergegerbtes Gesicht lief? Ihr Atem wurde unregelmäßig. Sie schob die Vision zur Seite, aber jedes Mal, wenn sie blinzelte, kam das Bild zurück: verstümmelte Augenhöhlen und dickes, dunkles Blut. Kassandra versuchte, in die Gegenwart zurückzukehren, sich von der Zukunft abzuwenden und einfach dort zu sein, wo sie gerade war. Manchmal konnte sie zurückgehen, Schritt für Schritt vom Morgen ins Heute, und mit jedem kleinen Schritt wurde ihr starker Wunsch zu schreien geringer.

Aber dieses Mal konnte sie nicht zurückgehen, nur vorwärts auf die Katastrophe zu, immer und immer wieder. Sie sah, wie ihre Mutter sie verließ – war sie, Kassandra, die Letzte, die die Küste Trojas verlassen würde? Sie wollte sich umschauen und nachsehen: Wo war Andromache, wo war ihre Schwester, Polyxena? Aber sie konnte nur sehen, was sich direkt vor ihren Augen abspielte: den nächsten Morgen. Es musste der nächste Morgen sein, nicht wahr? Odysseus hatte ja zu ihrer Mutter gesagt, dass sie dann mit ihm fortsegeln würde. Und der Gesichtsausdruck ihrer Mutter, als der griechische Held die Hand ausstreckte, um ihr auf sein Schiff zu helfen, war geradezu triumphierend. Ihre Körperhaltung war nach wie vor die einer Königin, selbst wenn diese Königin einen rußverschmierten Chiton trug, der am Saum an zwei Stellen eingerissen war.

Hekabe bereitete sich auf das Treffen mit Polymestor vor, das konnte Kassandra sehen. Es tröstete sie ein wenig, dass ihre Mutter nicht alleine sein würde. Odysseus würde eine kleine Gruppe von Hekabes Dienerinnen mitnehmen. Obwohl sie also ihre Familie zurücklassen musste, hätte sie Frauen bei sich, deren Gesellschaft sie sowieso oft bevorzugt hatte.

Kassandra fragte sich, ob Odysseus mit den anderen Griechen hatte verhandeln müssen, ob er die ganze Schar mitnehmen konnte, oder ob es den anderen egal gewesen war, was mit den alten Frauen passierte.

Als sie noch ein letztes Mal über trojanischen Boden lief, machte ihre Mutter keine Anstalten, Kassandra in den Arm zu nehmen oder ihr einen Abschiedskuss zu geben. Stattdessen sah Kassandra etwas in ihren Augen, das sie nicht kannte. Die Verzweiflung, die Hekabe normalerweise im Gesicht stand, war verschwunden. Sie gab ihrer Tochter zwar keinen Kuss, das stimmte wohl. Aber sie tat es deswegen nicht, weil sie die Demütigung fürchtete, dabei in Tränen auszubrechen.

Die Szene löste sich auf, und es entstand ein neues Bild, in dem Odysseus’ Schiff an einem Strand der chersonischen Küste landete. Kassandra wusste, dass es sich dabei um Thrakien handelte – einen Ort, den sie noch nie gesehen hatte. Doch sie war sich so sicher, als wäre sie dort aufgewachsen. Ihre Visionen waren nie falsch. Nie fehlte es an Details, auch wenn sie diese nicht immer verstehen konnte. In der kurzen Zeit, die Odysseus’ Männer brauchten, um an Land zu gehen und ein paar kleine Zelte aufzustellen, erschienen von irgendwo aus dem Landesinneren zwei Boten in prächtiger Kleidung. Sie verbeugten sich vor Odysseus, fielen fast auf die Knie, um ja ganz sicherzugehen, dass er ihrem König wohlgesonnen sein würde. Odysseus mochte vielleicht Gast in Thrakien sein, aber es machte sich niemand Illusionen, dass sein Gastgeber – der König, Polymestor – nicht verzweifelt auf Odysseus’ Gunst hoffte. Die Boten beachteten die alten Frauen, diese kleine Gruppe an Sklavinnen, nicht. Warum sollten sie auch? Kassandra spürte erneut einen sauren Druck in ihrer Kehle und presste schnell die Zunge gegen ihren Gaumen. Nicht jetzt, nicht jetzt, nicht jetzt. Sie versuchte, sich auf den Sand unter den Sandalen ihrer Mutter zu konzentrieren, der voller runder, grauer Kieselsteine und leuchtend weißer Muscheln war, die sie am liebsten aufgehoben hätte, um mit dem Daumennagel über die hübschen Rillen zu fahren.

Eine weitere Flut an Erinnerungen traf sie, wie ein Schlag in die Magengrube. Aber es handelte sich um echte Erinnerungen, auch wenn sie nicht ihre eigenen waren. Es war nicht die Zukunft, die sie jetzt spürte, es war die Vergangenheit. Ihre Mutter stand genau an der Stelle, wo Polydoros’ Leiche aus der Bucht gerudert worden war, aufs offene Meer, wo er über Bord geworfen wurde, nachdem man ihm ein paar Handvoll Steine in seine Tunika gestopft hatte, um ihn zu beschweren. Hekabes Füße würden in die Fußstapfen der Männer treten, die das Boot zu Wasser gelassen hatten. Sie würde Polydoros so nahe sein und doch zu spät kommen. Kassandras Visionen kamen immer zu spät, selbst wenn das anders hätte sein sollen. Sie hatte längst gelernt, dass niemand die Wahrheit aus ihrem Mund hörte. Selbst wenn sie aufmerksam waren, hörten sie sie nicht.

Kassandra sah, dass die Männer, die sich an ihrem armen Bruder vergriffen hatten, nicht erkannt hatten, dass das Wasser ihn drehen und die Steine dabei aus seinen Taschen fallen würden, bevor er auch nur eine Armeslänge unter die Wasseroberfläche gesunken war. Er hätte auf den Meeresgrund sinken und dort von Fischen aufgefressen werden sollen, während die Meeresnymphen schweigend dabei zusahen. Aber sie hatten ihn nicht ordentlich beschwert. Kein Wunder, dass er nur einen Tag später am Strand vor Troja angespült worden war.

Sie sah, dass sein Gesicht schon zerschunden gewesen war, lange bevor er an die felsige Küste gespült wurde. Ihr wunderschöner Bruder war verprügelt worden, bevor der verräterische griechische König ihn in dem Glauben umgebracht hatte, dass das nie herausgefunden würde. Kassandra versuchte, sich genau daran zu klammern – an die bösartigen Motive dieses abscheulichen Mannes –, als sie beobachtete, wie Odysseus mit seinen Sklaven sprach und ihnen sagte, sie sollten ihren König auf seine Großsegler einladen, wo ihn die siegreichen Helden von Troja willkommen heißen würden. Sie sah zu, wie die Boten davonhuschten, um Polymestor die Nachricht zu überbringen. Sie sah, wie sich die Lippen ihrer Mutter zu einer dünnen Linie formten. Sie sah alles.

Wieder verschwand die Szene, und dann tauchte Polymestor auf, der über den mit Grasbüscheln übersäten Sand schritt. Er war aufs Prachtvollste gekleidet: mit einem reich bestickten Gewand, goldenen Ketten um seinen Hals, goldene Ringe an seinen fetten Fingern. Sein schütteres schwarzes Haar war auf trojanische Art geölt, und Kassandra sah, wie ein Anflug von Abscheu über Odysseus’ Gesicht zuckte, bevor er zur Begrüßung beide Hände des Mannes ergriff. Kassandra konnte die übermächtige Süße von Zimt und Myrte riechen, mit denen der Mann sein Haaröl versetzt hatte.

»Odysseus!«, sagte er und strahlte über das ganze Gesicht. »Es ist mir eine Ehre.«

»Ja, das haben Eure Sklaven auch betont«, gab Odysseus zurück. »Ihr wartet sehnsüchtig auf Neuigkeiten aus Troja, wie es scheint.«

»Natürlich, natürlich«, sagte Polymestor. »Wir haben viele Rinder geopfert, in der Hoffnung, die Gunst der Götter für die Griechen zu gewinnen.«

»Wie großzügig von Euch«, sagte Odysseus. »Aber Ihr selbst wolltet Euch nicht an den Kriegsanstrengungen beteiligen?«

Falls Polymestor den schwachen Unterton in Odysseus’ Stimme gehört hatte, ließ er sich das nicht anmerken. »Mein thrakisches Königreich ist das Bollwerk Griechenlands«, antwortete er. »Ich wusste, dass ich dafür sorgen musste, unsere Vorherrschaft zu sichern, falls Ihr unsere Hilfe brauchen würdet. Ich habe Boten an Agamemnon entsandt, mein Herr. Er hat immer gewusst, dass wir bereit sind, zu helfen. Er brauchte nur eine Nachricht zu schicken.«

»Von diesen Nachrichten hat Agamemnon mir nie erzählt«, sagte Odysseus.

»Er ist so diskret«, stimmte Polymestor zu.

»Das entspricht keinesfalls meinen Erfahrungen. Aber Ihr kennt ihn zweifellos besser als ich.«

Kassandra sah, wie Odysseus’ Männer ihrer Arbeit nachgingen. Sie bauten ein kleines Lager auf, von dem sie wussten, dass sie es nie benutzen würden. Kein Wunder, dass es ihnen so leichtgefallen war, die Trojaner zu täuschen, dachte sie. Scheinheiligkeit lag in der Natur dieser Griechen, dieser Ithaker. Es war für sie genauso selbstverständlich wie Wasser zu holen oder ihre Waffen zu reinigen.

»Ich kenne nur seinen großartigen Ruf«, sagte Polymestor. »Ich nehme an, man ist versucht, die Lücken in seinem Wissen dadurch zu füllen, dass man sich vorstellt, was für ein Mann sich wohl so verhält.«

»Wie denn?«, fragte Odysseus.

»Alle Hilfsangebote wies er großzügig zurück. Niemals wollte er die Gutmütigkeit eines anderen ausnutzen.«

»Ah, ich dachte schon, Ihr wärt bescheiden. Aber ich sehe schon, Ihr habt einfach nur die Wahrheit gesagt.«

»Ich weiß nicht, ob ich verstehe, was Ihr meint.« Einzig die schwarzen Pupillen in Polymestors Augen verrieten, wie unangenehm ihm die Situation war.

»Ihr kennt ihn wirklich nicht«, gab Odysseus zurück. Er lachte und schlug dem thrakischen König auf die Schulter. Polymestor lachte laut auf, erleichtert, dass er nichts Falsches gesagt hatte.

»Ich bringe heute nicht nur meine eigenen Männer an Eure stolzen Ufer«, fuhr Odysseus fort.

»Oh?«

»Ja, ich habe jemanden mitgebracht, den Ihr schon lange kennt. Wir wollten die Gelegenheit eines Wiedersehens nicht verstreichen lassen.«

»Wen Ihr wohl meinen könntet?«, fragte Polymestor. Er drehte sich in alle Richtungen und versuchte, unter der zerstreuten Schar Seemänner den unbekannten Besucher auszumachen.

»Ah, hier draußen am Ufer sucht Ihr vergeblich«, sagte Odysseus. »Sie erwartet Euch in diesem Zelt.« Er zeigte auf ein graues Tuch, das über ein paar Stangen gespannt worden war, um einen provisorischen Unterstand zu errichten.

»Sie?« Polymestors Gesichtszüge nahmen einen lasziven Ausdruck an.

»Hekabe, die Königin von Troja«, sagte Odysseus. Sein Blick war fest auf das Gesicht des griechischen Königs gerichtet, der nur leicht verunsichert aussah.

»Es war kein Verbrechen, mit Menschen aus meiner eigenen Gegend befreundet zu sein.« Polymestors Tonfall war ruhig und gefasst.

»Natürlich nicht. Hekabe sagte, Ihr wärt mit ihrem Mann befreundet gewesen, lange bevor der Krieg ausbrach.«

Die Erleichterung stand dem thrakischen König ins Gesicht geschrieben. »Das stimmt«, sagte er. »Es ist genau, wie sie gesagt hat. Wir waren Handelspartner und darüber hinaus durch uralte Bande der Gastfreundschaft verbunden.«

»Und ich hoffe, dass wir beide das auch sein werden.« Odysseus klopfte Polymestor noch einmal auf den Rücken. »Noch bevor die Sonne heute Abend hinter unseren Schiffen untergeht.«

Polymestor nickte begeistert. »Das werden wir, Odysseus. Wir werden feste Freunde sein.«

»Eine Sache noch«, sagte Odysseus. »Hekabe hat mir auf der Reise von Troja hierher etwas gestanden.«

»Was denn?«

»Sie hat ihren jüngsten Sohn in Eure Obhut gegeben.«

Kassandra beobachtete, wie Polymestor mit sich rang, um trotz seiner Nervosität zu antworten.

»Ich …« Er hielt inne und schaute auf die Bucht hinaus. Selbst wenn sie durch uralte Bande der Gastfreundschaft verbunden waren, könnte es für die Griechen an Verrat grenzen, dass er einen jungen Mann aus einer feindlichen Stadt beherbergt hatte.

»Ah, ich sehe, ich habe Euch Unbehagen bereitet«, sagte Odysseus. Wenn er dem König von Thrakien noch einmal auf die Schulter klopfte, würde der sicher blaue Flecken davontragen. »Ich verstehe, dass Ihr dem jungen Mann Unterschlupf gewährt habt. Das war Eure Pflicht gegenüber Priamos.«

»Ihr müsst verstehen«, sagte Polymestor. »Ich habe mir nicht ausgesucht, dass der Junge hierherkommt, aber als er hier ankam …«

»Was hättet Ihr da schon tun können?«, fragte Odysseus.

»Was hätte ich schon tun können?«, wiederholte Polymestor.

»Ihr hättet dem Jungen ein komfortables Leben schenken und ihn als Euren eigenen Sohn großziehen können«, sagte Odysseus.

»Ja«, stimmte Polymestor zu. »Genau das habe ich getan.«

»Ihr selbst habt auch Söhne?«

»Ja, zwei. Sie sind jünger als Priamos’ Sohn«, sagte er. »Gerade acht und zehn Jahre alt. Und doch ist der Ältere schon so groß.« Er hielt die Hand auf Höhe seines Herzens. »Der Jüngere ist kaum drei Fingerbreit kleiner.«

»Ah, schickt doch Eure Männer, um sie herzubringen«, bat Odysseus. »Ich habe meinen eigenen Sohn zuhause gelassen und würde gerne Eure großartigen Jungen sehen.«

»Natürlich.« Polymestor winkte einen seiner Diener zu sich und murmelte ihm Anweisungen zu. Der Sklave nickte und eilte davon.

»Bring Polydoros auch gleich mit«, rief Odysseus ihm nach. Der Sklave blieb wie angewurzelt stehen und starrte seinen König wortlos an.

»Was?« Polymestors Lächeln verbarg jetzt nichts mehr. »So heißt er doch, oder? Polydoros? Ah, ich erkenne an Eurer Verwirrung, dass ich mich geirrt haben muss. Wie heißt nochmal Priamos’ Sohn?«

Der Geruch von Angst war jetzt unverkennbar.

»Ihr liegt ganz richtig, ganz richtig«, sagte Polymestor. »Aber ich kann ihn nicht holen lassen.«

»Ja, warum denn nicht? Seine Mutter ist hier. Es ist seine letzte Chance, sie zu sehen, bevor sie mit mir nach Ithaka abreist. Eine solche Begegnung würdest du dem Jungen doch sicher nicht verwehren?«

»Natürlich nicht, natürlich würde ich das nicht.« Polymestors Gedanken rasten. »Aber er ist nicht hier. Er ist auf der Jagd, in den Bergen.«

»In den Bergen?«

»Ja, im Landesinneren. Mehrere Tagesritte entfernt. Nichts mag er lieber als die Jagd.«

»Wie seltsam. Zuerst erinnere ich mich nicht an seinen Namen, und dann bilde ich mir auch noch ein, dass er nie gern geritten ist. Ich war mir sicher, dass Hekabe gesagt hatte …«

»Nein, nein, Ihr habt recht«, antwortete Polymestor. »Als er hier ankam, mochte er die Jagd überhaupt nicht. Aber mittlerweile liebt er sie sehr.«

»Ah, ja, sicher ein Ausgleich für die vielen Jahre, die er hinter den Mauern Trojas festgesessen hat.«

»Ganz genau«, sagte Polymestor. Kassandra konnte sehen, wie Schweiß seinen warmen, reich bestickten Mantel durchnässte. Sein saurer Geruch mischte sich mit dem süßen Zimtparfüm, und Kassandra hatte das Gefühl, als würde sich ihre Kehle zuschnüren.

»Dann wird seine Mutter wohl auf das Wiedersehen, auf das sie sich so sehr gefreut hat, verzichten müssen«, sagte Odysseus.

»Ich fürchte ja.«

»Aber vielleicht ist es das wert, wenn sie jetzt dafür weiß, dass er ein so gesundes Leben im Freien führt.«

»Das hoffe ich.«

*

Wieder löste sich die Szene auf. Kassandra blinzelte und sah, wie die Jungen erst hinter dem Sklaven herliefen und dann auf ihren Vater zurannten. Der Jüngere zeigte auf den hohen Mast von Odysseus’ Großsegler. Er hatte noch nie ein so großes Schiff gesehen und konnte nicht aufhören, seinen Bruder plappernd darauf hinzuweisen. Der wiederum hatte die Miene eines Mannes aufgesetzt, der bereits alle Schiffsarten der Welt gesehen hat. Sie erreichten ihren Vater und waren vor all den Fremden plötzlich schüchtern.

»Papa, sind das die Helden von Troja?«, fragte der Ältere. Die zerlumpte Gruppe entsprach nicht seinen Erwartungen.

»Ja«, antwortete Polymestor und hob den Jungen links bis zur Taille hoch, bevor er dann mit dem rechten Arm seinen jüngeren Sohn aufnahm.

»Was meint Ihr, Odysseus? Das sind große Helden der Zukunft, oder?«

»Genauso spricht Hekabe von ihrem Sohn. Ich möchte alte Bekannte nicht länger trennen.« Er nickte einem seiner Matrosen zu, der den Stoff am Zelteingang öffnete und die Frauen nach draußen holte.

»Meine liebe Freundin.« Polymestor wandte sich an Hekabe, setzte seine Söhne sanft wieder ab und breitete die Arme aus. »Ich hätte Euch gar nicht erkannt.« Er schritt vorwärts, um sie zu begrüßen, seine Söhne neben ihm. All die fremden Männer an ihrem Strand machten sie nervös, und sie wollten in der Nähe ihres Vaters bleiben.

»Ich bin alt geworden in den Jahren, in denen Ihr nicht mehr in Troja wart«, stimmte Hekabe zu.

»Nein, Madam, ich meinte nicht …«

»Doch, das meintet Ihr, und ich habe keine Eitelkeit mehr übrig. Sie ist im Krieg gestorben, genau wie mein Mann und meine Söhne«, sagte sie. »Wenn Ihr mich vor einem Jahr gesehen hättet, hättet Ihr mich gleich erkannt. Es ist die Trauer, die ihre Spuren hinterlassen hat, nicht die Zeit.«

»Eure Verluste waren groß«, sagte Polymestor.

»Sie waren unerträglich«, antwortete sie.

»So muss es sich angefühlt haben.«

»So war es. So ist es. Ich kann die Last, die mir die Gottheiten auferlegt haben, schon lange nicht mehr tragen«, sagte sie. »Ein Verlust nach dem anderen. Allein im letzten Jahr: Hektor, dann Priamos, dann Paris, dann …«

»Die Gottheiten haben Euch sehr grausam behandelt«, sagte er. »Ich werde Opfer darbringen und sie um Gnade für Euch bitten.«

»Das werdet Ihr tun?«

»Natürlich, Madam. Niemand kann Euch ansehen, ohne sich zu wünschen, Euer Leid zu mindern. Selbst Odysseus, ein langjähriger Feind Eurer Stadt und des Hauses Priamos, hat Euch hierher gebracht, damit ein alter Freund Euch Trost spenden kann.«

Hekabe schüttelte langsam den Kopf. Ihre Dienerinnen scharten sich um sie und Polymestor.

»Wie könnt Ihr mit mir sprechen, nach dem, was Ihr getan habt?«, fragte sie.

»Madam?«

»Lügt mich nicht an, Polymestor. Es ist unter meiner Würde, den Worten eines mörderischen, habgierigen Verräters, wie Ihr es seid, Gehör zu schenken. Hattet Ihr noch nicht genug Gold? War Euer Land zu klein für Euch? War Euer Palast zu billig gebaut? Eure Schreine zu schäbig?«

»Ich …«

»Priamos hat Euch eine große Summe geschickt, damit Ihr Euch um unseren Sohn kümmert. Streitet das nicht ab, und versucht auch nicht, mich zu täuschen, Ihr hinterlistiger Lügner. Ich habe das Gold selbst in das Bündel gelegt. Und wenn Euch die Summe nicht hoch genug war«, sie spuckte die Worte aus, und ihr Speichel landete auf seinen Stickereien, »dann hätte ich sie Euch noch einmal gegeben, um meinen Sohn in Sicherheit zu bringen. Ihr hättet nur Nachricht schicken müssen, dass er Euch so wenig wert war. Für mich war er viel mehr wert als das Gold. Jetzt haben die Griechen sowieso alle Schätze Trojas. Was hätte es schon für einen Unterschied für mich gemacht, wenn das Gold nicht an einen Thraker gegangen wäre, sondern an einen Spartaner, einen Argiver oder einen Ithaker?«

»Er ist in Sicherheit! Welche Lügen hat man Euch erzählt?«, rief Polymestor.

Aber Hekabe hatte keine Lust mehr, weiter mit ihm zu sprechen. Kurz glänzte Metall, das das Licht der Sonnenstrahlen spiegelte, doch er musste die Augen geschlossen haben, um sich den Anblick zu ersparen. Blitzschnell hatte Hekabe ihre kurze, scharfe Klinge über den Hals von Polymestors älterem Sohn gezogen. Das Blut spritzte unanständig, als zwei ihrer Frauen dasselbe mit dem jüngeren Kind machten.

»Ich habe ihn eigenhändig begraben, Polymestor«, schrie sie. »Wie könnt Ihr es wagen, mich anzulügen?«

»Was habt Ihr …«, brüllte der König von Thrakien, aber das Blutbad war noch nicht vorbei. Während das dunkle Lebensblut seiner Söhne in den Sand sickerte, richteten Hekabe und ihre Frauen ihre kurzen Messer gegen ihn. Aber sie zielten weder auf seine Kehle noch auf sein Herz. Während der König im Sand kniete und seine Söhne festhielt, als könne seine verzweifelte Willenskraft sie ins Leben zurückholen, stießen ihm die Frauen ihre Messer in die Augen. Seine entsetzten Schreckensschreie mischten sich mit seinem Schmerzensgeheul, und das Blut, das aus seinen geschwärzten Augenhöhlen floss, mischte sich mit dem Blut seiner Kinder. Seine Sklaven versuchten gar nicht erst, ihm zu helfen. Sie sahen, dass Odysseus’ kampferprobte Soldaten in der Überzahl waren.

»Ihr habt meine Linie ausgelöscht«, flüsterte Hekabe. »Jetzt habe ich dasselbe mit Eurer getan. Euch lasse ich am Leben, damit Ihr nie vergesst: Wärt Ihr kein Verräter, kein Mörder, kein Schwurbrecher gewesen, dem Freundschaft nichts bedeutet, dann hätten Euch Eure Söhne noch bis ins hohe Alter Freude bereitet. Ihr hättet sie aufwachsen sehen, während Ihr alt geworden wärt. Jetzt wisst Ihr, dass das Letzte, was Ihr je sehen werdet, ihr Tod ist. Ich hoffe, das Gold war es wert.«

Sie trat vom Ort des Gemetzels zurück und nickte Odysseus zu. »Danke.«

*

Odysseus und seine Männer begannen, wieder auf ihre Schiffe zu steigen, ohne dabei auf Polymestor zu achten, der in ihrer Nähe über den Leichen seiner Söhne kauerte. Das Brüllen des Königs ging in ein Schluchzen und dann in hilfloses Weinen über. Odysseus starrte ihn voller Verachtung an. Während der vergangenen zehn Jahre hatte jeder seiner Männer mehr als einmal bis zu den Ellbogen im Blut seiner Kameraden gesteckt. Sie hatten wenig Mitleid mit einem Verräter, der sich von den Trojanern dafür bezahlen ließ, einen Jungen aus dem Königshaus aufzuziehen, der irgendwann den Entschluss fassen könnte, seinen Vater, seine Brüder und seine Stadt zu rächen. Die Griechen konnten es sich nicht leisten, den zweigesichtigen König von Thrakien ungestraft davonkommen zu lassen. Polymestor war seinem Instinkt gefolgt und hatte seinen Gewinn maximiert, wo immer er die Möglichkeit dazu sah, egal auf wessen Kosten. Das konnte so nicht hingenommen werden. Seine Bestrafung würde alle anderen Griechen, die vielleicht darüber nachdachten, ihr Wort zu brechen, daran erinnern, dass ein solches Betragen nicht toleriert wurde, jedenfalls nicht von Odysseus.

Als der letzte seiner Männer an Bord ging, rief er Hekabe und ihren Frauen zu, dass sie ihn begleiten sollten. Als Polymestor den Namen seiner Feindin hörte, ließ er seine toten Söhne los und wandte sich in Richtung der rauschenden Wellen.

»Ihr werdet sterben, noch bevor Ihr Ithaka erreicht«, rief er. »Ihr werdet ertrinken, und niemand wird um Euch trauern, niemand wird eine Grabstätte für Euch errichten.«

Hekabe blieb neben dem am Boden zerstörten König stehen. »Ich bin schon tot, seit ich Polydoros begraben habe«, sagte sie. »Es macht keinen Unterschied, wo ich falle.«

*

Kassandra holte ruckartig Luft und versuchte verzweifelt, ruhig zu bleiben. Sie schloss die Augen und öffnete sie dann in der Gegenwart wieder, wo sie ihre Mutter, ihre Schwester und ihre Schwägerin sah, die alle neben ihr auf den Felsen saßen, genau wie sie es getan hatten, bevor sie ihrer Mutter nach Thrakien gefolgt war. Aber dann begann die Szene nochmal von vorn, und es war nicht weniger schrecklich, alles noch einmal zu sehen. Jetzt war es sogar noch schrecklicher, weil sie schon wusste, was kommen würde. Und doch, ein Detail fehlte, gleich am Anfang, als Hekabe zum ersten Mal Odysseus’ Schiff betrat. Sie, Kassandra, stand dort am sandigen Ufer Trojas und sah zu, wie ihre Mutter sie verließ. Sie spürte, dass Andromache längst fort war. Sie sah die anderen Frauen – Cousinen und Nachbarinnen –, wie sie mit verschiedenen Männern in unterschiedliche Königreiche aufbrachen. Es waren alle da. Alle, bis auf eine. Wo war Polyxena?

Die Antwort stürmte auf sie ein. Und diesmal konnte sie nicht verhindern, dass die Übelkeit sie überwältigte.