36 Kassandra

K assandra musste es zugeben: Apollos Strafe war ein Beispiel für nahezu perfekte Grausamkeit. Sie hatte sich die Begabung der Prophezeiung gewünscht. So sehr. Mit ihrem Bruder Helenus hatte sie so viele Stunden im Tempel verbracht. Sie trugen beide ein Meer aus dunklen Locken und ein Paar dunkler Augen, aber nur sie selbst war schön genug, um das Interesse des Gottes zu wecken. Sie liebte Helenus, aber wie viele Zwillinge hatte sie das Gefühl, dass sie etwas brauchte, was er nicht hatte, damit sie sich sicher sein konnte, wo er endete und sie begann. Er hatte ihr immer gesagt, dass ihre Schönheit Unterschied genug war. Aber sie wollte mehr, etwas, das nicht mit der Zeit verblassen würde.

Apollo offenbarte sich ihr in einer kühlen Stunde der Nacht. Sie und Helenus schliefen manchmal im Tempel, wenn ihre Andachten sie dort bis spät in die Nacht festhielten: er auf der linken Seite der Tür, sie auf der rechten. Sie legten sich weiche Kissen unter die Köpfe, und Kassandra kroch unter ein unfertiges Gewand, das sie als Decke benutzte. Es war nicht pietätlos, die Kleidung des Gottes zu benutzen, solange die Stickereien noch nicht fertiggestellt und das Kleidungsstück ihm noch nicht dargebracht worden war.

Als der Gott dann erschien, kniete er hinter ihrem Kopf und leckte an ihrem Ohrläppchen, um sie zu wecken. Sie erwachte vor Schreck, denn sie dachte, es wäre eine Viper, die ihr etwas ins Ohr flüsterte. Sie setzte sich auf und drehte sich um, in der Erwartung, die Schlange über den kühlen, weißen Steinboden davonkriechen zu sehen. Stattdessen blickte sie in den strahlenden Glanz eines Gottes, der etwas größer als ein Sterblicher war und ein seltsames Licht in sich trug. Er verlangte sie, und sie lehnte ab. Er fragte ein zweites Mal, und jetzt, da sie richtig wach war, lehnte sie erneut ab, es sei denn, er würde ihr etwas dafür geben.

»Was willst du denn?«

»Ich will die Zukunft sehen.«

»Manche Menschen halten das für einen Fluch«, antwortete er. Sein goldenes Haar, das ihm in üppigen Wellen über die Stirn fiel, war erdrückend hell. Er war schön, aber irgendwie kalt, obwohl er so viel warmes Licht ausstrahlte. Unwillkürlich kniff sie die Augen zusammen, damit sie nicht anfingen zu tränen. »Aber wenn es das ist, was du willst, so sollst du es haben.«

Sie erwartete, dass er etwas tun würde, seine goldene Hand auf ihre Stirn legte. Aber er lag regungslos neben ihr, während die Visionen ihre Gedanken erfüllten. Alles, was je gewesen war, war für sie irgendwie weniger real als alles, was noch kommen würde.

»Jetzt gib mir, was du mir schuldest.« Er streckte die Hand aus, um ihre Haut zu berühren, die im Vergleich zu seinem Strahlen fast bläulich wirkte. Die Vision von dem, was gleich passieren würde, war mächtig. Kassandra hatte so große Angst davor, was aus dem Gott werden würde, dass sie die Arme vor ihrem Körper verschränkte und die Knie an die Brust zog.

»Nein«, sagte sie. »Nein.«

Apollos Schönheit verwandelte sich in einem einzigen Augenblick. Der ewig junge, immer strahlende Schütze war plötzlich ein bösartiger, rachsüchtiger Mann, der seine offene Hand zur Faust geballt hatte.

»Du wagst es, mir zu widersprechen?«, fragte er. »Du wagst es, dich deinem Gott zu verweigern, nachdem du einen Pakt mit ihm geschlossen hast?«

Sie kniff die Augen zusammen und versuchte, seine immer lauter werdende Stimme abzuwehren, indem sie sich die Ohren zuhielt. Wo war Helenus? Warum war er nicht wach? Apollo warf sich auf sie, wie eine Schlange auf ihre Beute. Sie spürte die plötzliche Kälte seines Speichels in ihrem Mund, dann war er fort.

Niemand hatte sie je zuvor angespuckt. Angeekelt kratzte sie sich mit den Fingern über die Zunge. Aber die Wandlung war vollzogen. Ihre Gabe war makellos und dauerhaft. Ihre Gabe, zu überzeugen – damit die Worte, die sie mit ihrer entehrten Zunge sprach, geglaubt wurden –, war fort. Und das wusste sie, lange bevor sie auch nur ein weiteres Wort sprach. Sie konnte bereits vorhersehen, wie alle, die sie liebte, ihr nicht glauben würden, auch Helenus nicht. Sie sah, wie ihre Warnungen auf taube Ohren stießen. Sah, wie die Wut aus ihrem Mund sprudelte, weil ihr niemand zuhörte. Und ihr wurde klar, dass Apollo sie mit einer einzigen Geste zu einem Leben in Einsamkeit und augenscheinlichem Wahnsinn verflucht hatte. Ihr einziger Trost – ein winziger, leuchtender Punkt in all der Schwärze – war, dass sie nicht wirklich verrückt sein würde. Sie würde stattdessen immer wissen, was kommen würde. Und das alles machte ihr Angst.

*

Mit der Zeit hatte Kassandra gelernt, mit dem Schrecken dessen, was ihr widerfahren war, zurechtzukommen. Anfangs erdrückte sie die schwere Last all der Tragödien – jede Krankheit, jeder Tod, das Leid einer jeden Person, die sie kannte und die ihr begegnete. Sie schrie allen, die sie sah, Warnungen zu und versuchte, Unheil abzuwenden. Doch je mehr sie sich anstrengte, desto weniger wurde sie gehört. Immer wieder sah sie den Schreck auf den Gesichtern der Menschen, wenn genau das geschah, was Kassandra vorhergesagt hatte, was sie aber ignoriert hatten. Manchmal glaubte sie, einen Funken der Erkenntnis in den Augen dieser Menschen zu sehen, als wüsste ein Teil von ihnen, dass Kassandra sie gewarnt hatte. Aber dieser Funke erlosch recht bald wieder, und zurück blieb nur ein noch intensiverer Hass auf die plappernde Priesterin, den alle darauf zurückführten, dass sie immer nur Unsinn von sich gab. Irgendwann konnte sie es nicht mehr ertragen, Menschen außerhalb ihrer engsten Familie oder der Dienerschaft zu treffen, weil sie sonst immer wieder neue Tragödien sehen musste, zusätzlich zu all den totgeborenen Kindern, kränklichen Partnerinnen und Partnern und verkrüppelten Eltern, die ohnehin schon ihre Gedanken erfüllten. Als man sie also in der Zitadelle in einen Raum mit dicken Wänden einschloss, mit nur einer Sklavin (deren Kind an einer unbehandelten Verletzung sterben würde, woraufhin sie sich schließlich mit der Kordel, die ihre Tunika in der Taille zusammenhielt, erhängen würde), war das eine Erleichterung.

Der dunkle Raum mit seinen kleinen, hohen Fenstern erinnerte sie an den Tempel. Helenus kam manchmal zu Besuch, und ihr Kummer darüber, was er tun würde, wurde dadurch gemildert, dass sie wusste, dass er den Krieg überleben würde, wenn auch in Gefangenschaft der Griechen. Aber sie wusste auch, dass ihre Mutter in dem Glauben sterben würde, dass all ihre Söhne getötet worden waren, wenn sie starb, weil sie Kassandra nicht glauben konnte. Und wie war es auch möglich, dass ihr geliebter Zwillingsbruder Troja an den verhassten Odysseus verriet? Dass er seine Gabe der Prophezeiung, die auch er erworben hatte – wenn auch in geringerem Maße als seine Schwester, aber mit dem Vorteil, dass ihm zugehört wurde –, dazu nutzen würde, um ihre Stadt zu verraten? Und das alles nur, weil er Helenas Hand nicht bekommen hatte, nachdem Paris gestorben war, obwohl er doch sicher gewusst haben musste, dass aus Helena von Troja wieder Helena von Sparta werden würde. Kassandra konnte die felsige Landschaft der Peloponnes fast an ihr riechen: Helena würde niemals in Troja bleiben, wenn der Krieg vorbei war.

Kassandra musste nicht einmal versuchen, ihrem Bruder zu vergeben, weil sie schon gesehen hatte, wie der innere Groll ihn komplett verändern würde, lange bevor Helena unerreichbar war. Er konnte nichts für seine Eifersucht, genauso wenig wie ein Vogel etwas für seine Flügel konnte. Sie hielt an der Unschuld ihres Bruders fest, obwohl sie seine Schuld voraussah. Selbst an dem Tag noch, als Troja fiel und sie sich an die Füße der Statue von Athene klammerte, bis ein griechischer Krieger sie an den Haaren von ihrem Zufluchtsort wegzerrte und sie auf dem Boden des Tempels vergewaltigte.

*

Ein Jahr nachdem Apollo sie verflucht hatte, war sie ganz abgemagert, weil ihr von den Visionen so oft schlecht wurde. Sie war sich nie sicher, ob die Übelkeit einfach zu den Visionen dazugehörte oder vielmehr eine Reaktion auf die schrecklichen Dinge war, die sie sah. Es fiel ihr schwer, zu essen, und noch schwerer, sich nicht zu erbrechen, wenn die Kraft ihrer Prophezeiungen am größten war. Aber nach und nach lernte sie, dass sie die Auswirkungen ihrer Visionen zu einem gewissen Grad kontrollieren konnte. Sie musste sich dafür auf den Teil der Zukunft konzentrieren, der vor oder nach dem schlimmsten Ereignis lag, das einer Person widerfahren würde (denn das war es, was Kassandra immer als Erstes und am deutlichsten sah).

Und natürlich waren die Visionen manchmal auch tröstlich. Denn selbst als Troja fiel und sie sich in Athenes Tempel flüchtete, war es kein Schock für sie, dass ihr Flehen um Zuflucht nicht erhört werden würde, denn sie hatte es bereits gewusst. Selbst als der griechische Krieger Ajax ihr das Haar ausriss, um sie von der Statue der Göttin fortzuzerren, selbst als er einen der steinernen Füße beschädigte, während er an ihren verzweifelten Fingern riss, und selbst dann noch, als er in sie hineinstieß und sie blutete und vor Schmerzen schrie, wusste sie, dass ihre Vergewaltigung gerächt werden würde. Sie sah, wie der verhasste Odysseus den Griechen nahelegte, Ajax zu bestrafen, weil er den Tempel und das Bild der Athene geschändet hatte, und sie sah, wie die Griechen ihn ignorierten. Aber sie wusste auch, dass Athene ihre Rache trotzdem bekommen würde: Die Göttin würde keinem Griechen ein solches Betragen verzeihen, außer vielleicht Odysseus. Diese Rache brachte Kassandra zwar weder ihr ausgerissenes Haar noch ihre entrissene Jungfräulichkeit zurück, aber sie war immerhin ein Trost.

Und nachdem sie so lange mit dem schrecklichen Vorwissen über Trojas Eroberung, über den Tod ihrer Brüder, ihres Vaters, ihrer Schwester und ihres Neffen, gelebt hatte, war sie vielleicht genauso erleichtert wie die Griechen, als es endlich passierte. Auf eine Katastrophe zu warten, war quälender als die Katastrophe selbst, und als die Brände wüteten, war dieses Grauen vorbei. Zumindest zum Teil.

*

Als man ihr den Sohn nahm, zerrissen Andromaches Schreie Kassandras durchlöchertes Herz. Sie versuchte, sich ihre Schwägerin ein Jahr später ins Gedächtnis zu rufen oder zwei, fünf, zehn Jahre später. Aber was sonst immer funktioniert hatte, half dieses Mal nicht. Sie sah nichts als Verzweiflung, wo sie auch hinschaute: Die Trauer von Andromache und Hekabe war zu viel für sie. Wie immer, wenn ihre Sinne überwältigt waren, wanderten ihre Gedanken zum größten Schrecken zurück. Sie versuchte, langsam zu atmen, weil sie wusste, dass das manchmal ihre Panik unterdrückte. Aber sie schaffte es nicht. Für sie würde es nach dem Schlimmsten nichts mehr geben. Das Schlimmste, das sie ereilen würde, würde sie ihr Leben kosten und die Leben von …

Sie konnte nicht mehr atmen und wurde ohnmächtig.

*

Selbst im Schlaf kam Kassandra nicht zu Atem. Die Visionen ereilten sie als Träume und waren genauso lebhaft wie im Wachzustand. Sie hatte immer gewusst, dass es Agamemnon sein würde, der sie sich nehmen würde, auch wenn sie nie gewusst hatte, warum – sie konnte nur die Zukunft derjenigen sehen, die sich in ihrer Umgebung befanden. Daher war ihr ihre Rolle nicht klar gewesen, bis die argivischen Soldaten sie von ihrem Felsen zerrten und zu ihrem König brachten.

Kassandra war die Letzte aus dem Hause Priamos, die die Halbinsel Troad verließ. Weder Hekabe noch Andromache waren noch da, um sie zu verabschieden. Hekabe war bereits mit Odysseus aufgebrochen, um Rache an Polymestor zu nehmen. Und Andromache war von Neoptolemos mitgenommen worden. Aber Kassandra konnte sich nicht auf ihre Gedanken an Andromache konzentrieren, so sehr sie es auch versuchte. Auf der Reise nach Griechenland würde sie sich wieder ihrer Schwägerin widmen. Mehr konnte sie nicht tun.

Als sie Agamemnon zum ersten Mal sah, war sie erschüttert, denn sie erkannte ihn sofort wieder. Dieser untersetzte, ergraute Mann, der eine Menge Öl in seinem schütteren Haar und eine deutlich sichtbare Speckrolle um die Taille trug, verfolgte sie in Gedanken. Er sah genauso aus wie in ihrer Vision, selbst die hässliche Art und Weise, wie er die Oberlippe hochzog, wenn er sie anschaute und für unzulänglich befand, war identisch.

»Das soll eine Prinzessin Trojas sein?«, fragte er seine Männer. »Sie ist ja ganz zerlumpt.«

»Sie waren alle zerlumpt, mein König«, antwortete einer seiner Männer. Der Ton erschöpfter Geduld war Kassandra so vertraut, dass sie fast glaubte, einen ihrer Brüder gehört zu haben. Sie musste sich in Erinnerung rufen, dass der Mann ein Fremder war, dessen Stimme sie nur schon tausende Male gehört hatte.

»Das ist die Priesterin, die Tochter von Priamos und Hekabe.«

Agamemnon nickte, den Blick jetzt wieder auf Kassandra gerichtet. »Eine gewisse Schönheit hat sie vielleicht doch«, sagte er. »Mehr als die, die mit Neoptolemos gegangen ist, oder?«

Der lustlose Argiver ließ nicht zu, dass man ihm seinen Unmut am Gesicht ablesen konnte. »Ich glaube schon, mein König, ja. Und die Frau, die mit Neoptolemos gegangen ist, war nur Priamos’ Schwiegertochter. Sie war nicht einmal gebürtige Trojanerin.«

»Sie war Hektors Witwe, nicht wahr?«, fragte Agamemnon. Weder Kassandra noch der müde Argiver ließen sich von seiner gespielten Unwissenheit täuschen.

»Ja, mein König, aber sie war keine Trojanerin. Die hier dagegen«, er stieß Kassandra den Finger in den Rücken, »wurde in die königliche Familie hineingeboren. Und sie war in Troja Priesterin. Man sagt, Apollo selbst habe sie gesegnet.«

Agamemnon verdrehte die Augen, was Kassandra vorher nie verstanden hatte. Doch jetzt, wo sie vor ihm stand, konnte sie sehen, dass ihm vor nicht allzu langer Zeit ein anderes Mädchen weggenommen worden war, die Tochter von einem Priester des Apollo. Sie erkannte, dass der Priester und der Gott selbst deren Rückgabe erwirkt hatten. Sie sah das Mädchen irgendwo in Agamemnons Augen gespiegelt, sah, wie sie sich hinter seinem Zelt versteckte und Blätter in seinen Wein fallen ließ.

Also hatte auch Agamemnon Apollo verärgert. Kassandra fragte sich, warum der Schütze sie nach Griechenland zurückfahren ließ, statt Athenes Wut zu teilen und das Schiff zum Kentern zu bringen. Aber der Wunsch zu ertrinken nützte Kassandra nichts. Sie wusste bereits, dass sie die Küste von Argos erreichen würden, und sie wusste, was sie dort erwartete.