Piccata Milanese
Pünktlich um neunzehn Uhr dreißig erreiche ich am Montagabend das Restaurant in der Steinstraße, in dem ich am Nachmittag online einen Tisch für eine Person bestellt habe, was mir umgehend bestätigt wurde. Dieselbe Dame, die mich und meine Mutter in der letzten Woche empfangen hat, begleitet mich auch heute zum Tisch und gibt mir zu verstehen, dass sich der Kellner sofort um mich kümmern wird, um meine Bestellung aufzunehmen. Ich lächele ihr nickend zu und muss mich anstrengen, meine Nervosität im Griff zu behalten, vor allem, weil Federico unter Umständen gleich ziemlich überrascht sein wird, mich hier zu sehen.
Mit zitternden Händen und klopfendem Herzen sitze ich nun an meinem Tisch und harre der Dinge, die da kommen sollen.
„Buona sera oder guten Abend der Herr“, begrüßt mich wenig später eine sonore Stimme, die definitiv nicht Federico zuzuordnen ist, und reißt mich so aus meinen Grübeleien. „Was darf ich Ihnen zu trinken bringen?“
Ich schaue hoch und blicke in das Gesicht eines freundlich wirkenden Mannes mittleren Alters. Offensichtlich handelt es sich um Federicos Vater, die Ähnlichkeit ist zumindest nicht ganz von der Hand zu weisen. Mit einem sparsamen Lächeln antworte ich ihm, dass ich gern eine Cola hätte und bereits weiß, was ich essen will. Wenn Federico mich heute schon nicht bedient, weil er eventuell frei hat, nicht für mich zuständig ist oder gar seinen Vater vorgeschickt hat, um nicht mit mir in Kontakt treten zu müssen, möchte ich das Restaurant nämlich schnellstmöglich wieder verlassen.
„Ich nehme erst einmal nur die Getränke auf“, erklärt mir der Herr daraufhin jedoch und lässt mich ein klein wenig hoffen, Federico gleich doch an meinem Tisch begrüßen zu dürfen.
„Okay!“, stottere ich leise. „Dann, wie gesagt, eine Cola bitte. Eine große!“
„Grazie!“, gibt der Mann mir zu verstehen. „Mein Sohn kommt gleich und bis dahin sollten Sie die Karte noch einmal studieren. Wir haben heute ein vorzügliches Tagesgericht im Angebot. Piccata Milanese, das ist ein italienischer Klassiker, sehr lecker.“
Ich nicke abermals und hoffe, dass der Herr, der sich durch die Hintertür, allerdings für mich nicht ganz überraschend, als Federicos Vater vorgestellt hat, verschwindet und mein Getränk vorbereitet. Schließlich könnte ich aufgrund meiner inneren Aufregung gerade eine Oase leer trinken.
Es vergehen etwa zwei Minuten, bis ich hinter der Wand, an der ich sitze, schnelle Schritte vernehme, die höchstwahrscheinlich daher rühren, dass jemand eine Treppe hinuntereilt. Meine Vermutung bestätigt sich, denn bereits wenige Augenblicke später steht Federico vor mir, wirkt verdutzt und ist offensichtlich ziemlich nervös, mich zu sehen, was ich an seinen leicht zittrigen Fingern erkenne. Er begrüßt mich offiziell und klärt mich über die diversen Spezialitäten der italienischen Küche auf.
„Ihr Vater hat mir eben die Piccata Milanese ans Herz gelegt“, erkläre ich bewusst reserviert, so als wären wir Fremde und hätten natürlich von jeher die nötige Distanz bewahrt.
„Eine sehr gute Wahl“, antwortet Federico und sieht mich im nächsten Moment leicht kopfschüttelnd und mit etwas zusammengekniffenen Augen an. „Was machst du hier?“, flüstert er gleich darauf kaum hörbar.
„Ich wollte dich einfach wiedersehen!“, erkläre ich ihm ebenso leise. „Dann werde ich die Piccata probieren, vielen Dank!“
„Gut. Ihr Getränk kommt gleich“, gibt mir Federico zu verstehen. „Aber wir können jetzt nicht reden!“, wispert er weiter.
„Kein Problem. Ich wollte dich nur sehen“, erwidere ich und blicke ihm nach, wie er mit der Speisekarte in der Hand in Richtung Küche verschwindet. Ich wische mir derweil den Schweiß von der Stirn. Habe ich ihn etwa verärgert und somit einen Fehler begangen? Ich hoffe nicht, denn das würde ich mir selbst niemals verzeihen.
Einen Moment lang versinke ich in Gedanken und lasse den Samstagabend noch einmal Revue passieren. Hat Federico irgendwann erwähnt, dass ich nicht mehr hierherkommen darf? Nein, ganz bestimmt nicht, es ging lediglich darum, dass meine Mutter nichts erfahren soll, um sich gegebenenfalls nicht versehentlich zu verplappern oder gutgläubig einfach drauflos zu quasseln. Es ging nie um meine Person. Also habe ich nichts falsch gemacht, immerhin will ich lediglich essen und nicht ficken oder Federico bei seinen Eltern outen.
„Ihre Cola, bitte schön!“ Mit diesen Worten holt mich die Stimme von Federicos Vater abrupt in die Realität zurück. „Sie haben inzwischen gewählt?“, hakt er nach und sieht mich intensiv an. Kommt es mir bloß so vor, oder ist sein Blick irgendwie lauernd? Ach Quatsch, warum sollte er das tun? Er kann ja nicht wissen, weshalb ich eigentlich hier bin, reden darf man als Gast mit dem Kellner doch wohl noch, oder etwa nicht?
„Alles wunderbar, ich bin Ihrer Empfehlung, die Ihr Sohn ebenfalls ausgesprochen hat, gefolgt und werde die Piccata versuchen“, erwidere ich und bemühe mich um ein freundliches Lächeln, das möglichst harmlos wirkt. Es ist natürlich pure
Einbildung, allerdings habe ich das Gefühl, dass man meinem Gesicht ansehen kann, was ich für Federico empfinde, von daher reiße ich mich echt zusammen und nicke Federicos Vater noch einmal zu, während der sich mit zwei Rückwärtsschritten vom Tisch entfernt, bevor er sich umdreht und hinter den Tresen verschwindet.
Wie ein Verdurstender leere ich mein Glas fast komplett, stelle es anschließend vor mich und drehe es zwischen meinen Fingern hin und her. Was habe ich mir eigentlich dabei gedacht, Federico derart zu verunsichern? Immerhin will ich ihn durch mein Verhalten nicht von mir wegtreiben und hoffe inständig, dass er nicht sauer auf mich ist. Ich kann mich nur damit entschuldigen, dass es wohl eine Art Sehnsucht war, die mich hergetrieben hat. Verlangen nach diesem Mann, der mir schlicht und ergreifend den Kopf verdreht hat.
„Ihre Piccata, guten Appetit.“
Federicos Stimme dringt an mein Ohr und sorgt sofort für eine Gänsehaut auf meinem gesamten Körper. Der Blick, der mich aus Federicos Augen trifft, lässt mich erschauern, so viel Gefühl meine ich darin zu erkennen. Begehrlich schaut er mich an und ich muss mich echt beherrschen, nicht leise aufzustöhnen, doch ich bin mir der Anwesenheit von Federicos Vater durchaus bewusst. Deswegen schenke ich meinem Love Interest, wie man heutzutage so schön neudeutsch zu sagen pflegt, einen ebenso gefühlvollen Blick, der ihm hoffentlich signalisiert, dass ich ihn keinesfalls verraten werde. Von nun an weiß ich, dass ich nichts falsch gemacht habe und er meine Nähe insgeheim förmlich zu genießen scheint.
„Danke, den werde ich sicher haben“, gebe ich zurück, greife zu meinem Besteck und nehme das erste Stück meines Essens zu mir. Es ist tatsächlich so lecker, wie mir versprochen wurde, es ist sogar ein echter Genuss. Ich lasse mir das komplette Gericht
schmecken, ordere mit einer Handbewegung ein weiteres Getränk und winke am Ende meiner Mahlzeit dezent mit meinem Portemonnaie, um anzuzeigen, dass ich zahlen möchte.
„Sie wollten zahlen? Bitte schön, Ihre Rechnung“, kommt es gleich darauf von Federico, der mir auf einem Teller das halb unter einer Serviette verborgene Stück Papier zuschiebt. „Ich hab meine Telefonnummer draufgeschrieben. Nach zwölf kann ich reden“, flüstert er mir zu, wobei er sich vorbeugt, bevor er sich aufrichtet und mich abwartend und ganz professionell, halt wie ein Kellner, ansieht.
„Hier, der Rest ist für Sie“, gebe ich zurück und schiebe passende Geldscheine unter das kleine Tuch, während ich die Rechnung an mich nehme und zurückflüstere: „Ich melde mich später. Ganz sicher!“
„Vielen Dank und noch einen schönen Abend.“
Ohne mich weiter zu beachten, beginnt Federico, kaum, dass ich den Tisch verlassen habe, selbigen abzuräumen, während ich beim Hinausgehen bemerke, dass sein Vater mich äußerst aufmerksam observiert und jeden meiner Schritte zu verfolgen scheint. Erst als ich draußen bin, wage ich, tief durchzuatmen. Ich. Habe. Federicos. Nummer.