Nächtliches Telefonat
Etwa eine halbe Stunde, nachdem ich das Restaurant verlassen habe, erreiche ich meine Wohnung. Nervös streife ich meine Schuhe ab und lege mich für einen Moment aufs Sofa. Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass es halb zehn ist. Was hat Federico noch einmal gesagt, ab wann er ungestört reden kann? Ab zwölf? Gut, dann werde ich warten, denn ich will ihn unbedingt sprechen.
Die Minuten vergehen wie Stunden. Um mir die Zeit so kurzweilig wie möglich zu gestalten, schalte ich den Fernseher ein, doch selbst der Spielfilm scheint wie in Zeitlupe an mir vorbeizulaufen. Egal! Irgendwie werde ich die Jahrzehnte, die bis Mitternacht noch verrinnen müssen, schon totschlagen.
Nach einer Weile begebe ich mich in die Küche und hole mir ein Bier aus dem Kühlschrank. Normalerweise trinke ich innerhalb der Woche nicht, aber heute ist das was anderes. Immerhin muss ich meine Nervosität in den Griff bekommen.
Zurück auf dem Sofa bemerke ich zum ersten Mal, was für eine bescheuerte Handlung dieser komische Streifen, der auf der Mattscheibe vor hin flimmert, hat. Daher schalte ich die Programme durch, doch auch dort läuft nichts, was ich unbedingt sehen möchte. Schließlich bleibe ich bei einer langweiligen Reportage hängen, von der ich das eigentliche Thema nur beiläufig mitbekomme. Fuck, die Zeit scheint heute wirklich stillzustehen.
Mein Herz wummert mittlerweile wie wild und das Blut rauscht wie ein Wasserfall durch meine Adern. Von draußen scheint der Mond ins Wohnzimmer und lächelt mir zu, als würde er mir mitteilen wollen, geduldig zu sein. Ist ja auch richtig so. Immerhin bin ich kein pubertierender Jüngling, der ungeduldig
auf seinen ersten Kuss wartet, sondern ein erwachsener Mann. Ich muss einfach mit solchen Dingen umgehen können. Daher atme ich einmal tief ein, verbringe noch eine gewisse Zeit auf meinem Balkon und dann ist der Zeiger der Uhr endlich so weit fortgeschritten, dass ich Federico anrufen kann.
Mit flatternden Fingern tippe ich seine Nummer in mein Gerät und warte auf das Freizeichen. Bereits nach einmaligem Tuten vernehme ich seine Stimme.
„Hey!“, haucht er leise, was mich fast zerschmelzen lässt.
„Hallo, Federico“, raune ich zurück. „Ich freue mich sehr, deine Stimme zu hören.“
„Das klingt wunderbar“, antwortet er. „Ich bin jetzt in meinem Zimmer. Meine Eltern sind noch unten und machen die Abrechnung. Meistens kommen die erst gegen zwei Uhr nach oben und Nonna schläft bereits tief und fest. Daher ist das eine gute Zeit, sich zu unterhalten.“
„Schön!“, entflieht es mir. „Bist du eigentlich böse auf mich, weil ich im Restaurant aufgetaucht bin?“
„Nein“, erklärt Federico. „Ich war anfangs nur überrascht oder vielleicht ein wenig verwundert. Wusste nicht, was passiert, und hatte etwas Angst, dass Papa was merkt.“
„Und? Hat er?“
„Nicht so wirklich. Er hat gefragt, ob wir uns kennen.“
„Was hast du gesagt?“
„Na ja, ich erzählte ihm, dass du letzte Woche mit deiner Mutter zum Geburtstag im Laden warst und wohl ab sofort zu unseren Stammkunden gehörst. Das hat ihm als Erklärung dafür, dass wir uns einen Moment unterhalten haben, genügt.“
„Gut, dann bin ich beruhigt. Ich fühlte mich nämlich etwas von ihm beobachtet“, erkläre ich Federico.
„Alles prima. Aber weißt du, was richtig klasse wäre? Wenn du jetzt hier sein könntest und wir etwas kuscheln würden.“
Bei diesen Worten wird mir gleichzeitig heiß und kalt. Federico spricht mir fast aus der Seele.
„Das wäre fantastisch. Und lässt sich bestimmt irgendwann umsetzen. Eventuell können wir uns ja die Tage mal treffen.“
„Wir haben am Donnerstag ausnahmsweise geschlossen. Meine Eltern müssen einen wichtigen Termin in Berlin wahrnehmen. Da hätte ich Zeit.“
„Wow!“, rutscht es mir raus. „Das wäre genial. Was könnten wir denn unternehmen? Ich meine …“
„Klingt es sehr blöd, wenn ich gern essen gehen würde?“, fragt Federico vorsichtig nach. „Also nicht gerade italienisch, aber Sushi zum Beispiel. Die Dinger liebe ich einfach.“
„Gar nicht blöd, das passt sogar toll, ich bin nämlich auch ein Fan der kleinen Röllchen mit den leckeren Füllungen. Weißt du was? Ich nehme mir den Tag frei, das geht bestimmt problemlos. Derzeit herrscht eh Sommerflaute und genug Urlaubstage und Überstunden habe ich auch noch zu Buche stehen. Halte ich für sinnvoll, da deine Eltern abends bestimmt zurück sein werden und erwarten, dass ihr Sohn anwesend ist, oder?“
„Ganz so schlimm sind sie zwar nicht, aber sicherer wäre es schon, wenn ich ungefähr gegen neun zu Hause bin. Mein Vater ist halt manchmal etwas eigen.“
Etwas? Ich finde Herrn Rossi, denn so lautet der Nachname der Familie, wie ich vorhin auf der Speisekarte nachgesehen habe, schon ziemlich extravagant, was seine Meinung angeht. Dass sein erwachsener Sohn beinahe Angst vor ihm hat, das ist doch wirklich nicht normal, oder?
„Was hältst du davon“, setze ich das Gespräch fort, „wenn wir uns gegen zehn treffen und erst mal frühstücken gehen?“
Ein leises Kichern ist von der anderen Seite der Leitung zu hören.
„Also haben wir nicht nur die Leidenschaft für Sushi gemeinsam, sondern auch für frische, knackige Brötchen? Klasse“, lässt sich Federico vernehmen. „Bin dabei. Und wo?“
„Kennst du die kleine Bäckerei am Hegenbargturm? Ist mitten in der Stadt. Da ist es immer besonders lecker. Und die machen die Aufstriche selbst, ein echter Genuss.“
„Kenne ich, bin dann um zehn da. Ich finde es übrigens total lieb von dir, dass du dir solche Gedanken machst und dir für mich extra freinehmen willst.“
Zum Schluss ist Federicos Stimme lediglich noch ein sinnlicher Hauch, was mir etliche Schauer über den Rücken jagt. Die Härchen auf meinen Armen richten sich auf und mein Herz wummert erregt.
„Für dich würde ich noch viel mehr tun“, entflieht es mir schneller, als ich denken kann, doch das macht nichts, schließlich ist es die Wahrheit.
„Was denn zum Beispiel?“, raunt Federico in den Hörer und allein diese Frage setzt mein Kopfkino dermaßen in Gang, dass alles Blut aus meinem Kopf weicht und sich offensichtlich eine Etage tiefer sammelt, meine Lendengegend flutet und meine Mitte dazu anregt, sich erwartungsvoll zu erheben. „Erzähl es mir“, fordert er mich anschließend auf und ich erbebe förmlich bei der Vorstellung, was ich mit ihm alles anstellen könnte, wenn wir allein wären.
„Soll ich dir das alles wirklich am Telefon verraten? Viel lieber würde ich dich in den Arm nehmen und küssen, meine Hände über deine Haut gleiten lassen und dich langsam ausziehen. Stück für Stück …“
„Mist“, erklingt Federicos Stimme plötzlich sehr erschrocken. „Mein Vater kommt hoch. Ruf mich morgen wieder an, ansonsten sehen wir uns Donnerstag um zehn. Bis dann.“
Mit einem leisen „Klack“ wird die Verbindung unterbrochen und ich starre fassungslos und schwer atmend auf mein Display. Federico musste offenbar überstürzt auflegen, aber … ich treffe ihn ja bald. Und vielleicht kann die eine oder andere Fantasie dann sogar wahr werden.