Besuch im Restaurant
„Ich glaube nicht, dass es wirklich eine gute Idee ist, wenn wir dort gemeinsam im Restaurant aufschlagen. Mein Vater wird nur herumbrüllen und uns rauswerfen!“, erklärt Federico nach dem Essen mit ernstem Blick und winkt ab. „Doch anderseits kann mir ja nicht mehr viel passieren. Er hat mich eh schon vor die Tür gesetzt und will mit mir nichts mehr zu tun haben. Wieso also sollten wir ihm nicht einen kleinen Denkzettel verpassen?“
„Ich will ihm keinen Denkzettel verpassen, wie du so schön sagst, Federico, ich möchte ihn lediglich zur Rede stellen und ihm vielleicht ein wenig die Augen öffnen. Seine vorsintflutlichen Ansichten, die völlig veraltet und alles andere als zeitgemäß sind, zunichtemachen. Also, was hindert uns?“, erklärt meine Mutter und sieht gespannt zwischen Federico und mir hin und her.
„Nichts hindert uns. Rein gar nichts!“, antworte ich entschlossen. „Wir sollten ihm auf alle Fälle einen Besuch abstatten. Und sei es nur, um ihm zu zeigen, dass sein Sohn nicht auf der Straße gelandet ist, sondern aufgefangen wurde. Ich glaube zwar nicht, dass wir ihn bekehren können, aber alles einfach so hinnehmen, das geht auch nicht. Also, lass uns dort vorbeifahren. Mein Laubfrosch ist ready to go!“
„Du und dein Laubfrosch, Schnuckibazzel! Der könnte allerdings mal ne Wäsche vertragen“, stellt meine Mutter fest und sorgt mit ihrer Aussage für ein lautes Lachen aus Federicos Mund.
„Wie hat sie dich gerade genannt?“
Ich winke ab und schüttele gleichzeitig den Kopf.
„Manchmal bekommt sie solche Anwandlungen. Das muss man ignorieren, ist nämlich nicht behandelbar“, erläutere ich
grinsend. „Und sobald ich den wasche, fällt der auseinander. Mein Laubfrosch wird nur noch vom Dreck zusammengehalten. Ich bin übrigens fertig, und ihr? Okay, dann lasst uns los, ich will Rossi Seniors Gesicht sehen.“
Auf der Fahrt zum Restaurant wirkt Federico plötzlich sehr nervös. Er wackelt mehrfach mit den Knien hin und her und weiß nicht so recht, was er mit seinen Händen anstellen soll. Meine Mutter versucht derweil, ihn ein wenig zu beruhigen, indem sie ihm ein paar Mal über die Schulter streicht, was ihn zumindest ein wenig lächeln lässt.
Nach etwa einer Viertelstunde Fahrzeit erreichen wir unser Ziel. Federicos Atem geht schwer und auch ich bin nicht gerade die Ruhe selbst, schließlich ist mir bewusst, dass uns jeden Moment eine harte Auseinandersetzung bevorsteht. Meine Mutter verlässt das Auto als Erste und geht mit energischen Schritten voran.
„Los!“, fordert sie uns auf. „Jetzt nicht kneifen!“
Forsch betreten wir wenig später das Lokal, vorbei an der Dame, die sonst die Gäste zum Tisch geleitet, und begeben uns direkt zur Theke, hinter der Federicos Vater verweilt und uns sofort mit extrem bösem Blick ansieht.
„Sie haben hier nichts verloren!“, erklärt er sofort lautstark und sieht meine Mutter verächtlich an. „Schließlich haben Sie Schande über unsere Familie gebracht. Und nun besitzen Sie auch noch die Frechheit und tauchen mit Ihrem Sohn in meinem Restaurant auf, dabei haben Sie immerhin dafür gesorgt, dass mein Federico diesem blonden Nichtsnutz verfallen ist und somit Sünde begeht. Zwei Männer können sich nicht lieben, das ist auf unserer Erde nicht vorgesehen und völlig abnormal. Dämonisch ist das. Verschwinden Sie endlich und gehen Sie mir aus den Augen, sonst rufe ich die Polizei. Und meinen verdorbenen Sohn, den nehmen Sie auch gleich wieder mit. Ich
dulde solche Leute nicht in meinem Haus und erst recht nicht in meiner Umgebung. Ist das klar?“
„Jetzt machen Sie aber mal halblang, Herr Rossi!“, entgegnet meine Mutter ruhig und äußerlich gelassen, wobei sie innerlich sicher brodelt. „Wir werden gleich wieder gehen und Ihren wunderbaren Sohn, den lassen wir bestimmt nicht bei Ihnen. Aber eines muss Ihnen klar sein. Sie vertreten Ansichten, die jenseits der Kreidezeit mal modern und salonfähig waren. Ja, mein Sohn ist schwul, doch darauf kann ich stolz sein. Und wissen Sie, warum? Weil er den Mut hat, zu seinen Neigungen zu stehen und deswegen ein schönes Leben führen kann. So haben mein Mann und ich ihn erzogen. Und ich bin auch stolz auf mich, weil ich ihn genauso nehme, wie er ist und ihn unterstütze. Als Mutter und als Freundin. Sie hingegen vertreiben Ihren Sohn und versuchen, seine Existenz zugrunde zu richten. Das ist die große Sünde, Herr Rossi, nicht seine Neigung. Ihr Sohn und mein Sohn, sie lieben sich, das kann man sehen und dagegen können Sie nichts tun. So sehr Sie sich auch dagegen wehren, es wird nichts bringen, denn am Ende stehen Sie ganz allein da und wünschen sich, Sie hätten ihn nicht verstoßen. Aber das ist Ihr Problem, nicht unseres. Und nun gehen wir wieder. Sobald Sie über meine Worte nachgedacht haben, werden Sie sicherlich zur Einsicht kommen, immerhin werde ich zwei Söhne haben, Sie hingegen keinen mehr.“
Meine Mutter dreht sich um und will uns ebenfalls animieren, zu gehen, als wir aus Richtung der Küche eine weibliche Stimme vernehmen, die offensichtlich einer älteren Frau gehört.
„Was ist hier los? Giovanni? Sollte ich irgendwas wissen?“
Rossi senior dreht sich auf dem Absatz um und ihm entflieht ein erschrockenes „Mamma!“, während Federico nur leise „Nonna“ flüstert.
Hinter der Seniorin taucht nun sogar eine weitere Frau auf, deren verweinte Augen mich darauf schließen lassen, dass es sich um Federicos Mutter handelt, die ziemlich sicher nicht mit den Entscheidungen ihres Gemahls einverstanden ist, wenngleich sie sich wahrscheinlich nicht traut, diese zu hinterfragen.
„Ja, Giovanni, in voller Lebensgröße“, herrscht die rüstige Dame ihren Sohn an und stampft wie zur Bekräftigung mit ihrem Gehstock hart auf den Fliesenboden. „Also, was ist passiert, warum schreist du hier so herum und machst dich sogar vor den Gästen zum Gespött?“
Entsetzt dreht sich der Restaurantinhaber um und lässt seinen Blick in die Runde schweifen. Es stimmt, sämtliche Besucher des Lokals verfolgen gespannt die kleine Szene und wenden sich in diesem Moment wie ertappt wieder ihren Speisen zu, das fällt auch mir auf, als ich mich ebenfalls umschaue.
„Kommt, wir sollten uns wohl besser in den Saal zurückziehen“, zischt Federicos Vater zwischen den Zähnen hindurch. „Die Leute haben wirklich schon viel zu viel gehört.“
„Gute Entscheidung“, bekräftigt Nonna ruhig und geht voraus, wir anderen folgen im Gänsemarsch. Der Senior gibt seinen Leuten noch rasch ein Zeichen, damit die Arbeit ungestört weiterläuft, danach schließt er die Tür hinter uns allen und gebietet mit einer herrischen Handbewegung, dass wir uns setzen sollen. Federico nimmt den Platz neben mir ein, sodass ich heimlich unter dem Tisch nach seiner inzwischen schweißnassen Hand greife und sie beruhigend drücke, während er mir ein gequältes Lächeln zuwirft.
„Also, Giovanni, ich höre!“, kommt es energisch aus dem Mund von Federicos Oma und der sonst so herrschsüchtige Patriarch sackt sichtbar ein wenig auf seinem Stuhl zusammen, als er in dürren Worten erklärt, dass er Federico und mich gestern erwischt und seinen Sohn deshalb des Hauses verwiesen
hat. Nonna hört sich die Geschichte ruhig an und schickt einen nachdenklichen Blick zu Federico, der kalkweiß ist und vor lauter Nervosität, wie bereits vorher im Auto, seine Beine hektisch hin und her bewegt.
„Ich erzähle dir mal eine Geschichte, Giovanni, die anderen dürfen sie aber auch gern erfahren. Es war Anfang der Siebzigerjahre, wir lebten damals noch auf Capri. In einem kleinen Dorf mit weißen Häusern, das Meer war nicht weit entfernt, die Menschen glücklich und der Himmel meistens blau. Eines Tages jedoch verdunkelte sich eben dieser Himmel plötzlich. Was war geschehen? Nun, der Bruder deines Vaters, also dein Onkel und mein Schwager, verliebte sich. Jetzt kann man natürlich sagen, dass so was toll wäre, wenn es da nicht ein kleines Problem gegeben hätte. Er hatte sich nämlich in einen Mann verguckt, und zwar in den Sohn des Nachbarn, den Bruder deiner späteren Schwiegermutter, Gott hab sie selig, und somit den Onkel deiner Frau. Lange Rede, kurzer Sinn, die Familien waren aufs Äußerste erzürnt und die Väter, also mein Mann und dein Schwiegervater in spe, möge Gott ihrer Seelen gnädig sein, hielten eine Art Kriegsrat ab, der letztlich beschloss, dass man die beiden Abtrünnigen aus der Familie verstoßen würde, was auch sofort geschah, denn sie weigerten sich, trotz der Interventionen des Pfarrers und anderer Menschen, ihrer Liebe abzuschwören und sich einer Reinigung zu unterziehen. Das Ende vom Lied war, dass die beiden den Ort verließen, was allerdings dennoch nicht ausreichte, damit endlich Ruhe im Dorf einkehrte. Stattdessen tuschelten die Leute und mieden beide Familien. Als unglückseligerweise kurze Zeit später Rosalias Mutter, also deine Schwiegermutter, die du nie kennenlernen durftest, möge Gott ihrer Seele gnädig sein, überraschend starb und der junge Witwer mit einer erst einjährigen Tochter von einer Sekunde auf die andere allein dastand und niemand helfen wollte, weil die frömmelnden Bewohner der Gegend das als
Strafe für die Verkommenheit der beiden Männer ansah, wuchs der Wunsch, diesem Wahnsinn zu entfliehen. So kam es, dass wir, das heißt, dein Vater und ich, du und Rosalia nebst ihrem Vater, unsere Zelte dort abbrachen und nach Deutschland gingen. Der Rest ist bekannt. Du und Rosalia, ihr verliebtet euch, habt geheiratet und bekamt einen wunderbaren Sohn. Und jetzt überleg noch mal, was dir wirklich wichtig ist. Ist es deine Familie mit diesem Sohn, der einfach jemanden liebt, oder willst du lieber das Debakel, das auf Capri geschehen ist, wiederholen und die Familie ein zweites Mal in Trauer stürzen? Dein Glaube, auf den du dich ja immer so gern berufst, ist hier wirklich nicht der entscheidende Faktor, es zählt lediglich das Gefühl. Wie du dich auch entscheidest, wähle klug.“
Ein wenig atemlos endet Nonna und lässt ihren Blick schweifen, bis sie an meinem hängen bleibt und mir zunickt.
„Das wusste ich nicht, ich kann mich nicht daran erinnern“, gibt Giovanni leise zu und traut sich kaum, hochzusehen.
„Nein, wie auch, du warst erst knapp zwei. Deine Großeltern sind bald darauf gestorben, die von Rosalia ebenso. Diese Geschehnisse sind übrigens der Grund, weshalb wir nie Urlaub in der alten Heimat gemacht haben und alle damaligen Kontakte vom Winde verweht wurden. Mittlerweile wird es wohl nur noch ein paar Verwandte zweiten oder dritten Grades dort geben, das Gerede jedoch, das würde garantiert sofort wieder aufflackern.“
„Das erklärt so manche Dinge meiner Kindheit. Ist das auch der Grund, weshalb wir niemals nach Italien gereist sind und dort sämtliche Kontakte haben einschlafen lassen?“, wirft Federico leise ein. „Und was wurde aus den beiden Männern? Ich weiß leider nicht einmal, wie sie hießen.“
„Ich wollte einfach kein Gerede. Daher habe ich mit meinem Heimatland gebrochen. Dein Vater hat das einfach so übernommen, wenngleich seine Art, mit deiner Neigung
umzugehen, sicher auf anderen Gründen beruht“, erklärt Nonna ihrem Enkel. „Und dein Großonkel hieß übrigens Andrea, Rosalias Onkel hörte auf den Namen Matteo.“
„Andrea“, murmelt Federico und die Traurigkeit in seiner Stimme schnürt mir fast die Kehle zu. „Weiß man, wo sie abgeblieben sind?“
Unter dem Tisch drücke ich weiter seine Hand und er schenkt mir erneut ein Lächeln, das nicht mehr ganz so verzagt wirkt wie vorher.
„Wir haben nie wieder von ihnen gehört, aber es steht zu vermuten, dass sie aufgrund ihres Alters eventuell schon nicht mehr leben. Gott wird sie in seinem himmlischen Garten mit Freuden aufgenommen haben, da brauchst du gar nicht aufzubrausen, Giovanni“, erklärt Nonna und weist damit ihren Sohn vorsorglich in seine Schranken. „Ich sage ja, sei ein kluger Mann, denn dem Herrgott ist es egal, wer wen liebt, schließlich hat er alle Menschen so erschaffen, wie sie nun mal sind. Er wird sich bei Federico und seinem Freund wohl ebenfalls was gedacht haben. Wie heißt der junge Mann eigentlich?“
„Er heißt Andrea, Nonna“, antwortet Federico und Nonna nickt leise lächelnd.
„Das ist gut. Andrea!“ Sie wendet sich mir zu und nickt abermals. „Es ist gut so, wie es ist.“
„Es … es … es tut mir leid, mein Sohn“, kommt es schließlich leise aus Rossi Seniors Mund. „Ich werde lernen müssen, damit umzugehen, auch wenn es nicht einfach sein wird. Komm bitte wieder nach Hause.“
„Nein!“, entgegnet Federico stolz und von einer Sekunde auf die nächste zittern auch seine Knie nicht mehr. „Ich werde bei Andrea bleiben, sofern er mich lässt.“ Federico sieht mir in die Augen und sorgt damit bei mir für ein zustimmendes Lächeln.
„Ich brauche Abstand von euch und möchte auf eigenen Beinen stehen. Außerdem möchte ich mich nicht mehr verstecken müssen. Ich werde gern zur Arbeit kommen und meinen Dienst verrichten, doch außerhalb des Restaurants möchte ich mein Leben so gestalten, wie ich es für richtig halte. Ohne deinen Einfluss, Papa. Eventuell wird es irgendwann möglich sein, dass wir uns auch als Familie wieder annähern, bloß das wird sicherlich dauern. Zu tief sind die Wunden, die du mir zugefügt hast, weil du mir zu verstehen gabst, Abschaum zu sein. Das muss ich erst mal verkraften. Vielleicht dauert es ein paar Tage, womöglich auch Monate. Mamma, Nonna, ich hoffe, ihr versteht das.“
„Mein Junge, ich begreife das alles nur zu gut! Geh mit ihm und werde glücklich“, gibt ihm Nonna zur Antwort und sorgt damit für ein paar Tränen in meinen Augen, weil sie uns so voller Liebe und Güte ansieht. „Und du, Giovanni, wirst an dir arbeiten und deinen Sohn so akzeptieren, wie er nun mal ist. Ohne Punkt und Komma, ohne Wenn und Aber. Ich möchte nicht, dass sich ein solches Familiendrama wie damals auf Capri wiederholt. Ich hoffe, dass ich mich deutlich ausgedrückt habe.“
Giovanni nickt und reibt sich die Augen. Er scheint wohl wirklich zur Einsicht gekommen sein, auch wenn es in seinem Inneren sicher noch brodelt, zumindest könnte ich mir das vorstellen. Meine Mutter deutet mit einer Kopfbewegung an, dass es wohl besser wäre, nun zu gehen, daher stehen wir gemeinsam auf und verlassen den Saal.
Vor dem Auto machen wir kurz Halt und atmen tief durch. Ich sehe Federico an und drücke ihm einen Kuss auf die Lippen.
„Wir haben es geschafft, Schatz!“, erfährt es mir. „Von heute an kannst du frei leben.“