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Noa schaute sich neugierig um und schien jedes Detail in Almas Wohnung in sich aufnehmen zu wollen. Als müsste sie das Wohnzimmer später aus dem Gedächtnis so originalgetreu wie möglich nachzeichnen. Sie tigerte durch den schmalen Flur und nacheinander in jedes Zimmer. Viele gab es nicht, immerhin lebte Alma auf bescheidenen fünfundvierzig Quadratmetern. Für sie reichte das völlig, und Gäste oder Besuch hatte sie eigentlich nie. Ihr Leben fand schließlich im Dear Dairy statt. Und so hatte länger niemand das kleine Schlafzimmer, in das genau ein Bett und ein Schrank passten, das kleine, weiß gekachelte und fensterlose Bad – dafür mit der lautesten Lüftung der Welt –, das überraschend geräumige Wohnzimmer, das eher zusammengewürfelt als eingerichtet wirkte, und die kleine, aber klug aufgeteilte Küche gesehen. Von dieser ging auch der große Balkon ab, der zumindest von März bis Oktober die Wohnung um ein Zimmer erweiterte.

»Schön hier«, sagte Noa, als sie versuchte, die vertrockneten Überreste des vergangenen Jahres in Almas Balkonkästen zu identifizieren.

»Danke«, antwortete Alma aus der Küche. »Möchtest du etwas trinken?«

Noa tauchte in der Balkontür auf und lehnte sich dagegen. »Gerne. Hast du Bier da?«

»Du spinnst wohl!« Alma zeigte ihr den Vogel.

»Was denn? Ich bin sechzehn, ich darf das.«

»Mag sein, aber nicht hier. Wenn du Bier willst, kannst du gerne zurück nach Lübeck fahren und dort Bier trinken.«

Sie nahm ein Glas von dem Metallregal und füllte es mit Leitungswasser.

»Hier, ich habe nichts anderes. Ich bin so gut wie nie zu Hause.«

»Weil du immer im Restaurant bist?«

Alma nickte. »Ja, der Laden frisst einfach sehr viel Zeit. Ich muss ja auch alles vorbereiten, Bestellungen machen, Buchhaltung, und, und, und.«

»Schaffst du es deshalb nicht mehr, neue Rezepte auf deinen Blog zu stellen?« Noa hatte sich an den kleinen Bistrotisch gesetzt, der in der Ecke gegenüber vom Herd stand und genau Platz für zwei Personen bot.

Alma war jedes Mal darüber verwundert, wie sie in dieser Küche, die mit sehr viel Wohlwollen vielleicht sieben Quadratmesser maß, für ihren Blog gekocht, Rezepte entwickelt und Gerichte fotografiert und sogar erste Cateringaufträge vorbereitet hatte. Letzteres war natürlich halb illegal gewesen, und das Gesundheitsamt sollte davon besser niemals Wind bekommen. Aber Anerkennung ob dieser fast unmöglich scheinenden Leistung hätte sie dennoch auch von offizieller Stelle verdient. Sie füllte sich ebenfalls ein Glas mit Wasser und setzte sich zu Noa.

»Dafür ist gerade wirklich keine Zeit. Vielleicht, wenn das Restaurant mal richtig angelaufen ist und ich mehr Personal beschäftigen kann. Aber gerade fließt meine ganze Energie ins Dear Dairy

»Also, ich verstehe davon natürlich nicht so viel, ich bin schließlich erst sechzehn. Aber auf Instagram sieht es aus, als wäre das Restaurant immer voll. Auf jedem Bild sind fast alle Tische besetzt. Wie soll es denn noch besser laufen?«

Alma machte große Augen, und Noa erkannte, dass sie sich verraten hatte. Verlegen zwirbelte sie eine Strähne ihres glatten rotblonden Haares zwischen Zeigefinger und Daumen.

»Seit Filipe mir von dir erzählt hat, halte ich mich auf dem Laufenden . Ich hoffe, das klingt nicht allzu gruselig. Aber mich hat einfach interessiert, was du so machst. Immerhin sind wir ja irgendwie Schwestern?«

Alma zuckte immer noch beim Klang des Namens ihres Erzeugers zusammen, und sie hatte prompt das Telefonat mit ihrer Mutter im Ohr.

»Ich weiß, das klingt komisch«, sprach Noa weiter, »auch für mich, und ich kenne dich immerhin schon etwas länger. Na ja, kennen. Ich weiß zumindest schon länger, dass es dich gibt.« Noa stockte. Sie schien schnell verstanden zu haben, dass man bei Alma nicht mit zu viel auf einmal kommen durfte, sondern behutsam lieber einen Schritt zurück als drei forsche Schritte nach vorne machen sollte. Noa hatte wohl ein gutes Gespür für Menschen, aber Alma hatte einfach keine Lust, über sich und diese verkorkste Situation zu sprechen.

»Wieso willst du nicht nach Hause?«, fragte sie stattdessen, um den Fokus von sich abzulenken. Die Luft um sie herum schien sofort ein paar Grad kühler zu werden.

Noa schwieg.

»Wenn du hierbleiben willst, wirst du es mir erzählen müssen«, sagte Alma. »Das ist meine Bedingung.«

»Aber nicht heute, okay?«, antwortete Noa nach einigem Zögern. In ihrer Stimme schwang eine Schwere mit, die Alma nicht erwartet hatte und die sie dazu brachte, sich einverstanden zu erklären.

»Na gut. Wissen denn deine Eltern, wo du bist? Also … deine Mutter?«

Mit einem Mal war Noa wieder lockerer. »Du kannst ruhig Eltern sagen. Annegret hat ein paar Jahre nach meiner Geburt Thomas geheiratet, und der ist eigentlich mein richtiger Vater. Und ja klar wissen die, wo ich bin. So, zeigst du mir, wo ich schlafen kann?«

Alma legte den Kopf schief und kniff die Augen zusammen. Vielleicht war sie doch empathischer, als sie immer geglaubt hatte, denn sie wusste, dass dieses Mädchen ihr gerade irgendwo zwischen den Zeilen eine Lüge aufgetischt hatte.

»Du kannst auf dem Sofa schlafen. Man kann es ausklappen, und es ist sicher nicht das bequemste, aber für ein paar Tage sollte es schon gehen.«

Alma verschwand im Schlafzimmer, um in einer der Kommoden frisches Bettzeug zu holen. Gemeinsam klappten sie das dunkelgrüne Samtsofa um, bezogen die Liegefläche mit einem Laken und hüllten die Decke und Kissen in frische Bezüge. Noa setzte sich auf ihren neuen Schlafplatz und schaute sich in dem Wohnzimmer um, das noch einen großen dunkelbraunen Esstisch beheimatete sowie ein Bücherregal, ein Sideboard und einen Plattenspieler.

»Viel passiert hier aber nicht«, merkte sie an.

»Wie gesagt«, sagte Alma, die etwas unschlüssig im Raum stand, »ich verbringe kaum Zeit hier.«

Da das Sofa nun von Noa okkupiert wurde, wusste sie nicht, wohin mit sich. Folglich blieb ihr nur der Rückzug ins Schlafzimmer oder in die Küche.

»Willst du nicht manchmal fernsehen?«

»Nein, eigentlich nicht. Und wenn, dann kann ich mir ja in den Mediatheken was anschauen.«

»Mhm«, antwortete Noa und ließ ihren Blick weiter durch den Raum gleiten, obwohl sie sich alles schon mehrmals angesehen hatte. Ein unangenehmes Schweigen breitete sich aus. Was machte Alma hier? Gab es eigentlich auch jugendliche Serienkiller? Nicht, dass sie dieses lange, schmale Feenwesen für einen solchen hielt, aber konnte man es wissen? Zumal Noa ihr gar nicht ähnlich sah. Sie war viel heller als Alma, die mit ihren braunen Augen, ihren braunen Haaren und ihrem braunen Teint gleichermaßen portugiesisch wie italienisch aussah. Noa war in jeder Hinsicht zart: die Haut rosa, das Haar rötlich und die Augen in hellem Blau. Auch in ihrer Statur unterschied sie sich gänzlich von Alma. Noa war auch hier – wenig überraschend – zart. Sie war etwas kleiner als Alma, aber nur ein paar Zentimeter, und wirkte aus jeder Perspektive lang und schmal. Sicher würden Pubertät und Zeit hier noch formende Veränderungen vornehmen, aber sie würde nie eine Körperform wie Alma bekommen, die schon immer kräftig gebaut war. Mit einem Meter achtundsiebzig war sie für eine Frau recht groß. Ihre Grundstatur wurde vom Boxtraining und der schweren körperlichen Arbeit in der Küche weiter definiert. Ja, Alma war kräftig, aber Alma war auch stark. Hatun verglich ihre Physis immer mit der der Williams-Schwestern, und Alma wusste wirklich nicht, ob es ein größeres Kompliment gab, als mit den Göttinnen des Tennis verglichen zu werden. Auch wenn sie von Tennis keine Ahnung hatte. Jedenfalls, Alma fand nicht eine Ähnlichkeit zwischen Noa und ihr. Vielleicht war sie doch nicht ihre Schwester, was wiederum neue Fragen aufwarf: Wer war sie? Und was machte sie hier?

***

Der Versuch, nicht von Serienkillern zu träumen, war gescheitert. Als am Dienstagmorgen Almas Wecker klingelte, fühlte sie sich müder als am Abend zuvor. Sie hatte lange nicht in den Schlaf gefunden, zu viele Fragen und Gedanken wollten von links nach rechts und zurück gewälzt werden. Und selbst der Schlaf war vieles, aber eben nicht erholsam gewesen. Nach einer zweiten Runde Snoozen, die sie sich sonst nie erlaubte, stand Alma schließlich auf. Die neun Minuten zusätzliche Schlummerzeit versuchte sie, wieder wettzumachen, und kam durch das Abweichen von ihrer Routine erst recht ins Straucheln. Alma fühlte sich also nicht wenig gestresst, als ihr klar wurde, dass Noa ja im Wohnzimmer schlief. Neben ihrem Schlafplatz auf dem großen Esszimmertisch stand immer noch Almas Rucksack, und darin befanden sich all die Dinge, die sie im Alltag brauchte – ihr Portemonnaie und ihr Schlüssel beispielsweise. Alma warf einen Blick auf die Zeitanzeige des Backofens. Es war kurz vor halb sechs Uhr morgens, und die Chancen standen nicht schlecht, dass Noa sich gerade in ihrer Tiefschlafphase befand. Alma wollte eine Konfrontation am frühen Morgen vermeiden – und ja, nach Konfrontation fühlte es sich an. Sie überlegte sogar kurz, den Rucksack einfach zu Hause zu lassen, doch leider hatte sie keinen Ersatzschlüssel für das Dear Dairy irgendwo anders deponiert. Und während sie recht einfach ohne Geldbeutel durch den Tag kommen würde, ohne den Schlüssel für das Restaurant konnte sie unmöglich aus dem Haus gehen.

Behutsam drückte sie die Klinke der Wohnzimmertür runter und öffnete sie einen Spaltbreit. Noa hatte die Fenster vor dem Schlafengehen wohl noch auf Kipp gestellt, weshalb es im Raum zum einen arschkalt war, aber auch ein angenehm monotoner Geräuschpegel von draußen hereindrang. Das bisschen Rascheln würde da nicht auffallen, dachte Alma, und stieß sich prompt den Fuß an einem Tischbein. Sie unterdrückte einen Schmerzensschrei, erlaubte sich nur ein leises Zischen und hielt die Luft an, um abzuwarten, ob Noa dadurch wach wurde. Doch das Mädchen lag bewegungslos auf dem Sofa, vergraben unter der Decke. Ein leises Schnarchen drang an Almas Ohren.

Sie tastete im Dunkeln nach ihrer Tasche und zur Sicherheit noch mal die Tischplatte des Esstisches ab. Sie war sich nicht sicher, ob sie gestern Abend vielleicht doch etwas auf dem Tisch hatte liegen lassen. Tatsächlich stieß sie mit der Hand leicht gegen etwas, das durch die Bewegung aufleuchtete. Noas Smartphone lag auf dem Tisch, und das hell scheinende Display flutete den Raum mit überraschend viel Licht und blendete Alma, die sich die Hand vor die Augen hielt. Sie blinzelte einige Male, um sich an die neue Lichtquelle zu gewöhnen. Sie wollte eigentlich gar nicht so genau hinschauen, doch ihr Blick wurde vom Licht magisch angezogen wie ein Nachtfalter. Es war erstaunlich viel los auf dem Sperrbildschirm von Noas Smartphone. Einige verpasste Anrufe sowie noch ungelesene Nachrichten tummelten sich dort. Alma nahm das Handy in die Hand, und die Gesichtserkennung verwehrte ihr den Zugang zu dem Gerät. Es verriet ihr dennoch einiges, nämlich dass sowohl die Anrufe als auch die Nachrichten von drei Personen stammten: ihrer Mutter, einer WhatsApp-Gruppe namens »lykkelig familie«, was vermutlich ein Familienchat war, und von einem Jungen namens Tim. Den Inhalt der Nachrichten konnte sie nicht sehen, aber eines war klar: Zweiunddreißig Anrufe in Abwesenheit und ebenso viele Nachrichten der eigenen Mutter konnten nichts Gutes bedeuten. Alma seufzte. Es war nicht schwer, die Lüge zu erkennen, die Noa ihr aufgetischt hatte. Alma wettete, dass ihre Familie nicht wusste, dass Noa in Hamburg war. Oder wo sie sich überhaupt aufhielt. Die Vibrationen der sich ankündigenden Katastrophe, sie konnte sie wieder unter ihren Füßen beben spüren. Doch dafür war jetzt keine Zeit, Alma musste endlich loskommen, wenn sie bei den Vorbereitungen für den heutigen Tag nicht in noch mehr Stress verfallen wollte.

Sie legte das Handy wieder auf den Tisch, schnappte sich ihre Tasche und schloss leise die Wohnzimmertür hinter sich. Sie zog ihre Jacke über und schlüpfte gerade in ihre Boots, als ihre Gedanken wieder zu Noa wanderten. Die würde irgendwann aufwachen, und zwar in einer Wohnung, die sie nicht kannte und in der es nichts Essbares gab. Alma hatte keine Ahnung, ob Noa überhaupt einen Euro in der Tasche hatte. Besaßen Teenager Geld? Alma schüttelte den Kopf über die Tatsache, dass sie von Menschen, die nur mehr als zehn Jahre jünger waren als sie, so absolut keine Ahnung hatte. Sie ging in die Küche, griff nach dem Kuli, der auf dem kleinen Tisch lag, und einem Blatt Zewa, notierte ein paar Worte für Noa und legte einen Zwanzigeuroschein daneben, den sie aus ihrem Geldbeutel gekramt hatte. Dann endlich schlüpfte sie aus der Wohnung und gab sich dieses Mal keine besondere Mühe, die Tür leise zu schließen. Immerhin war Noas Anwesenheit der Grund dafür, dass ihr Morgen heute übermüdet, gestresst und verspätet begann.