12

»Hallo.«

Golo ließ einen lauten Schrei los und drehte sich abrupt auf seinem Drehhocker um.

»Wow, du kreischst wie ein Mädchen«, sagte Noa, die schmunzelnd in der Tür stand.

»Falsch«, antwortete Golo und versuchte, sich so ein letztes bisschen Würde zu bewahren. »Mädchen kreischen wie ich.«

Noa schnaubte. »Was machst du da?«, fragte sie und kam zu ihm an die Werkbank.

»Ich vernähe die Träger«, antwortete er und zeigte ihr die zwei länglichen Streifen hellblauen Leders, die er aufeinandergelegt hatte. »So werden sie stabiler.«

»Wird das eine Tasche?«, fragte Noa interessiert.

»Fast, ein Rucksack. Meine Freundin Toni hat bald Geburtstag, und ich schenke ihr den.«

»Wow, das ist ein richtig tolles Geschenk!«

»Und was machst du hier?«

»Sag halt, wenn du dich nicht über meinen Besuch freust.«

Der Frieden war wie immer nur von kurzer Dauer gewesen.

»Doch, natürlich freue ich mich«, entgegnete Golo beschwichtigend.

»Na also.« Noa ließ sich auf das Sofa in der Sitzecke plumpsen.

»Ich bin nur überrascht. Ich meine, du hast sicher Besseres zu tun, als mich hier zu besuchen?«

Noa schnaubte wieder, doch dieses Mal klang es nicht amüsiert.

»Hast du doch, oder?«, hakte Golo nach.

»Nein, hab ich halt nicht! Bist du jetzt zufrieden?«

Bockig verschränkte sie die Arme vor der Brust.

Lächelnd stellte sich Golo neben das Sofa und schaute auf die Teenagerin herunter. »Noa, jetzt mal unter uns: Ist dir langweilig?«

»Mann, lach halt nicht!«

Ihre Wasserlinie flimmerte verdächtig. Oje.

»Ich lache gar nicht. Na ja, zumindest lache ich dich nicht aus. Aber du kannst doch einfach sagen, dass dir langweilig ist, da ist doch nichts bei.«

Noa setzte sich gerade auf und reckte das Kinn nach oben. »Ja, gut«, sagte sie dann. »Ich habe Langeweile, und ich hatte gehofft, dass sie hier verfliegt.«

»Nichts leichter als das«, verkündete Golo und nahm seine Jacke vom Haken. »Ich hol mir schnell was zu trinken vom Kiosk. Magst du auch etwas?«

»Gerne, ’ne Cola.«

Golo sprang die Stufen hinauf, ging ein paar Schritte zum nächsten Kiosk und war wenige Minuten später mit einer Cola, einer Apfelschorle und zwei Schokoriegeln wieder zurück.

In der Zwischenzeit war Noa nahezu mit dem Polster des Sofas verschmolzen und tippte auf ihrem Handy herum. Sie hatte sein Kommen wohl nicht gehört, und Golo witterte die Chance, ihr den Schreckmoment heimzuzahlen. Doch da hob das Mädchen den Kopf und blickte ihn unbeeindruckt an. »Denk gar nicht daran«, sagte sie, bevor sie weiter auf ihrem Handy herumtippte.

»Pff«, machte Golo nur, setzte sich auf einen Sessel neben dem Sofa und stellte seine Beute auf den Tisch. Er schraubte seine Apfelschorle auf – Gott, er liebte Apfelschorle – und nahm zwei große Schlucke. Dann griff er zu einem der beiden Riegel und riss die Folie auf. Noa interessierte sich nicht für die mitgebrachten Snacks, sondern wurde weiter von ihrem Smartphone in Beschlag genommen.

»Und, wie geht’s dir so?«, fragte Golo in die Stille hinein. Jetzt, wo sie schon mal da war, hatte er das Gefühl, dass er sich auch wie ein Gastgeber zu verhalten hatte. Er war ein Meister darin, gepflegte Konversation zu betreiben. Doch bei Teenagern galten wohl in allen Lebensbereichen andere Regeln.

»Gut«, murmelte Noa, immer noch im Bann ihres Handys. Golo biss von seinem Riegel ab und ließ sich ausgiebig Zeit mit dem Kauen. Doch nichts passierte.

»Mir auch«, sagte er in die Stille.

»Schön«, murmelte Noa.

Das war wirklich nicht einfach, musste sich Golo eingestehen. Was tat so ein Jugendlicher den ganzen Tag? Aufs Handy schauen, so viel war klar. Und sonst? Vielleicht hatte sie Hobbys, nach denen er sie fragen könnte. Oder sie hatte einen Freund? Und was war eigentlich mit …

»Sag mal, Noa, hast du eigentlich keine Schule?«, fragte Golo.

Noa schüttelte den Kopf.

»Sind etwa Ferien?« Das kam Golo allerdings etwas abwegig vor. Er lehnte sich in Noas Richtung. »Schwänzt du etwa?«, fragte er mit einem Augenzwinkern in der Stimme.

»Ich brauchte einfach mal eine Pause von zu Hause«, antwortete Noa knapp, und Golo konnte sehen, dass sie auf ihrer Unterlippe herumkaute. Man musste kein Psychologe sein, um zu verstehen, dass sie sich in einem Themenfeld bewegten, über das das Mädchen gerade nicht sprechen wollte. Er lehnte sich wieder zurück und begann, das Etikett seiner Flasche abzuknibbeln.

»Auf welche Schule gehst du denn?«, fragte er. Neutralität war nun das Gebot der Stunde.

»Real«, war die einsilbige Antwort, die er bekam. Immerhin, besser als keine.

Golo rechnete kurz nach. »Das heißt doch«, dachte er dann laut, »dass du eigentlich bald deinen Abschluss machen müsstest, oder?«

Noa nickte. »Ja, dieses Jahr. Eigentlich.«

Aha, da war etwas. Dieses kleine Wörtchen, das sie sich nicht hatte verkneifen können und das viel mehr preisgab, als es Noa vermutlich lieb war. Das würde er wieder aufgreifen. Nicht jetzt. Aber er merkte es sich.

»Und weißt du schon, was du danach machen willst?«, fragte Golo also stattdessen.

»Ha, keine Ahnung.« Noa klang angemessen zynisch, wie wohl jeder, der nach seinem Abschluss nicht wusste, wohin mit sich.

»Das verstehe ich voll. Mein Schulabschluss liegt zwar schon ein paar Jahre zurück – aber ganz sicher nicht mehr als fünf! –, aber ich wusste damals auch überhaupt nicht, welchen Beruf ich später einmal ausüben wollte. Und deshalb auch nicht, welche Ausbildung zu mir passen könnte oder welches Studienfach mich interessierte.«

Endlich löste Noa den Blick von ihrem Handybildschirm und schaute interessiert auf. »Und was hast du dann gemacht?«, fragte sie.

»Praktika«, antwortete Golo wahrheitsgetreu. »Ich habe mir verschiedene Berufe und den Alltag darin angeschaut.«

Noa legte die Stirn in Falten. Ihr konzentriertes Gesicht zeigte deutlich, dass sie über diese Möglichkeit noch nie nachgedacht hatte.

»Wenn du willst, kannst du bei mir ein Praktikum machen. Na ja, Praktikum, das ist vielleicht zu hoch gegriffen. Aber was hältst du davon, wenn du mir einfach bei der Arbeit zuschaust? Und ein bisschen was ausprobierst natürlich. Vielleicht gefällt es dir ja, und Handwerk ist etwas für dich.«

Golo merkte, wie ihn die Idee total begeisterte. Nicht nur, weil er wirklich Lust hatte, Noa seine Arbeit näherzubringen. Sondern weil er durch ihre Anwesenheit auch dazu gezwungen wäre zu arbeiten, wirklich etwas zu tun und nicht nur in endlosen Gedankenschleifen zum Thema Namensfindung und Produktpalette festzustecken.

»Alma killt mich, wenn ich ihr das erzähle«, grinste Noa, und in ihren Augen funkelte es verdächtig. »Aber ja«, sagte sie dann. »Sehr gerne.«

Ob sie Alma wohl ärgern wollte? Anders konnte er sich den schelmischen Ausdruck in ihren Augen nicht erklären. Aber gut, das ist nicht mein Problem , dachte Golo, und direkt im selben Augenblick wurde ihm klar, dass das der wohl naivste Gedanke war, den er je hatte.

»Super!«, freute er sich. »Und Alma bringst du es einfach schonend bei? Ich bin mir ziemlich sicher, dass eine vegane Köchin nicht in der Lage ist, einen kaltblütigen Mord zu begehen. Also solltest du sicher sein.«

Noa lachte, doch nur kurz, denn das Aufleuchten ihres Handys beendete den schönen Moment. Eine Nachricht eines gewissen Tims erschien auf dem Display, woraufhin Noas Lachen erstarb und sie genervt aufstöhnte.

»Oje«, sagte Golo. »Ist Tim dein Freund?«

»Ja«, sagte sie, und ihr Tonfall machte deutlich, dass sie das Thema nicht vertiefen wollte.

Golo räusperte sich. »Was hältst du davon, wenn wir heute Abend ins Dear Dairy essen gehen? Ich wollte das mit zwei Freunden machen, Santi und Toni, und du könntest mitkommen, wenn du magst?«

Erleichtert lächelte Noa ihn an und nickte. Na also , dachte Golo, so schwer ist der Umgang mit Teenagern doch gar nicht.

***

Als Noa aufs Klo verschwunden war, brach es aus Santi heraus.

»Sag mal, Golo, findest du sie nicht ein bisschen sehr jung? Ich mein, ist sie überhaupt schon volljährig?«

Golo blickte ihn fragend an, und auch Toni, die gerade etwas in ihrer Handtasche suchte, unterbrach diese Tätigkeit und blickte überrascht auf.

»Was?«, meinte Santi entschuldigend zu seiner Frau. »Er hat mir heute geschrieben, dass er ein Date mitbringt.«

Toni verdrehte die Augen und tätschelte seinen Unterarm. Ganz so, als wollte sie sagen: Immerhin ist er hübsch. Golo brach in schallendes Gelächter aus, so laut, dass die Gespräche an den Tischen um sie herum für einen Moment verstummten. Er machte eine entschuldigende Geste, versuchte, sich zu beruhigen, kicherte aber immer noch. Die Tränen liefen ihm aus den Augen, und jedes Mal, wenn er sich und seinen Atem gerade wieder unter Kontrolle hatte, brauchte es nur einen Blick zu Santi, um in einer neuen Welle des Lachens unterzugehen. Santi schien immer noch nicht zu verstehen, weshalb sein Freund so lachte und seine Frau ihn so mitleidig anschaute. Noa, die eben von der Toilette zurückkam, verstand die Situation ebenso wenig.

»Was ist denn hier los?«, fragte sie, und eine kleine Sorgenfalte legte sich auf ihre kindlich glatte Stirn, als sie Golos derangierten Zustand bemerkte.

Der schüttelte nur den Kopf. »Ach nichts«, sagte er japsend. »Santi hat nur einfach einen sagenhaften Humor.«

Interessiert schaute Noa von einem zum anderen und setzte sich auf ihren Platz.

»Was hast du denn gesagt?«, fragte sie Santi.

Bevor der etwas Falsches sagen konnte, kam ihm Toni zuvor. »Ach, das war Situationskomik, das ist immer so schwer nachzuerzählen.«

»Ah ja, das kenne ich«, antwortete Noa und widmete sich wieder ihrer Vorspeise.

Golo hatte sie natürlich schon im Vorfeld eingeladen. Er wollte nicht einfach davon ausgehen, dass Noa im Dear Dairy nichts zahlen musste, und sie sollte sich beim Bestellen nicht zurückhalten. Das hier war schließlich ein kulinarisches Erlebnis. Und Noa hatte, wie er in der Kleinen Pause schon feststellen durfte, einen immensen Appetit. Zur Vorspeise hatte sie sich das Tomatensorbet ausgesucht, das mit Basilikumspiegel und Grissini gereicht wurde. Noas Gesichtsausdruck nach zu urteilen, schmeckte ihr das Gericht sehr gut. Die anderen drei hatten sich für die andere angebotene Vorspeise entschieden: Tortelloni in Brühe, da ihnen der heutige Wind noch in den Knochen steckte. Sobald im Hamburger Frühling die Sonne verschwunden war, tat es ihr die ganze Jahreszeit gleich, und es herrschte wieder Winter. Die Suppe sah allerdings nicht aus wie erwartet. In der klaren Gemüsebrühe, die wunderbar aromatisch und kräftig schmeckte, schwammen keine klassischen Tortellini, sondern drei größere Tortelloni inside out. Das bedeutete, dass Spinatblätter in Form einer Tortelloni geformt wurden. Als Golo das Gebilde mit seinem Messer durchschnitt, rollten kleine Kugeln in einer weißen Masse heraus.

»Fregola«, hatte Arlo erklärt, die mit einem Mal zum perfekten Zeitpunkt an ihrem Tisch gestanden hatte. »Das sind kleine Nudeln in Kugelform, ursprünglich aus Sardinien. Vermengt wurden sie hier mit veganer Creme, Zwiebeln, etwas Muskat und Knoblauch, um in der Gesamtkomposition einer klassischen Tortelloni in nichts nachzustehen.« Sie hatte noch einen guten Appetit gewünscht und war wieder verschwunden, vermutlich um anderen zu erklären, was da gerade auf ihrem Teller passierte.

Es schmeckte köstlich, und die Brösel, die wohl den Parmesan ersetzten, standen diesem in nichts nach. Golo löffelte das letzte Stück Tortelloni auf und bereitete sich darauf vor, diesen Geschmack zum letzten Mal für heute zu genießen, als Arlo wieder an ihren Tisch kam.

»Alles gut bei euch?«, fragte sie, während sie mit unauffälligem Blick überprüfte, ob noch alle Gläser ausreichend gefüllt waren. Alle vier nickten und wirkten mehr als beseelt.

»Wie schön«, freute sie sich. »Wenn ihr mit der Vorspeise fertig seid, weise ich mal euren Hauptgang an. Nicht dass ich euch nicht gerne dahabe, ich will euch nur nicht zu lange warten lassen. Alma reißt mir vermutlich den Kopf ab, wenn sie erfährt, dass ich ihre kleine Schwester habe hungern lassen. Bei dir ist das was anderes«, sagte sie mit Blick auf Golo.

»Weiß Alma, dass wir da sind?«, fragte Noa, und Golo war sich sicher, dass nur er die Sorge in ihrer Stimme hören konnte.

»Nein, noch nicht.« Arlo schüttelte den Kopf. »Ich dachte, ich lass erst mal die Rushhour vorbeiziehen und schicke sie nachher zu euch. Also lasst euch Zeit, ihr werdet hier bis nach Feierabend sitzen!«

Sie lächelte und schwebte weiter zwischen den Tischen und Gästen hin und her, wobei ihr pistaziengrün leuchtender Kopf dafür sorgte, dass man sich nie lange nach Arlo umschauen musste. Man sah sie sofort.

Santi machte große Augen. »Almas Schwester?«, fragte er Golo.

»Äh, ja«, antwortete Noa abschätzig. »Ich bin hier vielleicht die Jüngste am Tisch, aber unhöfliches Verhalten erkenne ich. Über Anwesende in der dritten Person zu sprechen, gehört dazu.«

Toni klatschte verzückt in die Hände.

Santi entschuldigte sich hastig. »Ich hatte keine Ahnung!«

»Haben wir damit alle Fragezeichen des heutigen Abends geklärt?«, fragte Golo amüsiert und schaute nur Santi an. Der nickte und griff nach seinem Glas.

»Schön«, erwiderte Golo und nahm ebenfalls sein Glas in die Hand. »Auf diesen Abend und das Essen mit Freunden, ganz genau so wie ich es schätze und liebe!«

Und wie er es zuletzt in Berlin schmerzlichst vermisst hatte, da es dort Einladungen zum Dinner eigentlich nur im beruflichen Kontext gegeben hatte.

Selbst Noa schien sich pudelwohl zu fühlen, obwohl sie den Abend ja mit »Alten« verbringen musste. Doch sie fügte sich einfach in die Unterhaltung mit ein, und Golo nahm erleichtert zur Kenntnis, dass auch Santi und Toni ihre Aussagen und Gedanken zu Themen für voll nahmen. Er hatte sogar einmal Alma gesehen, als sie kurz durch die Küchentür geguckt hatte. Ihr Blick war an ihrem Tisch hängen geblieben, und dann war sie wieder hinter den schwingenden Türen verschwunden. Sie freute sich eindeutig über ihre Anwesenheit. Seine Ironie musste er allerdings beiseitepacken, als Arlo ein Dessert an den Tisch brachte, das keiner bestellt hatte. Wie aus dem Nichts erschien sie mit einer länglichen Platte und stellte sie in der Tischmitte ab. Darauf lagen vier Esslöffel – und auf jedem eine ordentliche Portion Schokoladencreme.

»Ist das Nutella?«, fragte Noa.

»So was in der Art.« Arlo schmunzelte. »Eine selbst gemachte vegane Adaption natürlich. Aber die Idee ist dieselbe, wie man sie zu Hause oft hat: ein Essen mit einer kleinen Süßigkeit abzuschließen. Es soll simpel sein, es soll ehrlich sein, und es soll schaffen, dass ihr euch im Dear Dairy ganz wie zu Hause fühlt.«

Sie lächelte noch mal das breite und herzliche Arlo-Lächeln, verschwand dann und kam eine Minute später wieder zum Tisch zurück. Dieses Mal hatte sie ein Tablett mit vier dampfenden Espressotassen dabei.

»Noa, falls du keinen Espresso magst, lass ihn ruhig stehen. Für den Rest gilt: Man kann kein Essen ohne einen Espresso abschließen.«

»Oh, ich weiß nicht, ob ich dann noch schlafen kann heute«, wandte Santi ein. Der Blick, den er dafür von Arlo kassierte, ließ seine Bedenken sich aber in Luft auflösen.

»Du hast recht«, stammelte er. »Nach dem guten Essen wird man so oder so schlafen.«

Hastig stürzte er den kleinen Kaffee hinunter, der allerdings nicht nur stark, sondern auch heiß war.

»Au, fuck«, entfuhr es ihm, als er sich die Finger an die schmerzende Lippe hielt.

»Nutella soll helfen«, grinste Toni und hielt ihm seinen Löffel vor die Nase. Golo grinste. Es schien nichts zu geben, das Toni mehr liebte, als ihren Mann zu piesacken. Denn Santi war mehr als diszipliniert, wenn es um seine Ernährung ging. Ein Abend wie heute mit einem dreigängigen Menü und zuckerhaltigem Nachtisch war eine Ausnahme, eine absolute Ausnahme. Doch selbst die fiel ihm nicht leicht, bemerkte Golo, während sein Freund kritisch den Nachtisch musterte. Toni hatte es sich zur Aufgabe gemacht, ihn hin und wieder aus seinem eng geschnürten Ernährungspyramidenkorsett herauszulocken, also hielt sie ihm den Löffel weiterhin entgegen. Santi nahm ihn endlich an und schob ihn sich ganz in den Mund. Nur eine Sekunde später schloss er die Augen, und ein verzücktes Lächeln legte sich auf sein Gesicht.

»Ist lecker?«, fragte Arlo gespannt.

»Fuper fhmackhaft!«

Sie lachte leise und ließ sie wieder alleine. Golo nahm sich ebenfalls einen Löffel vom Teller und probierte etwas von der Creme. Sie war schokoladig, schokoladiger als Nutella, aber auch nussig, süß und gleichzeitig herb. Und dann war da noch etwas. Eine Nuance, die erst nach einigen Sekunden in den Vordergrund drang. Nur welcher Geschmack das war, darauf kam Golo beim besten Willen nicht.

»Vanille?«, fragte Toni, die ihn beobachtet hatte und seine Überlegungen nachvollziehen konnte.

»Habe ich auch schon überlegt. Oder Zimt«, mutmaßte Golo.

»Nee, das ist kein Zimt«, widersprach Toni.

»Vanille ist es aber auch nicht«, kam es da von Noa. Sie hatte ihren Löffel schon blitzblank geschleckt und tunkte gerade auf fachmännische Art ihren Cantuccini in den Espresso, als hätte sie das dolce vita erfunden.

»Was denkst du, was es ist?«, wollte Toni wissen.

»Ich bin mir noch nicht sicher, ich muss das erst noch nachhallen lassen.«

Sie waren so in ihre Gespräche und das Essen vertieft gewesen, dass sie gar nicht mitbekommen hatten, wie sich das Restaurant immer weiter geleert hatte. Erst als Golo sich suchend nach Arlo umdrehte, um noch ein Glas Wein zu bestellen, stellte er erstaunt fest, dass inzwischen nur noch ihr Tisch besetzt war. Die einzigen anderen Gäste zahlten gerade bei der Kellnerin und waren schon im Begriff aufzustehen. Anstatt nach ihr zu winken, folgte er Arlo, als die wieder hinter der Theke verschwand.

»Was kann ich dir bringen?«, fragte sie ihn freundlich.

»Eigentlich wollte ich fragen, ob ich noch ein Glas Wein haben kann, aber vielleicht gehen wir jetzt auch besser, damit ihr Feierabend machen könnt.«

Arlo griff nach einem Rotweinglas und dem Barolo, den Golo schon davor getrunken hatte, und schenkte ihm ein.

»Ich sagte doch, ihr bleibt bis nach Feierabend. Jetzt entspann dich mal, und ich schick euer fünftes Musketier gleich raus.«

Sie stellte ihm das Glas auf die Theke und zwinkerte ihm zu, bevor sie sich umdrehte und in der Küche verschwand. Aus der dröhnte nun, da sich keine regulären Gäste mehr im Laden befanden, »Bohemian Rhapsody« von Queen. Ein Klassiker, mit dem einem das Aufräumen ganz von selbst von der Hand ging, dachte Golo, als er sich wieder zu den anderen setzte. Keine fünf Minuten später gesellte sich tatsächlich auch Alma zu ihnen. Sie zog sich einen Stuhl heran und ließ sich darauf plumpsen. In der Hand hatte sie einen kleinen Tumbler mit Spritz.

»Sie hat mir gedroht zu kündigen, wenn ich mich nicht zu euch setze«, sagte Alma tonlos und nahm einen Schluck.

»Na denn, prost«, lachte Toni und hielt ihr Glas in die Höhe.

»Ja«, stimmte Golo zu. »Auf die pure Lebensfreude.«

Alma zog eine Grimasse, stieß jedoch mit ihnen allen an. »Sorry«, sagte sie nach einer Weile. »Heute war die Hölle. Und eigentlich will ich einfach nur in mein Bett fallen.«

»Da kann ich dir behilflich sein.«

»Golo! Hier sind Kinder am Tisch«, rief Toni, nur um sich gleich darauf zu Noa umzudrehen. »Entschuldigung, ich halte dich natürlich nicht für ein Kind, aber, also …«

Noa lachte. »Keine Sorge, Toni, ich habe schon mal von diesem Beischlaf gehört. Aber ich habe dennoch kein Interesse daran, Zeuge zu werden, wie Golo meine Schwester anflirtet.«

»Ihr verpasst was«, sagte Golo und lehnte sich beleidigt zurück. Zu seiner vollsten Zufriedenheit stellte er fest, dass der Köchin die Röte in die Wangen schoss.

»Themenwechsel«, rief Toni. »Alma, wir rätseln schon die ganze Zeit, was in deiner Nutellacreme ist. Dieser Geschmack, der erst später dazukommt und dann einfach so mhhhhhhh ist.«

»Ja, wir kommen einfach nicht drauf. Vanille ist es nicht, Zimt sicher auch nicht. Ich denke, wir müssten wirklich dringend noch mal probieren«, kam es überraschenderweise von Santi.

»Tut mir leid, es ist leider leer«, lachte Alma auf. Als sie Santis Blick sah, fügte sie hinzu: »Wirklich jetzt! Ich überlege, den Löffel als Dessert mit auf die Karte zu nehmen, und heute war ein Testlauf, wie die Creme so ankommt.«

»Es ist Kardamom, oder?«, fragte Noa. Überrascht sah Alma sie an, und auch Golo war nicht wenig beeindruckt. Als er sechzehn war, konnte er gerade so Ketchup von Mayo unterscheiden. Alma nickte.

»Ja, genau.«

»Wow, du bist gut!«, jubelte Toni. »Du solltest Köchin werden, wie Alma!«

»Oh nein«, tat Noa diesen Vorschlag ab. »Ich kann nicht gut kochen, dafür aber sehr gut essen.«

»Dann eben Restaurantkritikerin, da ist Essen buchstäblich dein Job«, schlug Golo vor, woraufhin alle auflachten. Auch Alma lachte gelöst.

»Danke dafür«, sagte sie und lächelte Golo an. Japp, sein Herz hatte deshalb einen kleinen Hüpfer gemacht. Dieses Lächeln hatte ihn für jede Abweisung Almas entschädigt, doch bevor er es erwidern konnte, hatte sie den Blick wieder abgewandt. Arlo kam zu ihnen an den Tisch.

»Hier ist ja gelöste Stimmung«, sagte sie, als sie eine Flasche Barolo in die Mitte stellte.

»Ich mach mal Feierabend«, sagte sie zu Alma. »Trinkt noch einen, außer du natürlich«, sie warf Noa einen gespielt warnenden Blick zu, »und habt einen zauberhaften Abend. Ciao!«

»Tschüüüü, Arlo, und danke für heute«, rief Alma hinter ihrer zweiten Hand her, bevor sie sich wieder zu den anderen drehte. »Arlo war wirklich meine Retterin. Ich hatte einen absolut beschissenen Tag, und da hatte ich nicht gerade die beste Laune. Sie hat ohne Murren ihren Job gemacht und auch noch dafür gesorgt, dass ich meinen mache und nicht versehentlich meine Gäste vergifte.«

Golo fragte sich, ob das vielleicht nicht ihr erster Spritz war an diesem Abend. Er merkte, dass ihm der Wein bereits zu Kopf gestiegen war, und auch Alma wirkte beschwipst.

»Was ist denn passiert heute?«, fragte Toni und schenkte sich etwas von dem Rotwein ein.

»Ach, weil ich ja so viel freie Zeit habe, nutze ich die, um Kleinkrieg mit einem Beamten der Stadt Hamburg zu führen.«

»Kein Problem, halt dich nicht mit den Details zurück«, sagte Toni ironisch, der diese kurze Zusammenfassung natürlich nicht reichte.

»Okay«, lenkte Alma ein. »Immerhin habe ich gerade meine gute Laune wiedergefunden. Also, ich habe mich bei der Stadt auf ein Parklet beworben. Kennt ihr das?«

Als alle nickten, fuhr sie fort.

»Und ein gewisser Hägele, der Sachbearbeiter, hat meine Bewerbung abgelehnt. Na ja, und das habe ich so nicht hinnehmen wollen. Denn ehrlich, wenn ich beim ersten Nein immer klein beigegeben hätte, würde ich heute wohl nicht in meinem eigenen Restaurant sitzen.«

»Kenne ich, das Gefühl«, entfuhr es Golo, und er zwinkerte Alma an. Er konnte gar nichts dagegen tun, es passierte einfach. Wieder mal zeichnete sich eine sanfte Röte auf Almas Wangen ab. Tagesziel erreicht.

»Also jedenfalls will er mir das Parklet nicht geben, und ich will seine Ablehnung nicht einfach so hinnehmen. Aber scheinbar hat dieser Mann nichts in seinem Leben außer der Frustration über seine Arbeit, und dieser lässt er in den Mails an mich freien Lauf. Die neueste habe ich heute Morgen erst entdeckt, und damit war der Tag eigentlich schon gelaufen.«

»Pff, Männer«, sagte Toni, und man konnte hören, dass ihre Zunge ganz leicht Schlagseite hatte. »Ja, nicht du«, fügte sie schnell hinzu, als Santi eine beleidigte Schnute zog. »Und du auch nicht.« Das ging an Golo und seinen beleidigten Gesichtsausdruck. »Herrje, jetzt habt euch mal nicht so!«

Alma lachte, und Golo war sich sicher, die ersten zarten Bande einer Freundschaft zu erahnen.

»Lass uns eine Antwort schreiben«, schlug Noa vor.

»Jaaaaaa«, jubelte Toni. »Das ist ja wohl die Idee!«

»Oh, ich bin mir sicher, das ist sie nicht«, meinte Alma.

»Toni ist wirklich gut mit Worten«, meinte Golo. Toni war auch betrunken und hatte in diesem Zustand gerne mal Lust auf Randale, aber das musste er Alma ja nicht wissen lassen.

»Ach komm, was hast du denn zu verlieren? Dieser Kerl hat dir doch eh schon gesagt, dass du dieses Parklet nicht haben kannst. Er wird seine Meinung jetzt nicht auf einmal ändern. Deshalb können wir ja ehrlich sein und ihm ganz direkt sagen, was wir von ihm halten.« Toni schaute Alma auffordernd an.

»Vielleicht habe ich das schon mal gemacht«, sagte Alma und wirkte minimal zerknirscht. Toni überging das.

»Nicht so ehrlich!«

Alma schaute unsicher in die Runde. Noa grinste diebisch, Toni warf ihr flehende Blicke zu, Santi war eingenickt, und als sie Golos Blick traf, lächelte er sie einfach an. Nicht charmant, sondern ehrlich. Ihm war im Prinzip egal, was sie da ausheckten. Ihm war nur wichtig, dass ihre Wangen noch mal so aufleuchteten wie zuvor.

»Aber nur tippen, nicht abschicken«, gab Alma klein bei. Toni jubelte nur noch lauter, sprang auf und griff sich einen Stuhl, um sich zwischen Alma und Noa zu setzen. Die drei steckten die Köpfe zusammen, tippten auf Almas Handy eine Nachricht und wirkten höchst konzentriert. Abgesehen von dem diabolisch klingenden Lachen, das immer wieder aus ihnen herausbrach.