Das hätte nicht passieren dürfen. Alma hätte sich niemals zu dieser Leichtsinnigkeit hinreißen lassen dürfen. Nicht mal das Boxen heute Morgen hatte geholfen, dass sie sich besser fühlte. Zum Glück stand für den folgenden Tag Kürbis auf der Karte, der am besten schmeckte, wenn er schon am Tag zuvor geschmort wurde und dann vierundzwanzig Stunden ziehen konnte. Die Arbeit in der Küche hatte noch immer geschafft, wozu das Training heute nicht in der Lage gewesen war. Alma hatte die Zutaten, die sie zuvor auf dem Markt gekauft hatte, in die Kühlkammer geräumt, nur um sie jetzt wieder aus ebendieser zu holen und an ihren Arbeitsplatz zu bringen.
Sie war einfach nicht bei der Sache heute. Sie begann, Zwiebeln, Knoblauch, Chili, Sellerie, Möhren, Kürbis, Rosmarin und Salbei klein zu schneiden, während sie gedanklich den Samstagabend noch einmal durchgehen konnte. Sie hätten diese Mail niemals schreiben dürfen. Nicht nur war sie böse und gemein, also so wirklich böse, und nicht mal ein Beamter der Stadt hatte ein solches Schreiben verdient. Nein, nun befürchtete Alma, dass diese Mail sie für immer in Verruf gebracht hatte. Sollte sie sich nächstes Jahr wieder auf ein Parklet bewerben wollen, und das hatte sie fest vor, hätte sie mit Sicherheit keine Chance. Bestimmt hatte Hägele inzwischen alles, was er über sie und das Dear Dairy finden konnte, ausgedruckt und an das Schwarze Brett des Bezirksamtes gehängt. Und das waren nicht wenige Informationen, immerhin war Alma erfolgreiche Bloggerin gewesen.
Das war alles Arlos Schuld! Alma hackte die vor ihr liegende Zwiebel mit einem Hieb entzwei. Hach, direkt besser. Sie hatte Alma gezwungen, sich zu ihren »neuen Freunden« zu setzen. Pff, Freunde. Das waren sie ganz sicher nicht! Gut, Noa war ihre Schwester, daran konnte man nichts mehr ändern. Eigentlich war das Mädchen auch ganz in Ordnung, und am wichtigsten: bald wieder in Lübeck. Aber der Rest? Sicher nicht.
Zugegeben, von Santi hatte sie wenig mitbekommen, der hatte die meiste Zeit geschlafen. Oder eben mit geschlossenen Augen zugehört, wie er das nannte. Toni hingegen war wie ein Wirbelwind gewesen, und die ganze Idee mit der Mail war auf ihrem Mist gewachsen. Oder? Ach, so genau wusste Alma das auch nicht mehr, sie war vielleicht doch ein bisschen angetrunken gewesen. Sicher war sie sich allerdings dabei, dass es ohne Golo nie zu dieser Zusammenkunft gekommen wäre. Immerhin waren Santi und Toni seine Freunde, was Alma wieder mal zu der Überzeugung führte, dass Golo nicht gut für sie war.
Also für das Dear Dairy , für das Restaurant, war er schädlich, korrigierte sie sich schnell, als sie den Knoblauch mit der flachen Seite des Messers malträtierte. Eigentlich knackte man so nur die Schale, um die Zehe leichter davon befreien zu können. Alma jedoch machte gerade Mus daraus. Denn leider hatte sie nicht vergessen, wie ihr jedes Mal sehr warm geworden war, wenn Golo sie so angeschaut hatte. Das hatte ihr ja gar nicht in den Kram gepasst, sie war strikt gegen eine solche Reaktion, aber ihr Körper sah das leider anders. Bestimmt hatte sie sich nur zu der Mail verleiten lassen, weil Golo sie so abgelenkt hatte. Ja genau, so war das gewesen!
Erleichtert stellte Alma fest, dass sie neben Arlo noch einer weiteren Person die Schuld an der ganzen Misere zuschieben konnte – und das war ihr Lieblingsfeind Golo. Diese Fraternisierung musste sofort wieder aufhören, mahnte sie sich, als sie den Salbei in millimeterfeine Streifen schnitt. Das war ein Ausrutscher gewesen, den konnte sie sich verzeihen, schließlich hatte sie einen sehr anstrengenden Tag gehabt. Und auch, dass Noa Golo so gerne mochte, machte die Sache nicht leichter. Aber im Prinzip hatte das ja nichts mit Alma zu tun, das musste sie sich jetzt hier nur mal bewusst machen.
Wo war ihr Talent zum Grenzen setzen denn geblieben? Das fiel ihr doch sonst nicht so schwer. In dem ganzen Trubel, der aktuell los war, hatte sie es bestimmt einfach vergessen. Aber nur, weil sie es nicht gleich umgesetzt hatte, hieß das ja nicht, dass die ganze Fähigkeit flöten gegangen war. Deshalb machte Alma jetzt einen Deal mit sich: Diese nachbarschaftliche Verbundenheit mit Golo hörte wieder auf. Sofort. Noa konnte ja machen, was sie wollte, aber Alma machte das auch. Und Alma wollte nicht. Feierlich hielt sie das Messer in die Höhe. Damit war es also besiegelt.
Das Telefon riss sie aus ihren Gedanken. Oh Gott, das war der Mann vom Bezirksamt! Er hatte gerade ihre Mail entdeckt, und jetzt rief er an, um sie am Telefon zur Rede zu stellen. Er würde ihr mit allem drohen, was er hatte – und das war nicht wenig. Immerhin stand ein ganzer Staatsapparat hinter ihm. Herrje, würde er ihr jetzt das Gesundheitsamt auf den Hals jagen? Wenn die etwas finden wollten, dann fanden sie auch etwas. Da konnte man seine Küche noch so penibel führen. Sicherlich hatte Hägele einen Freund oder Bekannten in der anderen Behörde und hatte diesen um einen Gefallen gebeten. Alma würde wirklich das Dear Dairy verlieren, und schuld daran war nur diese dumme, dumme E-Mail. Für einen kurzen Moment überlegte sie, nicht ans Telefon zu gehen. Doch wie oft konnte sie dieses Spiel treiben, bis Hägele und sein Kompagnon hier auftauchen und womöglich eine Szene vor allen Gästen machen würden? Nein, dann brachte sie es lieber jetzt hinter sich, nahm den Anruf entgegen und sagte nichts.
»Hallo?«
Okay, Hägeles Bekannter war offenbar eine Bekannte, denn die Stimme am anderen Ende der Leitung war eindeutig weiblich.
»Ist da Alma?«
Das Duzen fand Alma etwas ungewöhnlich für so eine Beamtenperson. Aber vielleicht hatte die Stadt Hamburg eine Agentur beauftragt, um das eingestaubte Image ihres Verwaltungsapparates loszuwerden, und irgendein junger, übermotivierter Stratege hatte ihnen nahegelegt, das Sie einfach mal sein zu lassen. Nah am Bürger hatten sie diese Kampagne vermutlich genannt.
»Hallo? Ist da jemand? Also, Thomas, ich glaube, das Telefon ist kaputt. Was? Ja klar hat es geklingelt, also ja, ein Freizeichen, genau. Das ist jetzt aber weg, es klang so, als wäre jemand rangegangen, aber niemand sagt etwas. Was meinst du? Noch mal anrufen? Ja gut.«
Dann knackte die Leitung, und Stille dröhnte aus dem Hörer. Verdattert schaute Alma das Telefon in ihrer Hand an und erschrak, als es gleich darauf wieder klingelte.
»Dear Dairy «, hauchte sie, nachdem sie erneut auf die grüne Taste gedrückt hatte.
»Ah, jetzt hat’s geklappt«, sagte dieselbe weibliche Stimme wie eben. »Ist da Alma?«
»Äh, ja.« Alma brauchte noch eine Sekunde, bis sie sich wieder gefasst hatte.
»Toll! Hier ist Annegret.«
Die Frau schwieg, und ihr Schweigen wirkte, als müsste Alma wissen, um wen es sich handelte. Tat sie aber nicht.
»Aha«, sagte sie nur.
»Ach, entschuldige. Ich bin ein wenig kopflos heute, ich bin Noas Mutter.«
»Oh.«
Oh.
Oh nein.
Wenn ihr eins ungelegener kam als ihr neuer Freund vom Bezirksamt Mitte, dann noch mehr Anhängsel einer Familie, nach der sie nicht gefragt hatte. Aber nun ja, das Leben war nun mal kein Ponyhof.
»Gut, du weißt also, wen ich meine. Dann hat meine Tochter die Wahrheit gesagt und ist wirklich bei dir untergetaucht.«
»Also untergetaucht weiß ich jetzt nicht«, antwortete Alma, weil ihr nichts Besseres einfiel.
»Wie würdest du es denn sonst nennen?«
»Äh, ich weiß nicht.«
»Na, ist ja auch egal. Viel wichtiger ist die Frage: Geht es meiner Tochter gut?«
Alma war überrascht, wie leichtfüßig Annegret klang.
»Ja, Noa geht es gut. Ehrlich gesagt, hat sie mich mit ihrem Besuch ganz schön überrascht.«
Und ihrer ganzen Existenz, fügte sie gedanklich hinzu.
»Ja, das sieht ihr ähnlich. Sie ist eher so der Typ Tür ins Haus, friss oder stirb .«
»Den Eindruck habe ich auch.«
»Jedenfalls hat sie kaum auf meine Nachrichten reagiert, nachdem sie einfach verschwunden war. Sie hat nur einen Zettel auf dem Wohnzimmertisch zurückgelassen.«
Nun klang Annegret doch etwas schwermütiger. Dieser Moment, als sie den Zettel fand, musste ein großer Schock für Annegret gewesen sein.
»Deshalb wollte ich mal anrufen und dich fragen, ob wirklich alles in Ordnung ist mit Noa.«
»Ob das so ist, weiß ich ehrlich gesagt nicht. Also, es geht ihr natürlich gut. Aber sie ist schon komisch drauf, und es gibt irgendwas, was sie beschäftigt.«
»Mhm«, machte Annegret nur und schwieg für einen Moment.
»Ich habe Noa ihre Schulaufgaben per Mail geschickt«, sprach sie dann weiter. »Ich bin wirklich verständnisvoll, vielleicht zu sehr. Nichtsdestotrotz hat sie im Mai Abschlussprüfungen, und ich will nicht, dass sie einen schlechten Abschluss riskiert. Und sie will das sicher auch nicht. Wie gesagt, ich habe ihr alles, was sie braucht, per Mail geschickt. Könntest du bitte ein Auge darauf haben, dass sie die Aufgaben auch wirklich macht?«
Alma stutzte. Obwohl sie nicht um Noas Auftauchen gebeten hatte, hatte sie bei ihr Unterschlupf gefunden. Nun sollte sie auch noch erzieherische Maßnahmen ergreifen? Sie hatte doch mit dem Dear Dairy schon genug zu tun. Von der kleinen Fehde mit Golo mal ganz zu schweigen. Doch konnte sie das wirklich zu einer Mutter sagen, deren Tochter von zu Hause abgehauen war?
»Ich gebe mein Bestes«, sagte Alma, und das war das Ehrlichste, was sie auf die Bitte antworten konnte. »Noa hat sich außerdem mit meinem Nachbarn angefreundet und verbringt recht viel Zeit in seiner Werkstatt. Ich kann ihn auch bitten, das Thema auf dem Schirm zu haben.«
»Oh … äh, ja klar, gerne.« Das Stocken in Annegrets Antwort war deutlich zu hören.
»Keine Sorge«, schob Alma schnell hinterher. »Golo hat seine Werkstatt Tür an Tür mit meinem Restaurant. Noa ist also keine zehn Meter entfernt.«
»Ach, ich mach mir keine Sorgen. Ich war nur überrascht, dass Noa direkt neue Freunde gefunden zu haben scheint. Und dann auch noch Erwachsene! Die meidet sie eigentlich wie die Pest.«
»Du machst dir wirklich keine Sorgen? Dabei kennst du mich doch gar nicht.« Alma war zu überrascht über Annegrets Aussage, um ihre Worte mit Bedacht zu wählen.
Annegret lachte. »Du bist ihre Schwester, Alma. Auch wenn ihr euch bisher nicht kanntet, vertraue ich auf die natürliche Bande zwischen euch. Und auch darauf, dass Noa längst wieder hier gewesen wäre, wenn du dich als schrecklicher Mensch entpuppt hättest.«
Wenn sie wüsste, dachte Alma nur. Das behielt sie aber lieber für sich.
»Wieso ist Noa eigentlich abgehauen?«, fragte sie stattdessen.
Annegret seufzte. »Ich weiß es nicht. Sie hatte die letzten Tage hier eine Gewitterwolke über sich, ganz untypisch für sie. Sie wollte einfach nicht damit rausrücken, was ihr so zusetzte. Dem muss ich mich aber einfach fügen, denn in Sachen Sturheit kommt sie ganz nach ihrem Vater. Und wenn sie nicht will, dann will sie nicht.«
***
»Hallo, Mama«, sagte Alma, nachdem Loretta nicht auf das kleine Glöckchen reagierte, das sie eigentlich darauf aufmerksam machen sollte, wenn neue Kunden ihren Laden betraten. Mit mäßigem Erfolg, wie sich zeigte. Loretta, die bis eben mit dem Rücken zum Eingang gestanden hatte, drehte sich überrascht um.
»Was machst du denn hier?«
»Ich freue mich auch, dich zu sehen«, antwortete Alma trocken und begrüßte ihre Mutter mit zwei Wangenküssen.
»Ja, ich mich natürlich auch«, tat Loretta ihren Fauxpas ab und tätschelte ihrer Tochter den Kopf. »Aber ganz ehrlich: Was machst du hier?«
Alma schlenderte durch den kleinen Laden. Rechts und links des Mittelgangs zweigten je zwei schmalere Gänge ab. Die kleine Fläche des Ladens hatte Loretta maximal ausgeschöpft. In den Regalen standen Oliven, Öle, Pasta, Pasteten, Weine, Biere und verschiedene Bitters und Alkoholika – eben alles, was das Feinkostherz höherschlagen ließ. Der Verkaufstresen war gleichzeitig auch die Kühltheke, in der verschiedene Wurst- und Käsesorten lagen, ebenso wie Tramezzini, Sandwiches und wechselnde Tagesgerichte. Alma konnte jedes Mal schwach werden, wenn sie durch den Laden ihrer Mutter lief. Im Alltag fehlten ihr tierische Lebensmittel gar nicht, aber hier – das war wirklich schwer. Sie schlüpfte hinter den Verkaufstresen und hantierte an der Kaffeemaschine herum. Die Liebe zu dem Getränk hatte sie eindeutig von ihrer Mutter geerbt, denn in Lorettas kleinem Feinkostgeschäft mitten in Stade gab es vermutlich den besten Espresso nördlich von Mailand. Für die ihr bevorstehende Unterhaltung brauchte sie einen, zumindest um sich an der kleinen braunen Tasse festhalten zu können. Denn das Telefonat eben hatte sie nicht losgelassen.
Dabei ging es ihr gar nicht um etwas Spezifisches, das Annegret gesagt hatte. Vielmehr beschäftigte Alma der Fakt, dass Annegret nun auch in ihrem Leben war. Wie Noa. Da kam eine ganze Familie dazu, von der sie nichts gewusst hatte. Weil es diese eine Person gab, von der sie nichts wissen wollte: ihrem Vater. Doch war es wirklich ihre eigene, persönliche Überzeugung, ihren Vater aus ihrem Leben ausklammern zu wollen? Oder war sie nur der Haltung ihrer Mutter gefolgt? Natürlich war sie das, immerhin lebte man als Tochter der eigenen Mutter nach. Doch auch nur bis zu einem gewissen Alter, mit dem Erwachsenwerden nabelte man sich ab – nicht nur räumlich, sondern eben auch persönlich. Und Alma war in den vergangenen Jahren definitiv ihr eigener Mensch geworden. Doch sie hatte sich nie gefragt, ob sie nicht doch Kontakt zu ihrem Vater wollte. Unabhängig davon, wie Lorettas Meinung dazu aussah.
»Ich muss mit dir reden«, sagte sie und ließ zwei Espressi aus der Maschine laufen. Loretta, die wieder damit begonnen hatte, die neu eingetroffenen Olivenöle ins Regal zu räumen, unterbrach ihre Tätigkeit.
»Aha«, sagte sie. Es war eines dieser lang gezogenen Ahaaaaas, die Mütter gerne anwendeten, wenn sie genau wussten, dass es nun unangenehm für sie werden würde. Dieses Aha sollte das aufbegehrende Kind ins Wanken bringen. Drei kleine Buchstaben, die nicht nur ein Mal dafür gesorgt hatten, dass Autoritätsgefälle nicht missachtet und Revolten doch nicht durchgeführt wurden. Zumindest bei Alma. Auch jetzt durchzuckte sie kurz die Angst. Aber ich bin erwachsen, dachte Alma und drehte sich mit den beiden Tassen zu Loretta um, die an den Tresen gekommen war.
»Es geht um Filipe«, setzte Alma an.
»Ach bitte, Alma, nicht schon wieder!«
Ja, das hatte sie geahnt, Loretta würde niemals einfach klein beigeben. Schon gar nicht, wenn es um ihn ging.
»Doch, Mama, schon wieder. Und zwar so oft, bis du endlich mit mir redest!«
Alma wusste nicht, wer erschrockener war: sie, die gerade laut geworden war, oder ihre Mutter, die es nicht kannte, dass ihre Tochter ihre Stimme gegen sie erhob.
Loretta riss die Arme in die Luft und machte ein verzweifeltes Gesicht. »Siehst du! Er treibt einen Keil zwischen uns, ganz ohne, dass er etwas dafür tun muss. Deshalb rede ich nicht über ihn!«
»Oder du treibst einen Keil zwischen uns, weil du nicht über ihn redest!« Genervt massierte sich Alma die Nasenwurzel. Sie schlug einen versöhnlicheren Ton an. »Ich habe aber Fragen, Mama. Und die verschwinden nicht, nur weil du sie ignorierst. Ich werde sie immer und immer wieder stellen, so lange, bis du mir antwortest.«
Loretta stürzte ihren Espresso hinunter, ging zurück an das Regal, an dem sie bis eben gearbeitet hatte, und setzte ihre Tätigkeit fort.
»Dann stell halt deine Fragen«, sagte sie, allerdings ohne sich zu ihrer Tochter umzudrehen. Ihre Stimme klang hoch, fast schon schrill, und es war klar, dass der Inhalt ihrer Aufforderung nicht ihrem eigentlichen Wunsch entsprach. Aber wenn Noa, die nach Annegrets Aussage ja den Dickschädel ihres Vaters geerbt hatte, schon mit dem Kopf durch die Wand lebte, was sollte man dann von einem Kind erwarten, dass sowohl einen dickschädeligen Vater als auch eine äußerst sturköpfige Mutter hatte?
»Wusstest du von Annegret und Noa?«, fragte Alma direkt.
»Von wem?«
Alma verdrehte die Augen. »Von Noa, Mama, meiner Schwester.«
»Halbschwester.«
»Mama!«
»Was denn? Ich sag ja nur.«
Alma sah nur die zuckenden Schultern ihrer Mutter. Genau, ganz nonchalant, es war ja auch total egal. Loretta hatte ein paar Sätze und Ausdrücke in petto, die Almas Puls sofort in die Höhe schnellen ließen. Der zweite des heutigen Tages war Ich sag ja nur .
»Dann sag halt bitte auch.«
Alma atmete tief durch und versuchte, nicht nur ihren Herzschlag wieder unter Kontrolle zu bringen, sondern auch sich selbst. Sie wollte nicht, dass diese Unterhaltung eskalierte, und die Verantwortung dafür lag alleine auf ihren Schultern. Denn ihre Mutter würde sich nicht zurückhalten oder versöhnlich zeigen. Das tat sie nie.
Loretta schob noch eine Weile Olivenöl geräuschvoll von einer Seite zur anderen, bis sie endlich innehielt. »Ja, ich wusste von ihnen«, sagte sie leise. Alma spürte den Kloß, der sich augenblicklich in ihrem Hals gebildet hatte, ganz deutlich.
»Woher?«, flüsterte sie, als sich erste Tropfen aus ihrem Tränenkanal drückten.
»Ein paar Jahre, nachdem er uns verlassen hatte, habe ich ihn besucht. Das war dumm, ich weiß. Aber ich habe ihn vermisst, und ich dachte, vielleicht, wenn ich vor ihm stehe, wenn er mich sieht, dann wird ihm wieder klar, dass er eigentlich bei mir sein will. Doch dann erzählte er mir von dieser Frau namens Annegret, die auch eine kleine Tochter von ihm hatte und wie stolz er auf sich war, dass er bei ihr von Anfang an mit offenen Karten gespielt hatte, weil er sie eben nicht auf die gleiche Art verletzen wollte wie mich. Du musst verstehen, Alma, ich hätte nicht gedacht, dass er mich nach all den Jahren noch so verletzen konnte. Aber er konnte. Mein Herz, das eh schon gebrochen war, zersplitterte in tausend Teile, und die Tür, die ich einen kleinen Spalt für ihn geöffnet hatte, schloss sich für immer.«
Alma schluckte. »Und dir ist nie in den Sinn gekommen, dass es für mich vielleicht wichtig gewesen wäre, zu wissen, dass ich eine kleine Schwester habe?«
»Alma, es geht nicht immer um dich.«
»Das stimmt«, antwortete Alma, und es kostete sie alle Kraft, dass ihre Stimme nicht brach. »Aber jetzt gerade schon. Du hast kein Recht gehabt, mir das vorzuenthalten, denn es geht hier um meine Schwester. Und nicht um deine oder dich oder die Tatsache, dass du nie über Filipe hinweggekommen bist. Dein Schmerz tut mir leid, Mama, aber noch mehr tut mir für mich leid, dass du mir diese Möglichkeit weggenommen hast. Denn ich hätte gerne früher von Noa erfahren, und ich hätte gerne für mich selbst entschieden, wie ich damit umgehe, dass ich eine Schwester habe. Das hattest du nicht zu entscheiden.«
Alma wartete ab, doch ihre Mutter reagierte nicht.
»Gut«, sagte sie dann traurig. »Ich gehe jetzt. Und ich denke, es ist besser, wir hören uns ein paar Tage nicht. Ich muss das erst mal verarbeiten, dass du auch jetzt lieber schweigst, als mit mir zu sprechen.«
Alma kam hinter dem Tresen hervor und lief zum Ausgang. Sie warf einen letzten hoffnungsvollen Blick zurück, doch ihre Mutter glich einer Statue. Sie seufzte, und die Glocke bimmelte hell, als sie die Ladentür aufdrückte.
»Es tut mir leid«, hörte sie da kaum vernehmbar die Stimme ihrer Mutter. Sie drehte sich um und sah echtes Bedauern in Lorettas Gesicht.
»Ich weiß, Mama. Mir auch.«