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Alma schob den Schlüssel ins Schloss. Alles, was sie jetzt noch wollte, waren ein Glas Wein und ihr Sofa. Ach nein, da lag ja Noa. Dann eben ihr Bett oder irgendeine andere gepolsterte Unterlage. Alma konnte nicht mehr. Sie öffnete die Tür, schmiss ihren Rucksack und ihre Jacke auf ihr Bett und ging zielstrebig Richtung Küche.

»Hallo, ich bin wieder da«, rief sie Richtung Wohnzimmer. Merkwürdig, die Wohnzimmertür war zu. Noa schloss die Tür nie, sogar nachts, wenn sie schlief, blieb sie mindestens einen Spaltbreit offen. Es kam kein Gruß zurück. Noa war aber zu Hause, das zumindest ließ das Licht vermuten, das unter dem Türspalt durchschien. Alma schenkte sich ein großzügiges Glas Wein ein und ging zu besagter Tür. Vorsichtig klopfte sie an. Vielleicht war Noa eingeschlafen, das wäre eine Erklärung. Statt eines Herein hörte sie nur undefinierbares Gemurmel. Alma klopfte erneut.

»Noa, bist du da? Ist alles in Ordnung?«

Allmählich erkannte sie, dass es sich bei dem Gemurmel eher um ein Wimmern handelte. Ja, Noa wimmerte eindeutig. Alma öffnete vorsichtig die Tür. Das Mädchen lag zusammengerollt auf dem Schlafsofa und unter der Decke begraben. Sie hatte sich auf die Seite gedreht wie ein Embryo und machte ein schmerzverzerrtes Gesicht. Mit schnellen Schritten war Alma beim Sofa und setzte sich vorsichtig auf die Kante.

»Noa, was ist denn los?«, fragte sie besorgt, denn Noa sah wirklich beschissen aus. Alma strich ihr vorsichtig die Haare aus dem Gesicht. Die Stirn der Kleinen war ganz nass und kalt. Scheiße, hatte sie sich irgendwas eingefangen? Noa wimmerte immer noch leise, und Tränen liefen aus ihren geschlossenen Augen.

»Hey«, sagte Alma leise und strich ihr über die Schulter. »Was ist denn los?«

»Ich hab solche Krämpfe«, weinte Noa, ohne die Augen zu öffnen.

Jetzt erst sah Alma, dass Noa sich eines der Kissen fest vor den Bauch gepresst hatte.

»Deine Periode?«, fragte Alma, die diesen ganz besonderen Schmerz auch nur zu gut kannte. Doch Noa schüttelte den Kopf.

»Hast du etwas gegessen, das du nicht verträgst? Das kann auch mehr als schmerzhaft sein.«

Doch wieder verneinte sie.

»Okay, ich mach dir erst mal einen Tee«, sagte Alma, als Noa offensichtlich von einer neuen Welle Krämpfe überrollt wurde und aufheulte wie ein leidender Hund. »Wir bekommen das hin!«

Sie stand auf und ging in die Küche, um das Wasser aufzusetzen. Würden sie das wirklich? Alma hatte keine Ahnung, was Noa so plagte. Und auch nicht, was sie so umtrieb. Sie war rastlos, lief die ganze Zeit in ihrer Küche auf und ab, während sie darauf wartete, dass das Wasser endlich kochte. Ihre Gedanken kreisten um Noa, die nur wenige Meter entfernt auf dem Sofa lag. Fühlte es sich etwa so an, wenn man sich um jemanden sorgte? Das war ja ätzend!

Doch die Erkenntnis änderte nichts an Almas Gemütsverfassung. Was, wenn es Noa nicht bald besser ging? Sollte sie mit ihr besser in die Notaufnahme? Oh Gott, was war, wenn sie etwas Lebensgefährliches hatte? Alma zog ihr Handy aus der Hosentasche ihrer Jeans. Welche Nummer wählte man da jetzt? Während sie noch abwägte, ob sie wohl eher die 110 , die 112 oder doch erst mal die 116  117 rufen sollte, drängte sich ein anderer Gedanke in ihr Bewusstsein. Und wenn Noa nachher doch nur ein Problem mit der Verdauung hatte? Dann hätte sie einen Krankenwagen gerufen wegen eines festsitzenden Furzes. Woher wusste man denn, ob es sich um einen Notfall handelte oder nicht?

Wie von selbst wählten Almas Finger die einzige Nummer, von der sie sicher wusste, dass es richtig war, sie anzurufen. Alma schickte ein kleines Stoßgebet gen Küchendecke, dass sie noch nicht schlief.

***

Hatun klingelte keine fünfzehn Minuten später an der Tür.

»Danke, dass du so schnell gekommen bist.« Aus Alma sprach die geballte Erleichterung. Denn, da musste sie ehrlich sein, sie war einfach überfordert mit der Situation.

»Natürlich«, antwortete Hatun und umarmte Alma flüchtig. Sie trug ein Ensemble aus Jogginghose und Hoodie, beides im selben Ockerton. Und obwohl sie kein Make-up trug und ihre Haare zu einem unordentlichen Dutt auf dem Kopf zusammengefasst waren, strahlte sie eine gewisse Eleganz aus. Hatun hatte das einfach , wie Alma immer wieder beeindruckt feststellte.

»Wo ist denn die Patientin?«, fragte sie dann und marschierte schon los ins Wohnzimmer. So viel Auswahl gab es in der kleinen Zweizimmerwohnung schließlich nicht. Alma folgte Hatun und blieb aber im Türrahmen stehen, während ihre Freundin sich zu Noa aufs Sofa setzte. Sie streichelte ihr sanft über den Kopf.

»Hey, Süße«, flüsterte sie. »Jetzt erzähl mal, was hast du denn?«

»Mein Bauch tut so weh«, jammerte Noa, und ihr liefen immer weiter die Tränen die Wangen herunter.

»Hast du Durchfall?«, fragte Hatun ganz sachlich. Noa schüttelte den Kopf.

»Wann warst du das letzte Mal auf dem Klo?«

Noa musste einen Moment überlegen. »Groß, meinst du? Gestern Morgen.«

»Und hast du irgendwas gegessen, was du sonst nicht isst? Oder das vielleicht nicht mehr gut war?«

Wie schon auf Almas Frage reagierte Noa wieder mit einem Kopfschütteln.

»Und Periode ist es vermutlich auch nicht«, mutmaßte Hatun.

»Nein, das hatte ich sie vorhin auch schon gefragt«, meldete sich Alma vom Türrahmen aus. Sie hatte das Gefühl, irgendwas beitragen zu müssen. Ob es wirklich um den Input ging oder darum, sich nicht mehr ganz so hilf- und nutzlos zu fühlen, wusste Alma selbst nicht.

»Alma, was hältst du davon, uns einen Tee zu machen?«, schlug Hatun vor, und es war klar, dass das nicht nur ein Vorschlag war, sondern eine recht deutliche Aufforderung. Bevor Alma argumentieren konnte, dass Noa doch noch eine dampfende Tasse neben sich stehen hatte, fügte Hatun ein Bitte hinzu, und Alma gab sich geschlagen.

Um sich irgendwie beschäftigt zu halten, räumte Alma die Gläser aus dem Regal und wischte das Brett gerade mit einem nassen Lappen ab, als sie hörte, wie die Wohnzimmertür leise geschlossen wurde und Hatun in die Küche kam.

»Und?«, fragte Alma und sah Hatun mit großen Augen an. Diese lachte. »Alma, ich bin keine Ärztin.«

»Ich weiß, ich weiß. Aber du hast jüngere Cousinen und Cousins, du kennst dich mit Kindern aus!«

»Das stimmt«, meinte Hatun. »Ich glaube nicht, dass Noa etwas Schlimmes hat. Viel eher glaube ich, dass ihre Bauchschmerzen psychosomatisch sind.«

»Sie bildet sie sich ein?«, fragte Alma erstaunt.

»Nein, das auch nicht. Aber dieses Problem oder Geheimnis, das sie mit sich herumschleppt und vor allem in sich reinfrisst, schlägt ihr wortwörtlich auf den Magen.«

»Hat sie dir gesagt, was es ist?«

Hatun schüttelte den Kopf, und ihre losen Haarsträhnen wippten noch etwas nach.

»Ich habe ihr angeboten, dass sie es mir natürlich erzählen kann. Aber sie wollte nicht. Ich habe ihr erklärt, dass die Bauchschmerzen mit Sicherheit weggehen, wenn sie endlich mit irgendjemandem spricht.«

Alma zog die Teebeutel aus den beiden Tassen auf der Arbeitsfläche. Der Kräutertee war nun zehn Minuten gezogen. Dann reichte sie Hatun eine Tasse.

»Und wird sie es tun?«

Hatun seufzte und pustete in ihren Tee. »Ich hoffe es. Jetzt schläft sie aber erst mal.«

»Das ist gut«, sagte Alma und schaute ihre Freundin an. »Danke, dass du da bist.«

»Aber natürlich!« Hatun lächelte sie an und kniff dann leicht die Augen zusammen. »Du siehst aber auch so aus, als hättest du heute einen anstrengenden Tag gehabt.«

»Das kann man wohl sagen«, pflichtete Alma ihr bei.

»Willst du drüber sprechen?«, fragte Hatun.

»Muss ich wohl, wenn ich nicht enden will wie Noa.« Sie seufzte. »Ich habe heute mit ihrer Mutter gesprochen.«

»Deiner Mutter?«, fragte Hatun nach, die sie offenbar missverstanden hatte.

Alma schnaubte trocken auf. »Ja, mit der auch. Aber auch mit Annegret, Noas Mutter.«

»Oh«, machte Hatun nur.

»Ja, oh«, pflichtete Alma ihr bei. »Sie hat im Restaurant angerufen und wollte sich nach Noa erkundigen. Sie weiß auch nicht, was mit ihr los ist. Aber sie meinte, dass sie nun mal ein Sturkopf sei wie ihr Vater.«

»Euer Vater«, sagte Hatun behutsam, und Alma nickte.

»Danach bin ich nach Stade gefahren, weil mir das Thema keine Ruhe gelassen hat und meine Mutter am Telefon ja nicht gerade sehr auskunftsfreudig ist.«

»Und hat es etwas gebracht?«

»Ja«, nickte Alma. »Erst wollte sie nicht mit der Sprache rausrücken. Aber schlussendlich hat sie zugegeben, dass sie von Annegret und Noa wusste. Und zwar schon seit einigen Jahren.«

»Oh Alma, das tut mir leid«, sagte Hatun, stellte ihre Tasse ab und umarmte ihre Freundin ganz fest. Alma erlaubte es sich, die Umarmung für einen Moment anzunehmen und sich fallen zu lassen, bevor sie ein Danke in Hatuns Armbeuge murmelte und sich aus der Umklammerung löste. Doch Hatun war noch nicht fertig mit ihrer Fürsorge. »Wie geht es dir damit?«

Alma setzte an, um auf die Frage zu antworten, verstummte aber gleich wieder. Sie hatte keine Ahnung, wie es ihr damit ging. Natürlich, sie hatte Loretta gesagt, dass sie erst mal eine Pause bräuchte, um alles zu verarbeiten. Aber viel weiter als das hatte sie noch nicht gedacht. Sie ließ Hatun an diesen Gedanken teilhaben, die wiederum nur den Kopf schüttelte.

»Ei, ei, ei. Ganz schön viel Wirbel um einen Mann, der nie da war«, sagte sie, und Alma konnte ihr da nur zustimmen. »Die Möglichkeit, dass du wieder Kontakt mit ihm aufnehmen oder ihn sehen könntest, ist so greifbar wie lange nicht mehr. Würdest du das denn wollen?«

Alma blickte ihre Freundin verwirrt an. So hatte sie das noch gar nicht gesehen. »Ich habe keine Ahnung, Hatun«, seufzte sie dann. »Wirklich nicht. Es passiert gerade so viel und natürlich alles gleichzeitig. Wie soll ich denn da solche Entscheidungen treffen, wenn ich doch nur damit beschäftigt bin, nicht von dieser Flut weggespült zu werden?«

»Also, entscheiden musst du jetzt ja gar nichts«, sagte Hatun aufmunternd. »Höchstens, ob wir noch eine Tasse Tee trinken oder doch lieber zum Wein greifen.«

Alma lachte dankbar auf. Dankbar für ihre Freundin und dankbar für deren feines Gespür, das genau erkannt hatte, dass Alma keine Kraft mehr hatte, über Noa, ihre Mutter oder Filipe zu sprechen oder auch nur nachzudenken. Zumindest für heute.