Er befürchtete schon, Alma wäre doch wieder zurückgekommen, als er die Tür hörte. Aber als er von seiner Werkbank aufsah, stellte Golo erleichtert fest, dass Noa vor ihm stand.
»Du bist ihr heute also auch begegnet«, sagte Noa trocken und ließ sich auf das Sofa fallen.
»Kann man wohl sagen.« Golo beugte sich über das Werkstück, vor dem er wieder mal seit einer gefühlten Ewigkeit ideenlos saß. »Ein Alma-Sturm in Stärke zehn auf der Richterskala rauschte vor nicht allzu langer Zeit durch diese heiligen Hallen.«
»Ich hatte ihr nur davon erzählt, dass ich dir hier zur Hand gehen kann.« Noa verdrehte die Augen.
»Nur?«, lachte Golo. »Sie mag mich nicht. Manchmal glaube ich sogar, dass sie mich hasst, obwohl es dann auch wieder Momente gibt, in denen … na ja, egal. Ich habe wirklich keine Ahnung, wieso sie sich so viel Mühe gibt, mich nicht zu mögen.«
»Vielleicht weil du mit Leder arbeitest?«, meinte Noa.
Golo weigerte sich vehement dagegen, diesen Grund anzunehmen. Sein Beruf konnte doch nicht Auslöser dafür sein, dass seine gesamte Person in Verruf geriet. Er war ja nicht Jeff Bezos.
»Das kann doch nicht alles sein. Ich meine, ist es so, dass wir in komplett konträren Bereichen arbeiten? Ja. Driften wir dadurch moralisch ebenso weit auseinander? Nein. Immerhin sind sowohl Alma als auch ich um nachhaltiges Handeln bemüht, eben jeder in seinem Wirkungsfeld und unter seinen eigenen Voraussetzungen. Eigentlich sitzen wir also im selben Boot, und wenn wir jetzt einmal davon ausgehen, dass sie mich wirklich nur so scheiße findet, weil ich Sattler bin, müsste sie mich ja unendlich toll finden, sobald sie einsieht, dass wir die gleichen moralischen Ansprüche haben.«
»Wie meinst du das?«, fragte Noa. Irgendwo auf dem Weg zum Ende dieses Gedankens hatte sie wohl den Faden verloren.
»Na, dass wir nach denselben Prinzipien handeln.«
»Aha. Dann sag ihr das doch.«
Golo war aufgestanden und hatte sich zu Noa in die Sitzecke gesetzt. »Ha.« Er lachte auf. »Spinnst du? Ich begebe mich doch nicht freiwillig in die Höhle der Löwin und belehre sie darüber, wie wir doch eigentlich auf derselben Seite stehen, nachdem sie mich heute dafür angeschissen hat, dass du gerne deine Zeit hier verbringen willst. Glaub mir, da haben wir noch einen langen Weg vor uns. Aber«, er lehnte sich vor und funkelte Noa verschwörerisch an, »wir werden ihn meistern.«
Er klang siegessicher, und er war es auch. Denn was Alma nicht bedachte, war, dass er sie immer interessanter, schöner, großartiger und inspirierender fand, je öfter sie wutschnaubend vor ihm stand. Mit jedem genervten Blick aus diesen großen braunen Augen schraubte sie sich tiefer in sein Herz. Er konnte es sich nicht erklären, und er konnte es nicht verändern, also wehrte er sich auch nicht dagegen.
»Was hat es damit auf sich?«, fragte er Noa und deutete auf die losen Blätter, die neben ihr auf dem Sofa lagen. Sie hatten Knickstellen, und die Ränder waren teilweise eingerissen. Sie sahen aus, als hätten sie mit Indiana Jones die größten Abenteuer erlebt und diese nur ziemlich lädiert überstanden.
»Das sind meine Schulaufgaben. Nachdem Alma vorhin abgedüst ist, habe ich mich und meine Sachen auch lieber schnell hier in Sicherheit gebracht. Meine Mutter hat sie geschickt, damit ich nicht zu viel vom Unterricht verpasse. Ich mache im Sommer ja meinen Abschluss. Eigentlich.«
»Brauchst du Hilfe dabei?«, fragte Golo und nickte in Richtung der Blätter.
»Das wäre toll. Also, nur wenn ich welche brauche. Ich bin ziemlich gut in der Schule.« Der Stolz war ihr anzuhören. »Ich dachte, wenn ich nachmittags eh im Restaurant an meinen Aufgaben arbeite und mal nicht weiterweiß, kann ich einfach kurz rüberkommen und dich fragen.«
»Und damit riskieren, dass ein Alma-Sturm losbricht?«
Noa lachte auf. »Ich bin mir sicher, das wird nicht passieren. Zumindest nicht, wenn ich ihr sage, dass die Alternative ist, dass ich sie dann damit nerven muss.«
Golo schüttelte belustigt den Kopf. »Noa, meinen größten Respekt – du hast diese Frau wirklich ziemlich schnell durchschaut.«
Noa stand auf und verbeugte sich tief. »Vielen Dank.«
»Wie gefällt dir die Farbe Dunkelrot?«, wechselte Golo das Thema. Er stand ebenfalls auf und ging zu seiner Werkbank. Noa folgte ihm.
»Diese?«, fragte sie und zeigte auf den Lederlappen, der auf der Arbeitsfläche lag. Golo nickte. Noa legte den Kopf schief und schien darüber nachzudenken, ob ihr die Farbe gefiel oder nicht. Dann nahm sie das Leder in die Hand und hielt es ins Licht.
»Ja, doch, sie gefällt mir«, sagte sie, nachdem sie die Farbe eingehend betrachtet hatte.
»Du triffst keine leichtfertigen Entscheidungen, mh?«
Golo meinte es als Scherz, doch für den Bruchteil einer Sekunde verdunkelte sich Noas Miene.
»Willst du mir den Lederfetzen etwa schenken?« Sie blieb ihm eine Antwort schuldig, doch auch er war ganz gut darin, andere zu durchschauen.
»Fast. Was hältst du davon, wenn daraus eine Mappe für deine Arbeitsblätter wird? Damit die nicht mehr so lose rumfliegen.«
Noa quietschte und klatschte vor Freude in die Hände. »Das würdest du für mich machen?«
Sie strahlte Golo an, doch der schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er und freute sich diebisch darüber, wie Noa versuchte, ihre Enttäuschung zu verbergen. »Du machst das. Das wird dein erstes Werkstück.«
»Was?«, rief die Teenagerin nun erfreut aus und fiel Golo um den Hals. »Vielen, vielen Dank, ich habe so Lust, das auszuprobieren!«
Golo lachte und klopfte ihr freundschaftlich auf den Rücken. »Ich danke dir, dass ich endlich eine Idee habe, was ich aus diesem Stück machen will. Beziehungsweise jetzt eben du.«
Noa löste sich wieder aus der Umarmung. »Das ist echt die beste Überraschung des Tages!«
»Glaubst du, deine Schwester mag auch Überraschungen?«, fragte Golo. Eine Idee, wie man die Konzepte Leder und vegan zusammenbringen konnte, keimte gerade in seinem Kopf.
»Sprechen wir über dieselbe Person?«, konterte Noa zynisch.
»Touché. Ich denke, ich mache es trotzdem.«
»Was willst du machen?« Noa klang neugierig.
»Na, die Überraschung.«
»Ja, das ist mir schon klar. Aber was ist es?«
»Das verrate ich nicht.« Golo grinste verschwörerisch.
»He, das ist nicht fair«, protestierte Noa. »Wir haben keine Geheimnisse!«
»Aber du hast doch auch eins.« Golo schlug nun einen ruhigeren, vertraulichen Ton an.
Noa nahm wieder das Stück Leder in die Hand und rieb es zwischen ihren Fingern.
»Noa, wieso meintest du vorhin, dass du eigentlich im Sommer die Mittlere Reife machst?«
Das Mädchen zuckte mit den Schultern.
»Willst du denn nicht endlich über das sprechen, was du die ganze Zeit mit dir rumträgst?«
Sie nickte leicht, und Golo sah, wie ihr Tränen übers Gesicht liefen. Er schob sie zurück in Richtung der Sitzecke. Noa setzte sich aufs Sofa und er sich auf den Sessel daneben.
»Kannst du mich in den Arm nehmen?«, fragte Noa, und all ihre Coolness und pubertäre Überheblichkeit waren verschwunden. Auf dem Sofa saß ein kleines Mädchen, das unfassbare Angst vor etwas hatte.
»Natürlich«, antwortete Golo und setzte sich neben sie. Er legte ihr den Arm um die Schulter und drückte diese aufmunternd.
»Ich bin hier«, sagte er leise. »Und ich bleibe hier, egal, was es ist.«
Noa schniefte laut und lehnte den Kopf gegen Golo. Ob es sich wohl so anfühlte, eine kleine Schwester zu haben, fragte er sich, als Noa begann.
»Es gibt einen Grund, weshalb ich im Sommer vielleicht nicht an den Prüfungen teilnehmen kann.«
Und während Noa sprach, wuchs in Golo die Gewissheit, dass es sich genau so anfühlte und dass er für Noa da sein würde – komme, was wolle.