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Die Redakteurin war natürlich schon da, als Alma von Golo zurückkam. »Claire«, stellte sie sich vor und wirkte so gelangweilt, dass Alma sie sofort unsympathisch fand. Claire  – Alma kam nicht umhin, ihren Namen in Gedanken immer betont in die Länge zu ziehen – konnte kaum älter als Anfang zwanzig sein. Ihre haselnussbraunen Haare fielen in perfekten Wellen über ihre Schultern und harmonierten mit dem goldenen Teint, den sie sich hoffentlich aufs Gesicht geschminkt hatte. Nicht auszudenken, sie würde von Natur aus mit so einem Glow durchs Leben gehen. Alma hatte auch Glow, in ihrem Fall waren das aber feine Schweißperlen, die sich über ihrer Oberlippe bildeten. Direkt neben dem Stresspickel, mit dem sie heute Morgen aufgewacht war. Almas Haare waren auch wellig, nur ergossen sie sich nicht fließend über ihre Schultern, sondern standen fedrig in alle Richtungen ab. Und kein Concealer wäre ihren Augenringen gewachsen.

Alma hatte kein Problem mit ihrem Aussehen, und sie wusste, dass sie sich aktuell keine Mühe damit gab. Aber sie wusste auch, wieso das so war, immerhin gab es ihr Restaurant, da blieb keine Zeit für Wimperntusche und Rundbürste jeden Morgen. Doch immer, wenn eine solch perfekt inszenierte Schönheit vor ihr stand wie Claire , wurde Alma ihr eigener ästhetischer Zustand bewusst. Aber gut, dachte Alma, während die Redakteurin vor ihr heute Morgen Stunden vorm Spiegel verbracht hatte, hatte Alma schon um sechs Uhr in der Küche gestanden und seitdem Vorbereitungen, einen Mittagstisch und den erbarmungslosen Verrat Golos hinter sich gebracht. Ihre Haare durften also wild aussehen. Außerdem ging es hier um Inhaltliches, und darauf war Alma natürlich bestens vorbereitet. Das glaubte sie zumindest, bis sie Claire dabei zusah, wie diese ein kleines Stativ aus ihrer Handtasche holte und ihr Smartphone daran befestigte.

»Was wird das?«, fragte Alma.

»Unser Interview.« Claire strahlte sie an und entblößte eine Reihe perfekter weißer Zähne.

»Ich dachte, wir machen das mit Stift und Papier?«

»Oh nein, das war Gott sei Dank vor meiner Zeit. Das wäre ja richtig viel Arbeit.« Claire lachte auf. »Ich begleite dich ein wenig mit der Kamera, und nachher schneide ich einen Beitrag daraus. Wir sind ja hauptsächlich auf Social Media unterwegs, da braucht man einfach Bewegtbild.«

»Äh, ja klar«, antwortete Alma und versuchte unauffällig, an ihrem Äußeren zu retten, was es zu retten gab. Viel war das nicht.

Das Stadtmagazin, für das Claire arbeitete, informierte seine Leserschaft über die besten, neuesten oder hipsten Cafés, Restaurants, Bars und darüber, was in der Stadt so passierte. Claire machte ihre Sache überraschend gut. Sie ließ sich von Alma durchs Restaurant führen, stellte an den richtigen Stellen die passenden Fragen und griff immer wieder Details auf, die sie für spannend hielt. Sie fragte Alma nach dem geheimen Star bei den Lebensmitteln oder ihrem Lieblingsmesser. Sie wollte ganz praktische Dinge wissen über den Alltag in einem Restaurant, aber fragte auch, wie es sich anfühlte, seinen Traum zu leben. Ganz zum Ende wollte Claire noch ein wenig die Umgebung und Nachbarschaft einfangen.

»Klar«, stimmte Alma zu und richtete extra noch mal ein paar Tische draußen her. Claire folgte ihr durch den Außenbereich und versuchte, das ganze Gebäude in die Aufnahmen zu bekommen.

»Das ist wirklich eine ganz besondere Ecke hier«, schwärmte sie, und Alma konnte ihr nur zustimmen.

»Oh, was ist das denn?«, fragte sie plötzlich und zeigte in die eine Richtung, die Alma die vergangene Stunde ignoriert hatte.

»Ach, nur der Laden nebenan«, versuchte sie, so beiläufig wie möglich zu sagen. Es gab dort wirklich nichts Interessantes zu sehen, doch Claire war scheinbar anderer Meinung.

»Und was für ein Laden ist das?«, fragte sie und zeigte sich verzückt über die kleinen Bänke, die Golo rechts und links vom Eingang aufgestellt hatte. Jede war mit einer kleinen Blumenvase dekoriert. Konnte Claire bitte ein bisschen weniger begeistert sein? Almas Puls zog wieder an.

»Nur einer, der mich auf allen Ebenen ruinieren will«, fauchte sie leise.

Augenblicklich drehte sich Claire zu ihr um. »Wie meinst du das?«

Und wäre Alma nicht so wütend gewesen, dann hätte sie vielleicht das Aufleuchten in Claires Augen gesehen, die genau witterte, dass sie hier einen Nerv getroffen hatte.

»Er verjagt meine Gäste. Legt tote Tiere in die Auslage und denkt, es hat keine Auswirkungen auf mein Restaurant. Und weil das noch nicht reicht, weil der Schaden noch nicht groß genug ist, hat er sich jetzt auch mein Parklet geschnappt. Er wusste genau, dass ich das haben wollte, und was macht er? Bewirbt sich auch. Soll er doch wie jeder eine blöde Bank draufstellen, am besten noch mit einem beschissenen Lederüberzug, und sich diebisch darüber freuen. Mir ist der scheißegal. Der kann mich mal. Er ist für mich gestorben!«

Atemlos schaute sie Claire an. Sie hatte sich schon wieder von ihren Emotionen übermannen lassen, verdammt.

»Das war nicht so gemeint«, beeilte sich Alma zu sagen. »Oh Gott, wirklich nicht, das ist ganz falsch rausgekommen. Ich hab heute nur einen sehr stressigen Tag, und ich hab da vorhin eine blöde Mail bekommen, und du kennst das ja sicher, wenn das mal passiert.«

Argwöhnisch blickte sie auf das Stativ mit Handy, das Claire immer noch in der Hand hielt.

»Ja klar«, antwortete Claire und packte Telefon und Stativ schnell ein. »Gut, ich bin dann auch fertig. Danke dir für deine Zeit. Der Beitrag über dich wird vermutlich schon Ende der Woche online gehen.«

Und dann waren Claire und ihre perfekten Haare auch schon verschwunden, bevor Alma überhaupt Balayage sagen konnte.