„Also, dann hat er mir eine SMS geschickt und meinte, wir sollten Netflix schauen und chillen, und ich meinte nur, auf keeeiiinen Fall.“
Dawn ließ ihre Kaugummiblase platzen und warf ihre dunklen Haare über die Schulter. Sophie betrachtete ihre Freundin und Kollegin einen Augenblick, während dem sie deren glatte, kakaobraune Haut und makelloses Kleid bewunderte. Dawn war immer wie aus dem Ei gepellt, Makeup und Nägel und Haare passten stets perfekt zum Outfit des Tages.
Sophie blickte an sich selbst hinunter auf ihre abgetragene Jeans und zerknitterte elfenbeinfarbene Seidenbluse und seufzte. Dawn übertraf Sophie immer im anständig-Aussehen-Department, aber heute hatte sich Sophie so richtig gehen lassen. Sie war seit Mittsommer nicht mehr draußen in der Sonne gewesen, weshalb sie jegliche Bräune verloren hatte. Ihre langen blonden Haare waren eine wild zerzauste Masse ungebändigter Wellen und ihre Nägel… nun, es war besser, auf die kleineren Details erst gar nicht einzugehen. Sie waren nicht hübsch.
„Also, dann besaß er doch tatsächlich die Frechheit zu sagen, ich würde ihn unnötig hinhalten!“, regte sich Dawn auf und zog eine Grimasse.
„Mmmhm“, machte Sophie. Sie verzog ihr Gesicht und starrte auf den Regen, der gegen die breiten Glasfenster trommelte, die auf die Royal Street zeigten, eine der beliebtesten edel Shoppingstraßen. Das Wetter hatte jegliche Laufkundschaft verjagt, die Sophies kleinen Kleiderladen vielleicht aufgesucht hätte, und Sophie wusste, sie sollte eigentlich einer ganzen Reihe anderer kleiner Aufgaben nachgehen. Sie und ihre Verkäuferin Dawn sollten den Laden von oben bis unten putzen, Inventur machen, einige Kleider mit neuen aus dem Lager austauschen oder wenigstens die eleganten Puppen im Schaufenster neu einkleiden.
Sophie schaute ganz kurz zu den Schaufensterpuppen und wandte dann den Blick ab. Sie wusste nur allzu gut, wie sie aussahen; gekleidet in pastellfarbene Seidenkleider, herausgeputzt im Stil der 50er Jahre. Es war ein hübsches Schaufenster, obgleich es zu diesem Zeitpunkt mehr als zwei Monate alt war. Tränen ziepten jedes Mal in ihren Augen, wenn sie länger als eine halbe Sekunde über diese dämlichen Puppen nachdachte.
Lily hatte diese Outfits ausgesucht. Sie stand dort und kleidete diese Puppen ein, fasste sie an. Sie lächelte und lachte und runzelte die Stirn, während sie das Schaufenster schmückte.
Und dann,
Es war ihre letzte Schaufenstergestaltung, am letzten Tag ihres ganzen Lebens. Es war das Letzte, das sie berührt hatte, bevor…
Daher die Tränen.
„Sophie!“
Sophie drehte sich, um zu Dawn zu schauen, während sie verstohlen an ihren Augenwinkeln rieb.
„Oh, Mädel…“, sagte Dawn, hüpfte aus ihrer Hocke hinter der Kasse hoch und lief darum herum, um Sophie zu umarmen. „Wir müssen dir ein Hobby besorgen oder so etwas, Süße. Ich liebe dich, das tue ich wirklich, aber du verbringst deine gesamte Zeit damit, über das nachzugrübeln, was deiner Schwester passiert ist, und überhaupt keine Zeit damit, was dir passiert, hier und jetzt.“
„Ich weiß“, erwiderte Sophie kopfschüttelnd. „Ich stehe morgens auf und denke, dass ich alles im Griff habe, aber bereits zum Lunch bin ich nur…“
„Es ist okay“, sagte Dawn und umarmte sie abermals kurz. „Ich dachte, dass wir heute Abend vielleicht zu diesem Wiccan Magiekreis gehen könnten, weil du meintest, dass du keine Magie mehr wirken konntest, seit… in letzter Zeit, meine ich.“
„Ich weiß nicht“, sagte Sophie und rieb sich mit den Händen übers Gesicht in dem Versuch, sich ein wenig wach zu rütteln. Sie war die ganze Zeit erschöpft, schlief jedoch nie richtig. Zum Teufel, sie tat eigentlich nie irgendetwas… es schien, als würde sie nur dann essen, schlafen und sich um ihre grundlegende Hygiene kümmern, wenn es absolut notwendig war. „Ich spüre kaum noch einen Funken. Allerdings war ich nie mehr als eine niedere Weiße Hexe. Es ist ja nicht so, als würde ich ganz plötzlich wirklich mächtig werden. Ich denke nicht, dass es so funktioniert.“
Dawn stieß geräuschvoll Luft aus. Sophie konnte sehen, dass ihre Freundin frustriert war und etwas zurückhielt, das sie sagen wollte, aus Angst, Sophies Gefühle zu verletzen. Es war dieser Tage sehr, sehr einfach, Sophies Gefühle zu verletzen, seit…
„Lily ist gestorben“, platzte es aus Dawn heraus. „Deine kleine Schwester ist gestorben. Und es war furchtbar, das Schlimmste, das du jemals in deinem ganzen Leben durchmachen wirst müssen. Ein kleines Stück von dir ist mit ihr gestorben und du wirst es nie wieder zurückbekommen. Ich verstehe das, ich schwöre, das tue ich.“ Dawn holte tief Luft. „Aber der Rest von dir verkümmert. Diese Sachen, die Schaufensterpuppen nicht zu verändern, deine Weigerung, ihre Asche zu verstreuen, dieses Ding, das du machst, bei dem du einfach losziehst und dich vor das Bellocq setzt und beobachtest…“
Sophies Mund klappte auf.
„Du weißt davon?!“, quiekte sie, während ihr Gesicht rot anlief. Ja, und? Dann ging sie eben gern zu dem Vampirclub, in dem Lily ihre letzten Lebensstunden verbracht hatte. Nun, sie ging viel weniger, als dass sie draußen saß und grübelte, wartete auf… irgendetwas.
Einen Hinweis. Eine einzige Idee, was ihrer unschuldigen, freundlichen, warmherzigen achtzehnjährigen Schwester möglicherweise passiert sein mochte. Der einzigen Person, die immer da gewesen war, der einzigen Familie, die Sophie jemals gehabt hatte.
Hatte. Vergangenheitsform.
„Hey!“, sagte Dawn und schnippte mit den Fingern. „Genau das hier? Dieses irre Abdriften? Das ist ganz genau das, wovon ich rede.“
„Sorry“, entschuldigte sich Sophie abermals.
„Nein… entschuldige dich nicht, Soph. Du… du kannst einfach nicht so weitermachen. Du musst in Urlaub fahren oder dich wieder mit dem Wiccan-Zirkel treffen oder… zur Hölle, ich weiß auch nicht. Fang mit Fallschirmspringen an. Irgendetwas! Du musst ausflippen oder neue Kraft tanken oder irgendetwas tun. Alles ist besser als einfach nur jede Stunde des Tages traurig zu sein.“
Sophie antwortete nicht, sondern rieb sich bloß wieder übers Gesicht und streckte sich.
„Ich sollte Kaffee holen“, verkündete sie in dem Versuch, das Thema zu wechseln.
„Ne, ne“, sagte Dawn und verschränkte die Arme. „Du wirst nach Hause gehen und versuchen, ein wenig zu schlafen. Falls du es brauchst, werde ich jemanden anrufen und dir etwas Gras kaufen.“
„Iih, nein“, entgegnete Sophie, aber Dawn wollte nichts von ihren Protesten wissen.
„Schön! Dann besauf dich, geh joggen, was auch immer. Verausgabe dich, erhole dich. Und wag es ja nicht, auch nur daran zu denken, diese Woche nochmal zurück in den Laden zu kommen. Ich werde Lacey und Maryanne anrufen und wir werden all deine Schichten abdecken.“
„Oh, Dawn, das könnte ich nicht“, widersprach Sophie und rollte mit den Augen.
Dawn streckte ihre Hand aus und packte Sophies, die sie drückte.
„Ich liebe dich. Das tue ich, ganz ehrlich. Aber wenn du diese Woche nochmal hier im Laden auftauchst, kündige ich. Und ich weiß, dass mir der Rest des Personals folgen wird. Der Laden ist ein Chaos. Lass mich den Rest der Woche die Zügel in die Hand nehmen und wenn du zurückkommst, wird es…“, sie hielt nachdenklich inne, „vielleicht nicht perfekt sein, aber besser. Und was noch wichtiger ist, anders.“
Sie drehte einen Finger im Kreis, um auf die Kleiderständer hinzuweisen, die langsam Staub angesetzt hatten. Sophie wusste, dass Dawn es nicht erwarten konnte, die Schaufensterpuppen neu einzukleiden, was dazu führte, dass ihr Herz einen kleinen Hüpfer machte. Dennoch war das kein Kampf, den Sophie gewillt war zu führen. Dawn war ihre engste Freundin und manchmal war es besser, ihren Rat einfach anzunehmen.
Außerdem gab es etwas, das sie heute Nacht tun musste…
Und dabei ging es nicht darum, Schlaf nachzuholen.

„Sind Sie sich sicher, dass Sie das tun möchten, Weiße Hexe?“
Der haitianische Akzent der Frau war wie ein Schlag ins Gesicht, ein erschreckendes Stück Realität. Ihre dunkle Haut glühte im Licht des kleinen Feuers, das zwischen ihnen brannte, und ihre Zähne blitzten in der Dunkelheit der schwülen Nachtluft weiß auf. Sie hielt ihre geschlossene Faust über das Feuer, die Handfläche nach unten, und erwartete Sophies Entscheidung.
War das wirklich möglich?
Du halluzinierst das nicht. Du träumst nicht. Du befindest dich tatsächlich in den Tiefen des Graumarkts und bezahlst eine Vodunpriesterin dafür, Zauber durchzuführen, die den Einsatz dunkler Magie erfordern.
Um genau zu sein, Blutmagie. Allein der Gedanke an eine solch dunkle Magie jagte eisige Schauer der Furcht über ihren Rücken. Sie und Lily waren als Wiccan aufgezogen worden, weshalb Sophie keine Entschuldigung hatte. Sie wusste es eigentlich besser, als sich auch nur auf zehn Meter so etwas wie dem hier zu nähern.
Sophie, dieses Mal bist du wirklich zu weit gegangen, hätte Lily gesagt.
„Ja“, ertönte es aus Sophies Mund eine Sekunde, bevor sich der Gedanke auch nur in ihrem Geist geformt hatte. Momentan handelte sie nur aufgrund von Instinkt und wütendem Schmerz, die keinen Platz für Zweifel und Selbstvorwürfe ließen.
Die Priesterin zog eine Braue hoch und zuckte mit den Achseln. Anschließend ließ sie ein kleines Büschel Haare, die um eine winzige Glasphiole gewickelt waren, ins Feuer fallen. Es zischte und knackte eine Minute und der Geruch verbrennender Haare brachte Sophie zum Husten. Die Priesterin starrte bloß ins Feuer, das plötzlich aufflackerte und die Farbe veränderte.
„Ah“, seufzte die Priesterin. „Ihre Schwester ist fort, wie Sie dachten.“
„Das wusste ich bereits. Ich habe gespürt, wie sie die Welt verlassen hat“, sagte Sophie, obwohl sie das bereits erklärt hatte.
„Geduld“, rügte die Frau sie und hob warnend einen Finger. „Da ist noch mehr. Ihre Schwester wurde von einer sehr, sehr gefährlichen Kreatur geholt. Er ist ein Loa, ein großer Geist des Voodoo und Vodun, der eine fleischliche Gestalt angenommen hat, um auf dieser Erde zu wandeln.“
„Wie lautet sein Name? Was hat er mit Lily gemacht?“ Sophies Kehle zog sich schlagartig zusammen, ihr ganzer Körper war gespannt wie ein Flitzebogen und bereit zum Kampf.
„Ich kann seinen Namen nicht aussprechen, geschweige denn ihn heraufbeschwören“, erwiderte die Priesterin kopfschüttelnd. „Er hat Ihre Schwester geholt und ihren Körper als Gefäß benutzt, damit er die Welt der Menschen betreten konnte. Ihre Schwester war noch Jungfrau, nicht wahr?“
„J-ja“, flüsterte Sophie, deren Mund ganz trocken wurde. Das war Lilys großes Geheimnis gewesen, etwas, von dem niemand sonst gewusst hatte. Sophies Schwester hatte sich für die Ehe aufgespart, wenngleich sie zu schüchtern gewesen war, um auch nur darüber zu reden.
Dass die Priesterin diese Information über Lily hatte… das ließ das Ganze äußerst plötzlich real werden. Es war ein völliger Schock für sie, zu wissen, dass sich Lily… auf der anderen Seite befand?
„Ist sie jetzt im Himmel?“, fragte Sophie, deren Wangen sich röteten. Sie war nicht unbedingt eine Christin, da sie als Heidin großgezogen worden war, aber das war der einzige Begriff, der ihr einfiel, um ihre Frage zu stellen.
Die Antwort war nicht das, worauf sie gehofft hatte. Die Priesterin schüttelte langsam den Kopf und betrachtete sie mitfühlend.
„Nein, ich fürchte nicht, meine Liebe. Sie befindet sich… zwischen den Welten.“
Sophie verengte die Augen zu Schlitzen.
„Sie sprechen hier von meiner toten Schwester. Bitte sagen Sie mir, dass sie nicht gerade versuchen, mir irgendeinen Anhänger oder Zauber zu verkaufen, um ihr dabei zu helfen, in die nächste Welt überzugehen“, beschuldigte sie die Priesterin.
Die Züge der Frau versteinerten.
„Sie haben mich für das hier bereits bezahlt“, sagte sie und schwenkte mit der Hand zum Feuer. „Ich bin keine Diebin. Ihre Schwester befindet sich zwischen den Welten, weil ein Teil von ihr noch immer an dem Loa haftet, obwohl er schon vor langem ihren Körper abgestreift hat. Ich schätze, dass jemand, der so mächtig ist wie er, sich alle paar Tage ein neues Gefäß suchen muss. Vielleicht sogar öfter.“
Sophie fühlte sich, als würde ihr das Herz aus der Brust gerissen.
Sie ertappte sich bei der Frage: „Hat sie gelitten?“
Die Priesterin antwortete nicht, was Antwort genug war.
„Ich glaube… ich glaube, dass ein kleiner Teil von ihr noch immer existiert, gemeinsam mit dem Loa. Als ob, wie könnte man das am besten erklären, er auf einem Pferd reitet und sie sitzt hinter ihm?“ Die Frau gestikulierte mit den Fingern, um zwei Menschen, die dicht hintereinander saßen, anzuzeigen. „Sie reitet mit ihm, alle Gefäße reiten mit ihm, für immer.“
Sophie ließ sich das eine Minute durch den Kopf gehen.
„Wenn es einen Teil von ihr gibt, der noch immer lebt, könnten wir sie zurückholen.“
„Wir?“ Die Augenbrauen der Priesterin schossen in die Höhe. „Ich nicht.“
„Ich wollte sagen, jemand. Jemand könnte das tun.“
„Das möchten Sie nicht, Weiße Hexe. Sie würden nicht dieselbe Person zurückerhalten, die Sie gekannt und geliebt haben, das versichere ich Ihnen.“
„Aber es ist möglich?“
Die Priesterin dachte einen Augenblick darüber nach und schüttelte anschließend den Kopf.
„Nicht auf die Weise, die Ihnen vorschwebt, nein. Und der Körper ist fort… Es ist nichts übrig, das man zurückholen könnte, da bin ich mir sicher.“ Sie zögerte.
„Verraten Sie es mir“, drängte Sophie. „Irgendetwas, egal was.“
„Wenn ich an Ihrer Stelle wäre und mir diese Person sehr wichtig wäre, dann würde ich ihren Geist befreien wollen. Ihm ermöglichen, in die nächste Welt überzutreten.“
„Das möchte ich, das möchte ich wirklich. Wie kann ich das tun?“
Die Frau schürzte nachdenklich die Lippen.
„Es gibt einen Weg, denke ich. Wenn Sie den Loa vernichten würden… das könnte klappen. Wenn Sie ihn aus der Welt der Menschen reißen und an den Wurzeln zurück in die Welt der Geister schleifen würden. Ihn dann zerstören…“ Sie holte tief Luft. „Sie müssten allerdings eine Methode kennen, um einen Loa zu töten. So etwas kommt nur sehr selten vor.“
„Könnten Sie so eine Methode finden?“, erkundigte sich Sophie, in deren Magen sich Aufregung breit machte.
Ein weiterer nachdenklicher Blick.
„Die Magie, die Sie benötigen würden, um so etwas zu vollbringen, wäre so dunkel… Sie wären nie wieder eine Weiße Hexe. Verstehen Sie das?“
„Schön. Alles“, beharrte Sophie.
„Wenn der Loa Sie nicht vorher tötet, wird der Schaden an Ihrer Seele das tun. Es könnte sein… Es könnte sein, dass Sie nach Ihrem Tod nicht die gleiche Welt wie Ihre Schwester betreten, Weiße Hexe. Wäre das ihre Befreiung wert?“
Sophie zögerte nicht einmal.
„Selbstverständlich.“
„Schön“, sagte die Priesterin. Sie zog ein Stück Papier hervor und kritzelte etwas darauf, bevor sie es Sophie über das Feuer reichte. „Warten Sie, bis Sie wieder von mir hören, Weiße Hexe. Nähern Sie sich dem Loa nicht ohne das Objekt, das ich Ihnen bringen werde. Tun Sie es doch, wird Ihr Versagen garantiert sein.“
Sophie öffnete den Mund, um zu antworten, aber die Priesterin hob einen Eimer schwarzer Asche und löschte das Feuer ohne ein weiteres Wort, bevor sie in der Dunkelheit verschwand und Sophie allein in der stillen Nachtluft zurückließ. Sophie taumelte durch die finsteren Seitengassen des Graumarktes, durch die sie überhaupt nur gegangen war, um die Priesterin zu finden, und kam in der Nähe der Eingangstüren des Sloane Krankenhauses heraus.
Als sie wieder unter den trüben Straßenlaternen des Graumarktes stand, entfaltete sie das Papier, das ihr die Priesterin übergeben hatte.
Darauf standen lediglich zwei Worte: Papa Aguiel.
Sie schloss die Augen und verspürte zum ersten Mal eine Art Hochgefühl, seit dem Moment, in dem sie in ihrem Bett aufgewacht und sofort gewusst hatte, dass ihre kleine Schwester nicht länger auf dieser Welt weilte.
Die Rache war so, so nah… und sie würde ihr gehören.

Sophie stand gegenüber von der weitläufigen Residenz der Alpha Wächter, die das Herrenhaus genannt wurde, und wartete. Sie stand bereits seit vier Nächten hier und war sogar so weit gegangen, ein paar der geringeren Schutzzauber des Hauses aufzulösen. Und all das nur, weil sie einem Tipp von einem Bekannten vom Graumarkt folgte, der ihr erzählt hatte, dass die Wächter den gleichen Querulanten verfolgten wie sie.
Papa Aguiel.
Der Name hallte durch ihren Kopf, wieder und wieder, bis sie glaubte, ihr Herz würde im Rhythmus mit seinem Namen schlagen und der Klang dicklich durch ihre Adern fließen. Pa-pa A-gu-iel, Pa-pa A-gu-iel, schien ihr Herz zu sagen.
Ein wilder Tumult lenkte ihre Aufmerksamkeit auf die Eingangstreppe des Herrenhauses. Mehrere Leute traten nach draußen und Sophie hob ihr Fernglas. Dort, auf dem Boden. Ein dunkelhaariger Mann in einem langen schwarzen Mantel, zusammengebrochen.
Wie hatte ihr das entgehen können? Die eine Person, nach der sie ihrem Kontaktmann zufolge Ausschau halten sollte.
Ephraim Crane. Zukünftiger Alpha Wächter. Unsterblich.
Und am wichtigsten, ein echter Dschinn. Diese schwirrten heutzutage nicht einfach frei in der Gegend herum, weshalb sie sich konzentrieren musste.
Sie durfte das nicht vermasseln. Das war ihre einzige Chance, Lily zu retten.
Lily zu befreien, nicht sie zu retten. Sie kann nicht gerettet werden, protestierte eine leise Stimme in ihrem Hinterkopf, doch Sophie brachte sie rasch zum Verstummen.
Sie hatte so hart auf diesen Moment hingearbeitet. Sie hatte Dawn die Schlüssel zu ihrem Laden übergeben, aus heiterem Himmel und ohne Erklärung. Sie hatte nicht vor, jemals wieder zurückzukehren, aber Dawn wusste das nicht.
Sie hatte ihr Haus verschlossen, Dawn eine große Geldsumme gegeben, damit sie sich um die kleine getigerte Katze kümmerte, die sie im Laden hielten, und um alle anderen Ausgaben abzudecken. Mit der Behauptung, sie würde auf eine längere Kreuzfahrt gehen, war Sophie einfach… aus ihrem alten Leben geschlüpft.
Und jetzt war sie hier und alles, was sie wollte, war in greifbarer Nähe. So, so nah.
Der Gruppe an der Eingangstür des Herrenhauses gelang es, Ephraim auf die Beine zu stellen. Sophie hatte nur ein einziges Foto von ihm gesehen, das beinahe so unscharf gewesen war wie sein Gesicht jetzt aus der Entfernung, aber es hatte ausgereicht, um zu erkennen, dass er gut aussehend war. Sie hatte auch noch etwas anderes an seiner Miene erkannt. Konnte aber nicht den Finger darauflegen, was genau es war.
Nicht, dass es von Bedeutung wäre…
Sophie bemerkte, dass ihre Gedanken abschweiften und fragte sich, wann sie das letzte Mal geschlafen hatte. Seit Tagen nicht, mindestens. Sie verbrauchte ihre Magie mit vollen Händen, alles nur auf der Jagd nach dem hier…
Ihr Fernglas senkend, griff sie in ihre linke Tasche und fischte das Objekt heraus, das zu erhalten sie über einen Monat gekostet hatte. Ein hübsches Set bestehend aus drei Schlüsseln an einem Ring, die alle aus dem feinsten geschmiedeten Gold bestanden, das Sophie jemals erblickt hatte. Das Gold schien sich bei ihrer Berührung zu erwärmen, beinahe tröstlich, und glühte irgendwie von innen heraus.
Sie drehte ihre linke Hand mit der Handfläche nach oben und sah die hellgrauen Linien der verzauberten Tinte, die sich dort in feinen Wirbeln wanden. Das einzige Tattoo, das sie besaß. Das Tattoo, das sie mit Lily gemeinsam hatte. Ein frühes Geburtstagsgeschenk zum achtzehnten Geburtstag ihrer Schwester.
nie verloren, stand dort in femininer Schriftart.
immer gefunden, hatte Lilys gesagt.
Wenn das doch nur im Entferntesten wahr wäre, wenn die übermütigen Träume, die sie geteilt hatten, doch mehr als eine närrische Fantasie gewesen wären…
Sie schloss ihre Finger fest um die Schlüssel und versuchte, sich nicht daran zu erinnern, wie es sich angefühlt hatte, als ihr Tattoo in jener Nacht pulsiert hatte. In der Nacht, in der Lily gestorben war. Die dicken, dunklen Tintenlinien waren zu dem hellen Grau verblasst, genauso wie Lily aus dem Reich der Menschen entschwunden war. Ein Notruf von hinter dem Schleier…
Tief Luft holend, rief sie sich zur Ordnung und widerstand dem Drang, mit den Fingern über das Tattoo zu reiben. Wenn Lily sie jetzt fühlen könnte, irgendwie, würde ihre Schwester nicht mit ihrem Verhalten einverstanden sein, da war sich Sophie todsicher.
Aber Lily war nicht hier. Lily war tot und Sophie würde ihre Rache bekommen, selbst wenn es das Letzte war, was sie jemals tat, selbst wenn es sie den letzten Atemzug kostete.
„Du wirst sehr viel verführerischer sein müssen als jetzt“, sprach sie zu sich selbst.
Wenn sie es schaffen wollte, sich an den Dschinn ranzumachen und Zugriff auf die Orte zu erlangen, zu denen nur er sie bringen konnte, dann würde sie zumindest vortäuschen müssen, innerlich nicht tot zu sein. Sie probierte ein Lächeln und auch wenn sie es nicht sehen konnte, wusste sie, dass es grauenhaft war.
Egal. Sie hatte Zeit zum Üben. Sie würde alles tun, das nötig war, um den Rest ihrer Mission durchzuführen.
Morgen, dachte sie. Morgen, beginnt es.
Nachdem sie die Schlüssel in ihre Tasche gestopft hatte, drehte sie sich um und entschwand in die mondlose New Orleans Nacht.