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Sophie stand auf der anderen Seite von Ephraims offenem Schlafzimmer und beobachtete ihn beim Schlafen. Er schien absolut weggetreten zu sein, nicht einmal annähernd im Begriff aufzuwachen. Sie sog leise Luft ein und sah sich um, da sie wusste, dass, falls sie diesen Ort jemals erkunden wollte, dies der richtige Zeitpunkt war.

Ihre Suche förderte mehrere überraschende Dinge zu Tage. Ein Zimmer voll goldener Gegenstände, etwas das direkt aus dem Schatz eines Drachen stammen könnte, wie ihn Tolkien beschrieben hatte. Ein Zimmer, in dem sich sorgfältig aufbewahrte Kleidungsstücke befanden, die scheinbar nach chronologischer Abfolge angeordnet worden waren. Vermutlich handelte es sich dabei um Ephraims Kleider im Verlauf der Jahre. Ein fensterloses Zimmer mit schwarzen Wänden und tausenden Fotos, ein Zeitstrahl von Ephraims Leben. Sein Gesicht tauchte auf den Fotos immer wieder in verschiedenen Szenen auf.

Sie hatte das untrügliche Gefühl, dass sie in seine Privatsphäre eingriff, als sie einige der privateren Momente entdeckte. Fotos von Ephraim gefesselt und an BDSM Kreuze geschnallt, Fotos von Menschen, die die Schlüssel über seiner niedergestreckten Gestalt baumeln ließen, Fotos von ihm in expliziten sexuellen Situationen.

Wie war er überhaupt in den Besitz dieser Fotos geraten? Bessere Frage, was für ein verkorkstes Leben hatte Ephraim geführt? Oder, da seine Kräfte eine Art der Knechtschaft zu sein schienen, zu was war er gezwungen worden?

Als sie sich an den Moment am Pool erinnerte, als er ihre Zärtlichkeiten abgelehnt hatte, dachte Sophie, dass sie ihn jetzt ein bisschen besser verstand. Vor allen Dingen empfand sie einen Moment lang eine heftige Scham. Wenn diese Art von Behandlung, die auf den Fotos sichtbar war, das Einzige war, was Ephraim kannte, war es kein Wunder, dass er sich niemandem auf diese Weise hingeben wollte.

So weit er wusste, war Sophie kein Stück besser als seine bisherigen Besitzer.

Vielleicht bin ich das auch nicht, dachte sie bei sich.

Er war anscheinend niemand, der die Vergangenheit vergaß. Sophie lief zur Wand und betrachtete die Fotos aus der Nähe. Sie bemerkte die weitläufigen und hübschen Landschaften in den Hintergründen, die schillernden und umwerfenden Menschen in den Fotos mit ihm. Doch ganz egal, welches Szenario dargestellt wurde, es gab eine Konstante: Ephraim sah passiv, wütend und unterdrückt aus.

Nie glücklich, nicht auf einem einzigen Foto. Sie rümpfte die Nase, während sie überlegte, ob er sie jemals angelächelt hatte, ein aufrichtiges und echtes Lächeln.

Nope. Nicht ein Mal, jemals.

Sie musste sich richtiggehend von dem Raum loseisen, weil die Neugier sie von innen heraus auffraß. Ephraim war ein solches Rätsel für sie, wenngleich seine Vergangenheit eindeutig tragisch war. Je länger sie darüber nachdachte, wie es wohl sein musste, jemandem zu gehören, desto mehr dachte sie über die Art von Person nach, die sich ein Bein ausreißen würde, um ein anderes Wesen zu besitzen… desto mehr Puzzlestücke von Ephraims Geschichte offenbart wurden.

Und jetzt war Sophie selbst eine von diesen Personen. Fuck.

Sie wanderte, in Gedanken versunken, durch den Irrgarten, den dieses Haus darstellte, bis sie schließlich in einen Gang mit geschlossenen Türen gelangte. Der Gang schien ewig weiterzugehen, sich über ihr Sichtfeld hinaus zu erstrecken. Nach allem, was sie wusste, könnte er wahrhaftig endlos sein.

Etwas in ihrem Bauch verriet ihr, dass dies der Ort war, an dem sie sein musste. Sie blickte über ihre Schulter, bevor sie einen Schritt nach vorne setzte und die erste Tür zu ihrer Linken öffnete. Eine saugende, schwarze Leere zerrte an ihren Kleidern und Haaren wie ein sanfter Staubsauger.

„Scheiße!“, sagte sie und schlug die Tür zu. Sie lachte zittrig. „Ich schätze, damit hätte ich rechnen sollen.“

„Keine unbedingt menschenfreundliche Ebene“, erklang Ephraims tiefe Stimme hinter ihr.

Sophie machte einen Satz und drehte sich um, während Schuldgefühle durch ihre Adern strömten.

„Ähm, hey. Du bist wach“, war alles, das sie rausbrachte. Und vollständig bekleidet, dachte Sophie reumütig.

Ephraim musterte sie einen Augenblick, dann trat er nach vorne, packte ihr Handgelenk und zog sie aus dem Gang und gefährlich nahe an sich heran.

„Warum öffnest du Türen, Sophie?“, fragte er, seine Stimme tödlich sanft. Er starrte auf sie hinab, seine Augen blitzten in diesem unheimlichen gelbgrün.

Als Sophies Zunge hervorschnellte, um ihre Unterlippe zu befeuchten, sank sein Blick für den Bruchteil einer Sekunde auf ihren Mund. Sein Kiefer und Griff um ihr Handgelenk verspannten sich.

„Mir war langweilig“, log sie und reckte angriffslustig das Kinn.

Er sah ein letztes Mal hinab auf ihren Mund, bevor er sie freigab und nicht im Geringsten überzeugt wirkte.

„Diese Türen führen alle zu anderen Ebenen“, erklärte er, drehte sich um und ging zurück zum Wohnzimmer, womit es Sophie überlassen blieb, ihm zu folgen. „Öffne die falsche und… du bist tot.“

Obwohl sie wusste, dass er keine Drohung, sondern lediglich eine Tatsache, aussprach, jagte ihr sein eisiger Tonfall einen Schauder über den Rücken. Ein derartiges Misstrauen lag in jedem Wort, das er aussprach, in jedem Blick… ganz egal, wie begehrlich diese auch sein mochten.

Das Schlimmste war jedoch, dass sie das verdiente, zumindest in einem gewissen Maße. Ja, sie würde verdammt viele Leben retten und möglicherweise sogar die Stadt, indem sie ihren Plan durchzog. Aber sie machte das, um ihre Schwester zu retten, nicht aus Güte ihres Herzens.

„Liegt das Reich der Geister hinter einer dieser Türen?“, fragte sie, bevor sie den Mut verlor.

Er zögerte einen Augenblick, dann drehte er sich, um sie anzustarren.

„Warum stellst du so eine Frage?“, verlangte er zu wissen.

„Hier sind unzählige Türen, es gibt unzählige Existenzebenen…“ Sie schwenkte mit der Hand in den Flur. „Es wird doch irgendwo hinter einer dieser Türen liegen.“

Seine Augen wurden schmal.

„Tatsächlich ist es die erste Tür zur Rechten“, blaffte er und schockierte sie mit seiner sofortigen Antwort. „Aber du kannst dort nicht einfach reinmarschieren. Es verändert dich.“

Die Art, wie er das sagte, deutete darauf hin, dass er aus Erfahrung sprach, aber er blieb nicht stehen, um auf Sophies Antwort zu warten.

„Ich hätte dich nicht hierherbringen sollen. Das war ein Fehler“, sagte er, wirbelte herum und marschierte abermals in Richtung des Wohnzimmers.

„Ephraim, warte. Es tut mir leid“, rief Sophie. Sie beeilte sich, mit ihm Schritt zu halten.

„Was tut dir leid? Dass du Geheimnisse hast? Dass du meine privaten Gegenstände durchstöberst, ohne mich zu fragen?“

Auf Sophies überraschten Blick hin, schüttelte er ruckartig den Kopf.

„Denkst du wirklich, dass auf dieser Ebene irgendetwas ohne mein Wissen passiert? Nein. Ich hoffe, du hattest Spaß dabei, Voyeur zu spielen, Sophie. Du wärst nicht der erste meiner Meister, dem so etwas gefällt.“

„Hey!“, sagte sie, als sie das Wohnzimmer erreichten. Sie drehte den Spieß um, streckte jetzt ihrerseits die Hand aus und packte seine, um seinen Bewegungen Einhalt zu gebieten. „Schau mich an.“

„Sophie, es gibt nichts, was noch gesagt werden müsste“, erwiderte Ephraim.

Als sie ihn nicht losließ, drehte er sich mit einem leisen Seufzen zu ihr.

„Ich möchte nicht…“, begann sie, brach dann ab und biss auf ihre Lippe. Was genau versuchte sie hier eigentlich zu sagen?

„Du weißt nicht, was du willst, Sophie“, stellte er fest und zog seine Hand aus ihrer.

„Ich möchte eine Menge Dinge, Ephraim.“ Ihre Stimme wurde schärfer, als sie an Lily dachte. Natürlich wäre es ihr größter Wunsch, ihre Schwester zurückzuerhalten. „Dinge, die ich niemals haben kann. Dinge, um die zu kämpfen ich nicht die Kraft habe. Aber ich weiß dies… ich möchte nicht wie… wie diese Leute auf deinen Fotos sein.“

Der Schmerz und Wut in Ephraims Augen war wie ein Schlag in die Magengrube. Er schien gerade zu einer Antwort anzusetzen, doch dann schüttelte er bloß den Kopf und reichte ihr erneut seine Hand.

„Wir müssen zurück zum Herrenhaus.“

„Ich dachte, du würdest dir den ganzen Tag zum Ausruhen freinehmen“, sagte Sophie und ergriff seine Hand.

Innerhalb eines Wimpernschlags waren sie zurück im Herrenhaus.

„Ja, nun. Ich hatte genug Ruhe für einen Tag“, entgegnete er. „Außerdem hast du nicht gesehen, wie schlimm es dort draußen ist. Ich denke, viele Menschen sind bereits geflohen, aber wo werden die Kith hingehen? Es ist ja nicht so, als hätten Werwölfe und Vampire Verwandtschaft in anderen Gebieten des Landes, die sie aufnehmen könnte.“

Sophie nickte nur und sah sich in dem verlassenen Wohnzimmer des Herrenhauses um.

„Schrecklich ruhig hier“, stellte sie fest, gerade als der Butler auftauchte, nach wie vor in seinen makellosen, glattgebügelten Anzug gehüllt.

„Duverjay“, begrüßte Ephraim ihn mit einem Nicken. „Ich bin zurück, um meinen Patrouillendienst wieder aufzunehmen.“

„Ich hatte gehofft, Sie wären Rhys und Gabriel“, gestand der Mann freimütig. „Sie haben sich seit einigen Stunden nicht mehr gemeldet, auch wenn ich vermute, dass es sich nur um einen leeren Handyakku handelt.“

Duverjay drehte sich um und lief zur Kücheninsel, womit er Sophies Aufmerksamkeit auf das gigantische Feuerwaffenarsenal lenkte, das er dort ausgebreitet hatte.

„Verdammt“, sagte sie. „Womit genau rechnet ihr eigentlich?“

„Dort draußen tobt ein Krieg, Kith gegen Kith. Besessene Menschen tauchen in Scharen auf, genauso wie Vampire. Der Großteil der Gestaltwandler ist in Richtung der Hügel aufgebrochen, aber es gibt jede Menge Dämonen und andere Schrecken, die hinter jeder Ecke lauern. Ich möchte so viele, wie ich kann, aus der Ferne aus dem Verkehr ziehen, bevor ich selbst in den Kampf gerufen werde“, erklärte er, während er den Schlitten einer seiner Pistolen überprüfte.

„Ich verstehe“, sagte Sophie.

Der Butler lachte leise und schüttelte den Kopf.

„Das wage ich doch zu bezweifeln. Ich bin ein Berserker und habe dem Schlachtfeld schon vor langer Zeit den Rücken gekehrt. Wenn ich in das gezogen werde, was dort draußen gerade vor sich geht, dann als letzte Lösung. Es gibt zu viele von ihnen und nicht genug von uns und mein Bär kennt die Bedeutung des Wortes Stopp nicht.“

„Du würdest bis zum Tod kämpfen?“, fragte Sophie und drückte eine Hand auf ihr Herz.

„Ohne auch nur einen Moment zu zögern. Ich möchte einfach nur, dass es auch einen Unterschied macht, verstehen Sie. Ich habe vor, das Herrenhaus bald zu verlassen, zum Graumarkt zu gehen und als zusätzlicher Schutz für die Gefährtinnen der Wächter zu fungieren. Sie sind mir während meiner Zeit hier alle sehr ans Herz gewachsen und… nun, ich habe vor, so lange ich kann bei ihnen zu bleiben. So lange sie mich hier haben möchten“, erklärte er und schnappte sich einen großen Seesack von einem der Sofas. „Ich packe jetzt meine Sachen zu Ende. Gibt es etwas, dass ich Ihnen beiden vorher bringen kann?“

Ephraim schüttelte ernst den Kopf und Sophie folgte seinem Beispiel.

Das Geräusch der schweren Eingangstür des Herrenhauses, die geöffnet und geschlossen wurde, sorgte dafür, dass sie sich alle sichtlich verspannten. Zu Sophies Erleichterung war es jedoch nur Aeric, der große blonde Mann, den sie gestern kurz kennengelernt hatte.

„Dort draußen herrscht das reinste Chaos“, verkündete er, schüttelte den Kopf und warf ein Schwert zur Seite, dem mindestens ein Drittel seiner Länge fehlte.

„Rhys hat sämtliche Gestaltwandler Louisianas zur Hilfe gerufen, aber sie haben es nur bis zum Stadtrand geschafft, bevor sie in Kämpfe verstrickt worden sind“, informierte Duverjay Aeric.

„Verdammt“, fluchte Aeric kopfschüttelnd. „Noch nie in meinem Leben habe ich meinen Drachen dermaßen vermisst.“

„Deinen Drachen?“, fragte Sophie verblüfft. „Ich dachte, Drachen wären ausgestorben!“

Aerics Lippen zuckten.

„Ich war ein Drache“, korrigierte er sie. „Aber ich fürchte, jetzt ist keine Zeit für die Geschichte. Nicht bei all den Kämpfen dort draußen.“

„Wir müssen Papa Aguiel töten“, sagte Sophie und verschränkte die Arme. „So einfach ist das.“

„Ist es das?“, fragte Aeric und musterte sie. „Dann hast du also eine Art Masterplan, hmm?“

Sophie errötete. Das hatte sie, aber es war nicht so, als könnte sie ihm das erzählen. „Nicht, dass ich es verraten könnte, aber ich habe Dinge in Bewegung gesetzt, um für seinen Untergang zu sorgen, das versichere ich dir.“

Ein merkwürdiger Ausdruck flackerte auf Ephraims Gesicht auf, eine Art plötzliches Verstehen. Sophie brauchte eine Minute, aber dann wurde ihr bewusst, dass Ephraim vermutlich dachte, sie würde ihn auf Papa Aguiel hetzen.

Bevor sie ihn eines Besseren belehren konnte, folgte er Aeric schon zum Waffenlager.

„Ephraim, warte!“, sagte sie und beeilte sich, um mit ihm Schritt zu halten.

„Geh mit Duverjay“, befahl Ephraim, der sich weigerte, ihr in die Augen zu schauen. „Ich treffe dich dort morgen wieder. Bleib heute Nacht bei den Gefährtinnen der Wächter und hilf, sie zu beschützen.“

Mit dem letzten Teil versuchte er, ihr zu schmeicheln, doch davon wollte sie nichts wissen.

„Ephraim, nein“, protestierte sie und zupfte an seinem Ärmel. „Du kannst nicht einfach… gehen.“

„Ist das ein Befehl?“, fragte er und zog jetzt eine herrische Braue hoch.

„Nein… aber was, wenn dir etwas passiert, bevor…“, sie stoppte und biss auf ihre Lippe.

„Bevor was genau?“, hakte er nach, entzog seinen Ärmel ihrem Griff und verschränkte die Arme.

„Ich möchte nicht zum Graumarkt gehen. Ich möchte bei dir bleiben“, sagte Sophie, die sich nur allzu bewusst war, dass sie wie eine weinerliche Frau klang. „Ich möchte nicht… ich möchte nicht von dir getrennt werden.“

Zumindest das entsprach der Wahrheit.

Ephraims Miene wurde weicher, weswegen sie sich zum tausendsten Mal in den vergangenen Stunden schuldig fühlte. Er streckte seine Hände aus, drückte ihre Schultern und zog sie für eine kurze Umarmung an sich.

Gott, er riecht so gut, sagte der törichte Teil ihres Gehirns.

„Ich muss gehen, aber wir sehen uns morgen Abend. Geh einfach zu den anderen Frauen, okay? Ich möchte mich nicht um deine Sicherheit sorgen müssen“, erklärte er. Nach einem Moment des Zögerns, beugte er sich nach unten und drückte ihr einen brennenden Kuss auf die Lippen. „Pass auf dich auf.“

Er drehte sich um und marschierte ohne einen Blick zurück davon, sodass Sophie mit einem tief betrübten Gefühl in der Brust und tausend Fragen im Kopf zurückblieb.

Zuallererst einmal: so wie sie gerade empfand, wie Ephraim sie fühlen ließ…

War das Angst um ihren Plan oder um den Mann, den sie zu mögen und respektieren lernte? War das nur die Anziehungskraft zwischen Gefährten, diese unmöglich zu ignorierender Begierde, oder war das mehr?

Größer als Lust, stärker als bloßes Verlangen…

Wie wurde das nochmal genannt?

Sie schüttelte den Kopf und weigerte sich, den Gedanken weiter zu verfolgen. Sie war eine Frau auf einer Mission, kein liebeskrankes Schuldmädchen. Nur weil er gut aussah und eine schlimme Vergangenheit hatte, die sie berührte… Nur weil ihr Körper sich jedes Mal zusammenzog, wenn sie daran dachte, wie er sie am Vorabend im Pool befriedigt hatte… Nur weil sie seine innere Gutherzigkeit spürte, gefangen unter all der Trauer und Wut, und ein Teil von ihr unbedingt seine Wunden heilen wollte…

Das hatte nichts zu bedeuten, oder?