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Ephraim war zu Tode erschöpft. Obwohl im Verlauf der letzten Woche von überall aus der Welt Verstärkung langsam zu ihnen durchgedrungen war, hatte es den Anschein, als könnten die Massen nicht aufgehalten werden. New Orleans war mittlerweile eine Geisterstadt, unheimlich verlassen von allem bedeutsamen Leben. Und hinter jeder Ecke, von jedem Balkon im French Quarter hängend, befand sich eine höllische Kreatur, die durch den Schleier geschlüpft war und den Wächtern auflauerte.

Aeric hatte ihn vor über einer Stunde bei seiner Patrouille abgelöst, aber der bloße Aufwand, von einem Ende der Stadt zum anderen zu gelangen und das in einem Stück und unverletzt, hatte Ephraim beinahe zur Verzweiflung getrieben. Papa Aguiel verursachte in der gesamten Stadt Probleme und bedrohte die wertvollen, wenigen sturen Kith und närrischen Menschen, die zurückgeblieben waren.

Mittlerweile war das Ganze in allen Nachrichten der Menschen zu finden und wurde als das „Ausbrechen eines unbekannten Virus“ erklärt, etwas direkt aus einem schlechten Zombiestreifen. Mit der Ausnahme, dass das hier echt und der Virus eine dämonische Besessenheit war. Oh und es gab auch echte Körper, die von Gott weiß wo hergeschleift worden waren, um durch die Stadt zu taumeln und alles in ihrer Nähe anzugreifen.

Er hatte die ersten zwei Tage ohne Pause durchgearbeitet. Doch danach war er gezwungen gewesen, zwei oder drei kurze Pausen in jeder vierundzwanzig Stunden Schicht zu machen. Am achten Tag, heute, wusste er, dass er eine volle Mütze Schlaf in einem richtigen Bett benötigte.

Außerdem musste er nach Sophie schauen. Das letzte Mal, als er im Schlupfwinkel im Graumarkt nach den Gefährtinnen der Wächter hatte sehen können, hatte sie tief und fest geschlafen. Also waren jetzt einige Tage vergangen, seit er zuletzt mit ihr gesprochen hatte.

Es war eine Folter, zu wissen, dass er ihr vom Schicksal zugewiesen worden war, dass er ihr Beschützer sein sollte… mitten von all dem hier. Vernünftigerweise sollte es ihn nicht kümmern. Sie war umwerfend und attraktiv, ja. Doch ihre Augen sprachen von Geheimnissen und nicht der Art, die am besten in der fernen Vergangenheit belassen wurden.

Sie verheimlichte ihm etwas. Er konnte sich nur noch keinen Reim darauf machen, was das möglicherweise sein könnte. Hatte es etwas mit ihrer Vergangenheit und Familie zu tun? Sie wich Fragen zu beiden Themen meisterhaft aus.

Oder hatte es etwas mit ihrer Vendetta gegen Papa Aguiel zu tun? Das schien alles zu sein, worüber sie redete, wenn sie Ephraim nicht gerade nachdenklich anstarrte.

Einerseits sollte er froh sein, nichts mit den Dingen zu tun zu haben, in die sie zweifelsohne verwickelt war. Andererseits… war er gerne in ihrer Nähe.

Er mochte es, wie sie roch oder wie ein Lächeln ihre Lippen krümmen konnte. In der ersten Nacht, in der er zum Schlupfwinkel im Graumarkt zum Schlafen zurückgekehrt war, war er aufgewacht und hatte sie an seinen Körper geschmiegt vorgefunden, während er auf einem schlichten Feldbett geruht hatte. Das Gefühl ihres Körpers, der sich an seinen gepresst hatte, ihre Wärme, ihr friedlicher Gesichtsausdruck, während sie geschlafen hatte…

Er konnte sie nicht aus seinem verfluchten Kopf bekommen. Das hatte ihn im Kampf mehrere Male abgelenkt, vor allem ein bestimmtes Mal, was ihn beinahe den Kopf gekostet hätte.

Jep. Er war bis über beide Ohren in sie verliebt. Vielleicht, wenn er einfach genommen hätte, was sie ihm in seinem Maladh so freimütig angeboten hatte…

Es hätte allerdings nicht gereicht und das wusste er. Allein der kleine Vorgeschmack auf sie, den er erhalten hatte, hatte ihn beinahe bei lebendigem Leib verbrannt und sein verdammter Körper würde ihn nicht so schnell vergessen lassen. Er durchlebte diese Momente in seinen Träumen erneut, während er duschte, während er sein Schwert in seine Feinde rammte.

Ja, er hatte ein Problem.

Er bog um eine Ecke des Graumarkts, wodurch er das stark beschützte Versteck erreichte, in dem die Wächter ihre Damen verbargen. Er wurde langsamer, da eine vertraute Stimme seine Aufmerksamkeit erregte. Er stoppte und lief zurück, dann spähte er um eine andere Ecke. Das Sehvermögen seines Bären erlaubte ihm, die Szene zu sehen, die sich in der schattigen Gasse abspielte, obwohl ein kleiner Teil von ihm wünschte, er könnte es nicht sehen.

Sophie stand einer in Roben verhüllten Gestalt gegenüber und nickte zu etwas, das die andere Person sagte. Sie steckte ihre Hand in ihre Tasche und zog ein Bündel Geldscheine heraus – eine exorbitante Geldsumme, wie es aussah – und überreichte es der Gestalt.

Die andere Person streckte ihr ein dunkles, in Leinen gewickeltes Bündel entgegen. Sie packte es und klemmte es sich unter den Arm, wo sie es wie etwas Wertvolles umklammerte. Sie nickte ihrem mysteriösen Kompanion abermals zu, der sich umdrehte und in die andere Richtung davonging. Sophie lief direkt auf Ephraim zu, wobei sie kaum aufsah und sich seiner Gegenwart keineswegs bewusst war.

Ephraim wollte gerade nach vorne treten und mit ihr schimpfen, weil sie die Sicherheit des Schlupfwinkels verlassen hatte, aber eine andere Art von Gefahr kam ihm in die Quere.

Mit einem entschiedenen, hungrigen Zischen stürzte ein Vampirtrio von oben herunter, sank zu Boden und bildete einen engen Kreis um Sophie. Er hörte, wie sie fluchte, aber sie ließ das Leinenbündel nicht fallen. Stattdessen hob sie ihre Hände und begann einen leuchtenden orangefarbenen Magieball heraufzubeschwören.

Sie war zu langsam. Sophie schien das zu wissen und zu sehen, wie sie das realisierte, ließ Ephraims Herz mehr als einen Schlag aussetzen. Er ließ sein Schwert klappernd auf das Kopfsteinpflaster der Straße fallen, sank auf alle Viere und erlaubte seinem Bären, das Ruder zu übernehmen.

Das Einzige, das der Bär wusste und verstand, war das drängende, wilde Bedürfnis, seine Gefährtin zu beschützen. Ephraim ließ ihm freie Hand, wobei er sich bemühte, sich nicht über den Schock auf Sophies Gesicht zu freuen, als ein gigantischer Grizzly durch die Gasse auf sie zustürmte und ihre Feinde auseinanderriss.

Ihr Gesichtsausdruck, als er seine Bärengestalt, die er für den Kampf angenommen hatte, abschüttelte und wieder seine Dschinngestalt annahm, war sogar noch besser. Ihr Mund öffnete sich zu einem perfekten, überraschten O, das er viel zu charmant fand.

„Du solltest den Schlupfwinkel eigentlich nicht verlassen“, schimpfte er und verschränkte die Arme.

Ausnahmsweise schien Sophie zu nervös zu sein, um antworten zu können.

„Lass uns gehen“, sagte er, packte sie am Ellbogen und zerrte sie aus der Gasse. Nachdem er sein Schwert vom Boden aufgehoben hatte, marschierte er mit ihr direkt zum Schlupfwinkel, vorbei an dem Gemeinschaftsraum, in dem sich die Gefährtinnen versammelt hatten, und in das private Schlafzimmer, das Sophie zugeteilt worden war.

„Zeig es mir“, verlangte er, während er seine schweren Stiefel auszog und auf einem Stuhl bei dem übergroßen Bett zusammenbrach.

„Ephraim – “

„Sophie, nein. Du hast keine Ahnung, wie müde ich gerade bin. Fang jetzt bitte keinen Streit an.“

Er lehnte sich zurück und faltete die Arme, während er das schwarze Bündel beäugte. Als sie laut seufzte und auf das Bett ihm gegenüber sank, wusste er, dass er diese Runde gewonnen hatte.

„Dir wird das nicht gefallen“, warnte sie ihn direkt.

„Geheimnisse mag ich noch weniger“, erwiderte er achselzuckend.

Sie errötete und schüttelte den Kopf, sodass ihre blonden Haare wie ein Wasserfall um sie flossen. Dann wickelte sie das Bündel auf und präsentierte ihm den leuchtenden, wertvollen Edelstein, der darin lag. Er war betörender, größer und heller als jeder andere, den Ephraim in seinem langen Leben gesehen hatte.

Und er war schwarz. Ein übelerregendes, glühendes Schwarz, das ihn wie einen Magneten anzog. Noch ehe er sich dessen bewusst war, streckte er seine zitternden Finger aus, um ihn anzufassen.

„Nein, nein, nein!“, sagte Sophie und verdeckte ihn schnell. „Das ist ein Seelendieb. Er kann nur einmal benutzt werden und du bist definitiv nicht mein beabsichtigtes Zielobjekt.“

„Ich habe das unbestimmte Gefühl, dass ich nicht wissen möchte, woher oder wie du in den Besitz dieses Dings gekommen bist“, stellte Ephraim fest, der sich mit einer Hand über das Gesicht rieb.

„Korrekt. Dir würde die Geschichte nicht gefallen, das garantiere ich dir.“

Er seufzte.

„Du bedeutest wirklich eine Menge Ärger“, informierte er sie und gluckste, als sie doch die Dreistigkeit besaß, beleidigt zu wirken. „Kannst du das etwa leugnen?“

Sie biss auf ihre Lippe und zuckte mit den Achseln.

„Das ist nicht meine Absicht“, war alles, das sie sagte.

„Du weißt, dass du das nicht benutzen kannst, oder?“, fragte Ephraim. „Ich hasse es, der Überbringer schlechter Nachrichten zu sein, aber dieses Ding ist viel, viel zu dunkel. So etwas einzusetzen würde… ich weiß nicht einmal, was es mit deiner Seele, deiner Aura anstellen würde.“

„Ich verstehe nicht ganz, warum du in dieser Sache irgendetwas zu sagen haben solltest“, sagte sie, wobei sich ihre Lippen zu einem dünnen Strich verzogen.

Sie erhob sich und trug den Edelstein zum Kleiderschrank, wo sie ihn auf eins der höchsten Regalbretter legte und die Tür schloss. Dann ging sie zurück zu der Stelle, an der Ephraim saß und blickte herrisch auf ihn hinab.

„Du bist meine Gefährtin“, erwiderte er und betrachtete ihr Gesicht aus schmalen Augen.

Sie lachte, ein bitterer Laut.

„Du bist nur irgendeine… Person… die ich attraktiv finde“, entgegnete sie und errötete beim letzten Teil. „Keiner von uns ist gewillt, auch nur einen Schritt weiterzugehen, nicht bei dieser Art von Chaos in der Stadt. Und das Chaos wird nicht enden, bis…“

Sie fuchtelte mit ihrer Hand zum Schrank.

Ephraim streckte seine Hand aus und schloss seine Finger um ihr Handgelenk, um sie näher zu sich zu ziehen. Sie verlor das Gleichgewicht und landete auf seinem Schoß, eine erfreuliche Überraschung. Bei dem plötzlichen Kontakt weiteten sich ihre großen blauen Augen und ihre Zunge schnellte hervor, um ihre Unterlippe zu befeuchten, nur Zentimeter von seiner eigenen entfernt.

„Warum ist dir das so wichtig, hmm?“, wollte er wissen. „Ich dachte, du würdest bestimmt mich benutzen, um es zu tun, aber jetzt denke ich, dass du es selbst tun möchtest. Es ist etwas Persönliches, das merke ich. Was ist passiert, dass du gewillt bist, deine eigene Seele für deine Rache aufs Spiel zu setzen?“

Sie biss auf ihre Lippe und wandte den Blick ab.

„Er hat jemandem… jemandem, den ich liebte, geschadet“, sagte sie. Tränen schimmerten in ihren Augen.

Eifersucht stieg in Ephraims Kehle hoch, heiß und brennend.

„Ein Mann? Ein Gefährte?“, fragte er. Er streckte seine Hand aus und drehte ihr Gesicht zurück zu seinem, sodass er ihr direkt in die Augen blicken konnte.

„Nein“, antwortete sie und ihre Miene verdüsterte sich. „Kein Gefährte. Und mehr als das werde ich nicht sagen. Also kannst du das Thema genauso gut fallen lassen.“

Erleichterung durchflutete ihn und führte ihm vor Augen, wie stark sein Verlangen nach Sophie wirklich war.

„Ich brauche etwas von dir“, sagte er, während er den Drang niederkämpfte, sie an seine Brust zu drücken und ihre Lippen mit einem fordernden Kuss zu verschließen.

„Was?“, fragte sie, ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern.

„Wenn du mich in einen unmöglich zu gewinnenden Kampf schickst… ich fürchte mich nicht davor zu sterben, Sophie. Ich möchte nur nicht, dass meine letzte Tat ein Befehl ist, ein Meister, der seinen Sklaven befehligt. Was auch immer du von mir brauchst, ich werde es dir geben. Aber bitte… frag mich einfach danach.“

Eine einzelne Träne quoll aus ihrem Augenwinkel und kullerte ihre Wange hinab. Er konnte bereits die abwiegelnden Worte auf ihren Lippen sehen und er konnte nicht zulassen, dass sie sie laut aussprach.

„Du bist die einzige Gefährtin, die ich jemals kennen werde, Sophie. Bitte nimm mir das nicht. Ich werde alles für dich tun, ich schwöre es. Alles.“

Sophie schloss einen Moment die Augen, während sie mit sich rang.

„Ich würde dich niemals gegen Papa Aguiel in die Schlacht schicken“, beteuerte sie und öffnete nach einer langen Weile die Augen. „Ich habe dir doch schon erzählt, dass ich diejenige sein werde, die ihn besiegt.“

„Was dann? Warum hast du all die Mühen auf dich genommen, um an meine Schlüssel zu gelangen? Du musst mich für irgendetwas brauchen“, sagte er, blickte suchend in ihr Gesicht und fand keine Antworten.

Eine weitere Träne rollte über ihr Gesicht und Sophie wischte sie weg.

„Ephraim?“, fragte sie. „Ich werde es dir nicht befehlen, aber… bringst du mich ins Bett? Dein Bett, in deinem Zufluchtsort. Es könnte…“ Ihre Stimme brach und mit ihr auch ein Teil von Ephraims Herz. „Es könnte sehr gut unsere letzte Chance sein, unsere letzte gemeinsame Nacht.“

Ephraim konnte ihrem Vorschlag nicht widerstehen, nicht wenn ihn die starke, sture Sophie mit diesen großen, tränengefüllten blauen Augen anschaute.

Seine Arme um sie schlingend, transportierte er sie beide zu seinem Maladh.