Tumult beschrieb nicht einmal annähernd den Zustand des French Quarter, als Sophie und Ephraim im bewaffneten SUV der Wächter die Decatur Street entlangfuhren. Duverjay chauffierte alle Männer sowie Alice und Echo, denen es anscheinend erlaubt war auf so eine gefährliche Mission mitzukommen. Als sie am French Market vorbeifuhren und den normalerweise vorhandenen Einbahnstraßen keinerlei Beachtung schenkten, lag der Ort völlig verlassen da.
Mit Ausnahme der umhertaumelnden Leichen und der Besessenen, die zahlreich vorhanden waren. Ganze Gruppen von ihnen bewegten sich in Schwärmen in diese und jene Richtung, mit nur einem Ziel im Kopf wie eine Herde Schafe, die vorwärts getrieben wurde… aber wohin?
„Scheiße, dort ist eine Gruppe Menschen, die vom Riverwalk wegrennen“, sagte Aeric und deutete zu dem geteerten Bereich, an dem das French Quarter auf den Mississippi traf. „Sie machen auf mich nicht unbedingt den Eindruck von Besessenen.“
„Fahr rechts ran“, befahl Rhys Duverjay. „Und wage es ja nicht, Echo aus diesem Wagen zu lassen.“
Sophie zog eine Braue hoch. Das war also der Deal, den Echo ausgehandelt hatte? Sie durfte den Graumarkt verlassen, aber wurde gezwungen, im Auto zu bleiben? Ziemlich unfair, Sophies Meinung nach.
Ihr eigener Gefährte betrachtete sie, als würde er sich nichts sehnlicher wünschen, als sie ebenfalls dazu zu zwingen, aber er blieb bloß angespannt und stumm. Als der SUV quietschend anhielt, stiegen sie alle nacheinander aus. Die Hälfte der Wächter ging auf die näherkommenden Menschen zu, aber das war vergebene Liebesmüh. Nach einigen Momenten blieben die Menschen wie angewurzelt stehen und starrten ins Leere.
„Papa Aguiel hat sie bereits seinem Zauber unterworfen“, stellte Ephraim an Sophie gewandt fest. Sie nickte. In einem fürchterlichen Moment drehten sich die Menschen einheitlich um und begannen zurück zum Fluss zu wanken.
„Er befindet sich auf dem Dampfschiff Natchez“, sagte Sophie, die auf einen hellen Blitz blauen Lichtes deutete, der sich in den Nachthimmel erhob. „Er kanalisiert wahrscheinlich rohe Elementarmagie direkt vom Fluss und stärkt damit seine Kontrolle über die Besessenen.“
Die Hand in ihre Tasche schiebend, vergewisserte sich Sophie, dass der dünne Samtbeutel, in dem sich der schwarze Edelstein befand, noch immer da war. Er schien auf sie zu warten.
Während sie und Ephraim und die restlichen Wächter sich beeilten, den besessenen Menschen zu folgen, machte Papa Aguiel seine Gegenwart deutlicher. Magieblitze stoben nacheinander in den Himmel und man konnte eine dunkle Gestalt am Deck des Schiffes erkennen, die in das gleiche blaue Licht gehüllt war.
Während Sophie sich das Gehirn zermarterte auf der Suche nach verzweifelten, last-minute Ideen, wie sie den Edelstein an Papa Aguiel anwenden könnte, ohne Ephraim mit rein zu ziehen, nahm ihr Gefährte seine Bärengestalt an und galoppierte auf eine große Gruppe Zombies zu, die vom östlichen Ende der Stadt herbei trotteten.
Als sie ihn beim Kämpfen beobachtete und die Viertelmeile an Feinden und Kämpfen, die zwischen den Wächtern und Papa Aguiel lagen, abschätzte, erkannte Sophie, dass sie keine Wahl hatte. Ja, sie könnte Ephraim für immer verlieren, wenn sie ihre Befehlsmacht gegen ihn verwendete. Ja, es würde sie zerstören; wenn der Seelendieb ihre Aura nicht permanent vernichtete, dann würde es die Tatsache, dass sie Ephraim verjagt hatte.
Doch wenn sie es nicht tat… würden sie und Ephraim beide sterben, gemeinsam mit dem Rest der Stadt, vielleicht sogar mit der ganzen Welt. Lilys Geist würde für die Ewigkeit an Papa Aguiels gebunden sein und nie in der Lage sein, in die nächste Welt weiterzuziehen.
Was ihre Wahlmöglichkeiten betraf, so war eine schlimmer als die andere. Aber die Vorstellung, dass Lilys Vermächtnis Teil dessen war, was der Untergang der Menschheit sein würde…
„Ephraim!“, brüllte sie und versuchte, seine Aufmerksamkeit zu erregen, bevor sie den Mut verlor. Sie verfluchte sich bereits, zog dennoch die Schlüssel aus ihrer hinteren Hosentasche und hielt sie in die Höhe. „B-bring mich zu deiner Zuflucht!“
Der Zorn auf seinem Gesicht war nicht zu übersehen. Er kam zu ihr, seine Bewegungen so starr und ruckartig wie die der Besessenen, die sie vorhin beobachtet hatte. Tränen rannen Sophie übers Gesicht, während sie nur dastand und auf ihn wartete in dem Wissen, dass sie gerade die besonderste Sache in ihrem ganzen beschissenen neuen Leben vernichtet hatte.
Als Ephraim ihre Hand in einen schmerzhaften Griff nahm, zuckte sie nicht zusammen. Sie hieß den Schmerz willkommen. Er schloss die Augen und transportierte sie in Windeseile vom Schlachtfeld. Ephraims ruhiges, ätherisches Maladh war Balsam für ihre Sinne, aber sie wollte nichts davon.
„Geh nicht“, bat Ephraim sie mit knirschenden Zähnen. „Was auch immer du tun willst, bitte tu es nicht. Sophie…“
„Er hat meine Schwester getötet“, erklärte Sophie ihm. „Weil sie unschuldig war, hat er sie benutzt, um in dieser Welt Fuß zu fassen. Ihr Geist kann nie Ruhe finden, weil ein Teil von ihr für immer an ihn gebunden ist.“
Ephraim wandte sich von ihr ab, doch Sophie brauchte ihren endgültigen Abschied.
„Bleib stehen“, befahl sie ihm.
Seine Wut war beinahe greifbar, aber Sophie lief einfach um ihn herum, schlang ihre Arme um seine Schultern und umarmte ihn fest. Sie hob sich auf die Zehenspitzen, um seine unnachgiebigen Lippen zu küssen, wobei sie ihm jedoch nicht in die Augen blicken konnte. Seine Abscheu war mehr als sie momentan ertragen könnte.
„Ich muss das tun, allein. Es wird mich umbringen, wahrscheinlich. Ich kann nicht zulassen, dass du dieses Opfer begehst, für keinen Grund der Welt“, erzählte sie ihm. „Ich werde den Gang hinabgehen ins Reich der Geister und ich werde wahrscheinlich nicht zurückkommen.“ Sie blickte für den Bruchteil einer Sekunde zu ihm hoch, nur um das reine Feuer bestätigt zu wissen, das sie in seinem Blick sah. „Ich hätte sowieso nichts oder niemanden, zu dem ich zurückkehren könnte, nicht nach dem hier. Ein Vorteil des Ganzen ist, dass die Schlüssel vermutlich mit mir sterben werden. Ich denke… ich habe einige Nachforschungen angestellt und ich denke, dass du befreit werden wirst, wenn mein Geist sich auflöst.“
Sie steckte die Schlüssel in ihre Tasche und wandte sich zum Gehen.
„Folg mir nicht. Das ist mein letzter Befehl. Und Ephraim – “ Sie blickte ein letztes Mal zu ihm zurück, wischte ihre Tränen weg und versuchte, tapfer zu sein. „Es tut mir leid. Du hast jemand so viel Besseren als mich verdient.“
Daraufhin verließ Sophie ihn und hielt nicht an, bis sie den Gang erreichte. Nach einem tiefen, stärkenden Atemzug riss sie die Tür zum Reich der Geister auf und trat hindurch, ohne zu stoppen, nicht einmal um erneut zurückzublicken.
Das war ihr Schicksal.