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Ephraim stand mehrere Minuten stocksteif da, denn Sophies Befehl hielt ihn in so festem Griff, dass er nicht einmal daran denken konnte, Widerstand zu leisten. Er hörte in der Ferne eine Tür zuschlagen und wusste, dass sie durch das Portal ins Reich der Geister getreten war. Seine Muskeln verankerten ihn an Ort und Stelle, aber sein Verstand begann sich zu entspannen.

Für einen kurzen, schuldbewussten Augenblick überlegte Ephraim, sie einfach gehen zu lassen und auf das unabwendbare Ende der Nacht zu warten. Wenn Sophie im Reich der Geister starb, bestand eine Chance, dass sie ihn tatsächlich zufällig von seiner Knechtschaft befreite.

Aber nein. Sie war sein, seine Gefährtin. Sein zu beschützen und zu lieben, sein zu retten. Er konnte sie nicht allein gehen lassen, ganz egal was das für ihn persönlich bedeutete.

In dem Moment, in dem sich der Zauber so weit lockerte, dass er anfangen konnte, sich zu bewegen, begann er, sich dazu zu zwingen einen Fuß vor den anderen zu setzen. Blendender, sengender Schmerz donnerte durch seine Adern, schrie qualvoll in seinem Kopf, aber er lief weiter. Er ging weit über seine Grenze hinaus, ignorierte, was er tun konnte und konzentrierte sich stattdessen darauf, was er tun musste.

Es bis zur Tür zu schaffen, dauerte länger als er gedacht hatte. Sie zu öffnen und durch sie hindurch ins Reich der Geister zu treten, war unerträglich. Zitternd schob er sich weiter, wobei er versuchte, sich schneller zu bewegen. Er dachte an nichts anderes als sein verzweifeltes Verlangen, zu ihr zu gelangen.

Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, aber schließlich fand er sie. Sie stand vor einer Art Wand, wenn man es denn so nennen konnte. Die Wand war mitternachtsblau und so hoch und breit wie das Auge reichte. Sie war mit tausenden oder vielleicht Millionen der filigransten vorstellbaren weißen Punkte übersät. Winzige, funkelnde Lichter, die vor dem Dunkelblau tanzten wie Sterne, die den Nachthimmel überzogen.

Ein einzelner Stern hob sich vom Rest ab, hing eine Armlänge über Sophies Kopf und loderte in einem feurigen Blau.

„Sophie“, sagte er, um ihre Aufmerksamkeit zu erhalten.

Als sie sich umdrehte, zuckte sie zusammen und schien in sich zusammen zu fallen.

„Du bist… hier? Aber wie?“, fragte sie.

Ihr Gesicht war rot und geschwollen vom Weinen und sie umklammerte den verhüllten Edelstein mit beiden Händen.

„Ich kann Befehlen widerstehen. Es ist nur… sehr, sehr schmerzhaft. „Du bist meine Gefährtin, Sophie. Wir sind aneinander gebunden, ganz egal was auch passiert. Ich konnte dich nicht allein hierherkommen lassen.“

Ihre Schultern sackten zusammen. Falls er Freude von ihr erwartet hatte, so wurde er enttäuscht.

„Ich gebe dich frei“, sagte sie kopfschüttelnd.

Sofort verschwand sein Schmerz, obwohl seine Ohren nach wie vor kaum merklich klingelten.

„Was ist das?“, fragte er und trat zu ihr, um sich neben sie zu stellen.

„Ich habe auch eine Minute gebraucht, um es zu verstehen.“ Sie schürzte die Lippen. „Dieses blaue Licht… das ist Papa Aguiel. Und alle anderen…“

Sie schwenkte ihre Finger, um auf die restlichen Lichter hinzuweisen.

„Sind alles Seelen?“, fragte er und sie nickte.

„So muss es sein.“

„Steck das eine Sekunde in deine Tasche“, sagte Ephraim und nickte zu dem Stein, den sie festhielt.

Als sie seiner Forderung nachkam, wenngleich langsam, streckte Ephraim eine Hand aus und fasste sie an der Taille. Er schockierte sie, indem er sie an seinen Körper zog, fest. Er eroberte ihre Lippen mit einem fordernden, hungrigen Kuss und gab sie erst wieder frei, als sie beide atemlos und sehnsüchtig waren.

Das?“, sagte er und legte seine Stirn an ihre. „Das ist unser Band, Sophie. Du kannst mich nicht Papa Aguiel töten lassen? Tja, ich kann es dir auch nicht erlauben. Wenn wir Schicksalsgefährten sind, und ich denke, das ist mittlerweile nicht mehr zu leugnen, dann sollen sich unsere Leben eigentlich miteinander verweben. Zusammenwachsen für den Rest unserer Existenz.“

„Ephraim, ich kann dich das nicht tun lassen.“

„Was du vorhin gesagt hast, darüber, dass du nichts haben wirst, zu dem du zurückkehren kannst? Wenn du das hier durchziehst, werde ich auch nichts haben.“

In dieser Position standen sie eine Minute da und starrten einander an. Sophie stieß schaudernd Luft aus und unterbrach den Blickkontakt.

„Dann haben wir hier eine Pattsituation, Ephraim. Was schlägst du also vor?“, fragte sie mit trauriger Stimme.

„Wir machen es gemeinsam. Was auch immer passiert, passiert uns beiden. Keiner von uns wird allein zurückbleiben.“

Eine frische Träne hinterließ eine Spur auf Sophies Gesicht.

„Ich verdiene dich wirklich nicht, Ephraim.“

„Wir verdienen einander“, erwiderte er und schüttelte sacht den Kopf. „Ich verstehe das jetzt.“

„Was denkst du, wird geschehen?“, fragte sie und ihre Worte machten ihm Hoffnung.

„Ich kann es nicht sagen. Vielleicht… wenn wir großes, großes Glück haben, kann jeder von uns ein wenig von dem Bösen aufnehmen anstelle der ganzen Dosis… Wenn nicht, wo auch immer wir hingehen, zumindest werden wir zusammen sein.“

Sie biss auf ihre Lippe und holte den Edelstein aus ihrer Tasche. Anschließend schnürte sie den schwarzen Samtbeutel auf und blickte erneut zu ihm empor.

„Bist du dir sicher?“, fragte sie.

Ephraim nickte feierlich.

Sie ließ den Stein in ihre beiden Hände fallen, auf die Stelle, an der sich Ephraims Finger mit ihren verflochten hatten. Ephraim grunzte wegen des sengenden Brennens, das der Edelstein auf seiner Haut erzeugte, aber zuckte nicht zurück.

„Gemeinsam“, flüsterte Sophie.

Sie reckten ihre Hände und sprangen beide nach oben, um den Edelstein gegen den leuchtenden blauen Stern in dem endlosen Mitternachtshimmel zu schlagen. Zu Ephraims Überraschung saugte der Edelstein an dem Stern und der Stern saugte an dem Edelstein, wobei er Magie aus einer tiefen Quelle irgendwo tief in seinem Inneren zog.

Den Zauber mit Energie versorgte.

Plötzlich wurde der Edelstein unerträglich heiß und als Ephraim Sophie davon wegriss, zersplitterte er. Tausende Splitter aus reiner Dunkelheit prasselten auf sie nieder, bedeckten sie, regneten von oben auf sie herab und füllten Ephraims Bewusstsein mit einer undurchdringlichen Schwärze.

Das Letzte, was er bemerkte, war das Gefühl von Sophies Handfläche, die sich noch immer gegen seine presste.

Alles andere verschwand.