Sophie kam zu Bewusstsein, während sie neben Ephraim in einer Welt aus gedämpftem, endlosem Weiß stand. Weißer Nebel schwebte überall und klebte feucht an Sophies Haut. Er hätte sich meilenweit erstrecken oder wenige Schritte von Sophies Gesicht entfernt enden können. Es war unmöglich zu sagen.
„Wo sind wir?“, fragte Ephraim. Seine Stimme war leise und verzerrt, als würde er aus weiter Ferne zu ihr sprechen.
Sophie schüttelte den Kopf und griff mit ihrer Hand nach seiner, die er ihr anbot. Ihre Finger mit seinen zu verschränken, beruhigte und erdete sie trotz ihrer Umgebung.
„Glaubst du, wir sind gestorben?“, fragte sie nach einem Moment.
Ephraim blickte zu ihr und schüttelte dann den Kopf.
„Ich glaube nicht.“
„Siehst du das?“, erkundigte sich Sophie und deutete nach links. Sie stierte mit zusammengekniffenen Augen in die Ferne, da sie glaubte, sie könnte etwas erkennen… nun, sie war sich nicht sicher was.
„Ist das ein Baum?“, fragte Ephraim. „Lass uns nachsehen.“
Er drückte ihre Hand beruhigend und zog sie sachte zu der undefinierbaren Form. Und tatsächlich, als sie sich darauf zu bewegten, lichtete sich der Nebel. Dort erhob sich ein einzelner Fächerahorn hoch in den Himmel, dessen rote Blätter einen starken Kontrast zu dem Weiß der Welt boten. Neben ihm befand sich ein kleiner Teich mit einem Ufer, das von perfekt gerundeten Steinen gesäumt war. Direkt unter dem Baum stand eine kunstvoll geschnitzte Holzbank und auf der Bank saß eine einsame Gestalt.
Selbst aus der Ferne und obgleich die Schultern der Gestalt nach vorne gebeugt waren und ihre Nase in einem großen grünen Buch steckte, erkannte Sophie sie sofort.
„Lily“, keuchte sie. „Ephraim, das ist meine Schwester.“
Tränen schossen ihr schlagartig in die Augen. Sie ließ Ephraims Hand nicht los und zerrte ihn stattdessen mit sich. Als sie nah genug waren, dass man ihre Schritte hören konnte, blickte Lily auf und schenkte ihnen ein bezauberndes Lächeln. Sie klappte ihr Buch zu, legte es beiseite und erhob sich, wobei sie über ihr schlichtes weißes Kleid strich. Ihre langen blonden Haare waren ordentlich geflochten, ihre Wangen rosig.
„Da bist du ja“, sagte Lily, als wäre alles in bester Ordnung.
„Oh, Lily!“, schluchzte Sophie, ließ Ephraim doch noch los und warf sich in die Arme ihrer Schwester.
„Oh – “, versuchte Lily sie zu warnen, aber Sophies Enthusiasmus war einfach zu groß.
Sie trat direkt durch den solide wirkenden, aber letztendlich substanzlosen Körper ihrer Schwester.
„Sorry“, entschuldigte sich Lily, die eine Grimasse schnitt. „Hier… ist nichts… von Dauer. Du wirst nichts berühren können.“
Sophie schlang ihre Arme um sich in dem Bemühen, den plötzlichen Anflug von Trauer darüber, dass sie ihre Schwester nicht umarmen konnte, zurückzuhalten. Es war nur so, dass Lily jetzt so nah war… und dennoch irgendwie eine Welt entfernt.
„Ich vermisse dich so sehr, Lil. Ich… es war wirklich hart ohne dich“, sagte Sophie langsam.
„Das habe ich bemerkt. Du bist nicht gerade gut mit meinem Tod zurechtgekommen. Ich habe dich von hier beobachtet“, erwiderte Lily. „Es war schlimm, das Ganze mitzuverfolgen.“
„Ich habe so viele Fragen. Hauptsächlich… geht’s dir hier gut? Ist es… es wirkt einsam“, platzte es aus Sophie heraus.
„Wo sind wir?“, fragte Ephraim und räusperte sich.
Lily drehte sich um und bedachte ihn mit einem Blick.
„Du musst der Gefährte meiner Schwester sein“, stellte sie fest und klemmte sich eine Haarsträhne hinter ihr Ohr. Sie zog an Sophie gewandt eine Augenbraue hoch. „Gut aussehend.“
„Lily…“ Sophie war wahrhaft ratlos. „Warum sind wir… wo auch immer wir sind?“
„Wir sind… lasst uns einfach sagen, dazwischen. Es ist einsam hier, sicher, aber auf der anderen Seite gibt es haufenweise andere Leute. Als ihr zwei diesen schrecklichen Mann vernichtet habt, habt ihr den letzten Teil meiner Seele befreit, den Papa Aguiel ziemlich übel beschmutzt hat. Dabei habt ihr auch eure eigenen Seelen beschädigt. Also sind wir jetzt alle hier, dazwischen. Das ist der Ort, an dem wir gereinigt und dann auf unseren Weg geschickt werden.“
„Auf unseren Weg wohin genau?“, fragte Ephraim rasch.
„Lily, willst du damit sagen, dass du mit uns zurück ins Reich der Menschen kommst? Oder werden wir… werden wir ins Nachleben übergehen?“, fragte Sophie, deren Herz zu hämmern begann.
Lily schenkte ihr ein trauriges Lächeln.
„Wir gehen in unterschiedliche Richtungen. Ihr geht zurück“, sagte sie und deutete. Als Sophie in die Richtung blickte, in die Lily zeigte, konnte sie sehen, dass sich dort die zarten Umrisse eines Portals abzeichneten, das in einem hellgelben Licht leuchtete.
„Und du?“, wollte Sophie wissen.
Lily deutete abermals, dieses Mal in die entgegensetzte Richtung. „Nach vorne“, lautete ihre einzige Erklärung für ein Zwillingsportal, welches rosa leuchtete.
„Oh“, sagte Sophie, deren Schultern zusammensackten.
„Ich wollte dich mit mir dorthin nehmen“, erklärte Lily und legte den Kopf schief. „Ich wollte nicht, dass du allein bist. Aber jetzt… jetzt kann ich es nicht tun. Ich kann sehen, dass auf euch beide noch wirklich Großes wartet.“
Tränen rannen über Sophies Wangen. Sie schaute zu Ephraim, der an ihre Seite trat und wieder ihre Hand nahm.
„Das tut es“, bestätigte Ephraim. „Stimmt’s, Sophie?“
Sophie nickte langsam, betrachtete Lily jedoch nach wie vor sehnsüchtig.
„Ehrlich? Die Zeit ist hier so anders“, sagte Lily und schaute sich um. „Für mich wird es sich nur wie ein Wimpernschlag anfühlen und dann werden wir alle wieder vereint sein.“
„Du scheinst dir dessen ziemlich sicher zu sein“, stellte Ephraim mit hochgezogenen Brauen fest.
„Das bin ich“, verkündete Lily. Sie schürzte die Lippen. „Fürs Erste allerdings… kümmert euch gut um einander, ihr zwei. Ich werde euch im Auge behalten, um sicherzugehen.“
Beide Portale wurden immer heller und Lily seufzte.
„Das ist unser Stichwort“, sagte sie. „Könnt ihr mir bitte einen Gefallen tun? Nehmt dieses Buch mit und sorgt dafür, dass Mere Marie es erhält. Sie wird es brauchen.“
Sie hob den schweren in Leder gebundenen Wälzer auf und drückte ihn Sophie in die Hände. Sophie war nach ihrer Erfahrung, Lily berühren zu wollen, schockiert wie schwer und echt es war.
„Was ist das?“, fragte sie.
„Zerbrich dir darüber nicht den Kopf“, sagte Lily und winkte mit der Hand. „Mich hat lediglich jemand gebeten, es weiterzugeben.“
Ihre Gestalt flackerte und wurde durchsichtig.
„Lily, ich vermisse dich so sehr“, sagte Sophie.
„Ich dich auch, Soph. Genieß einfach das Leben in vollen Zügen, so sehr, dass es für uns beide reicht. Ich werde dich schon bald wiedersehen, ich verspreche es.“
Lily schenkte ihr ein letztes Lächeln und lief dann zu dem Portal. Sophie spürte, dass Ephraim sie sanft in die entgegengesetzte Richtung zog und sie ließ sich von ihm wegführen. Lily verschwand in einem Aufblitzen von Rosa und kurz darauf trat Sophie durch ihr eigenes Portal, das Buch an ihre Brust gepresst.
Eine sanfte Welle reiner weißer Magie strich im Vorbeigehen über sie und sie konnte fühlen, wie die Schichten der dunklen Magie weggefegt wurden, das Resultat ihrer starrköpfigen Kampagne gegen Papa Aguiel.
Es war, als würde sie die sauberste Luft tief einatmen, in kristallklares, kaltes Wasser tauchen. Reinigend, säubernd und bis in die Seele befriedigend.
Als Sophie und Ephraim wieder in dem endlosen Gang seines Maladh landeten, sah sie zu ihm und lächelte.
„Deine Aura… sie ist völlig rein“, sagte sie.
„Deine auch. Und ich habe noch eine Überraschung“, sagte er und zog eine Braue hoch.
„Ja?“
Er nahm Sophies Hand und führte sie an seinen Hals. Ihre Finger trafen auf nichts als glatte, warme Haut.
„Dein Halsband ist verschwunden!“, stellte sie verblüfft fest.
„Du hast das für mich getan“, sagte er, während sich langsam ein Lächeln auf seinen Lippen ausbreitete.
„Was? Wie?“, fragte sie und Röte stieg ihr in die Wangen.
„Dein größter Wunsch war es, Papa Aguiel zu vernichten, allein. Als du mir erlaubt hast, dir zu helfen, hast du diesen Wunsch geopfert… und mich damit befreit.“
„Warum hast du nicht vorher schon etwas gesagt?“, fragte sie und schlug ihm leicht auf den Arm.
„Oh, ich weiß nicht. Die Welt retten, den Geist deiner Schwester sehen… es war eine Menge los“, scherzte er.
„Oh, Ephraim“, seufzte Sophie. Sie legte das Buch beiseite und schlang ihre Arme um ihn. Sie umarmte ihn fest, wobei sie sich zum hundertsten Mal an diesem Tag bemühte, nicht zu weinen. „Was werden wir jetzt tun? Wir waren so damit beschäftigt zu versuchen, die Welt zu retten, dass wir dieses Gespräch nicht einmal geführt haben.“
„Weißt du, was wundervoll ist?“, fragte er, während er ihr übers Haar streichelte.
„Hmm?“
„Wir können überall hingehen, alles tun. Wir wissen, dass wir Schicksalsgefährten sind und das war der schwere Teil. Nachdem wir so lange gegen unsere Gefühle angekämpft und versucht haben, nicht zu sterben, können wir einfach… allein sein, einander kennenlernen, beschließen, was wir wollen. Wir haben die Lebenszeit Unsterblicher, um das alles zu tun.“
Sophie wich leicht zurück und blickte zu ihm hoch. Jetzt brannten ihr definitiv Tränen in den Augen, sie kam einfach nicht dagegen an.
„Ja?“, war alles, das sie hervorbrachte.
„Absolut“, schwor er. „Für den Moment… würde ich sagen, dass wir zurück ins Reich der Menschen gehen und nach den Wächtern sehen. Vergiss nicht, dass wir noch ein rätselhaftes Buch übergeben müssen. Wie klingt das?“
„Es könnte nicht perfekter sein“, stimmte Sophie zu. „Lass uns gehen.“
Sophie verschränkte ihre Finger mit Ephraims und grinste. Mit ihm würde sie überall hingehen, alles tun, was er wollte.
Immerhin war er ihr Gefährte fürs Leben… für immer und ewig.