Epilog

„In Ordnung. Ich denke, ich werde mich für die Nacht zurückziehen“, verkündete Mere Marie mit einem reumütigen Seufzen. „Nach fast zwei Tagen des Feierns, bin ich erledigt. Ich bin zu alt für das hier.“

Sie waren alle in der Küche versammelt, nippten St. Germain Punsch und tauschten fast-das-Ende-der-Welt Geschichten aus. Rhys und Gabriel schnaubten beide, doch Mere Marie deutete lediglich auf Baby Marie, die tief und fest an Cassies Schulter schlief.

„Sie hat die richtige Idee“, verkündete Mere Marie und streichelte dem Baby liebevoll über den Rücken.

„Morgen sollten wir übers Geschäftliche reden“, sagte Aeric, der sich dehnte und sein Sektglas wegstellte. „Jetzt, da wir unsere zwei größten Feinde besiegt haben, würde mir die Vorstellung gefallen, dass die Wächter eine Art Friedenswahrer werden… anstatt ständig zu versuchen, eine Apokalypse aufzuhalten.“

Mere Marie nickte.

„Das Herrenhaus gehört den Wächtern und ihren Familien“, sagte sie und lächelte abermals das schlafende Baby an. „Ich hoffe, dass so viele wie möglich von euch hierbleiben, dauerhaft.“

„Es gibt noch genügend Zeit, um das alles zu klären“, meinte Rhys, der den Rest seines Drinks in einem Zug leerte.

„Tatsächlich… haben wir in diesbezüglich Neuigkeiten“, meldete sich Kira zu Wort. „Jetzt, da sich die Dinge beruhigt haben, werden Asher und ich eine Weile weggehen. Reisen, die Welt anschauen. Wir haben eine Menge nachzuholen.“

Sie griff nach unten und nahm Ashers Hand und der bewundernde Blick, den er Kira schenkte, war so liebevoll, dass es beinahe schon übelkeitserregend war. Er küsste ihren Scheitel und strahlte sie an, alles andere um ihn herum war vergessen.

„Nun, wie Rhys sagte. Das sind alles Dinge, die wir morgen besprechen können. Fürs Erste denke ich, klingt eine Nacht erholsamen Schlafs wundervoll“, erwiderte Mere Marie.

Nach einer Runde Gute Nachts lief sie nach oben und schlüpfte in ihr Nachthemd. Sie ließ ihre langen weißen Haare offen über ihren Rücken fallen und setzte sich auf ihre Bettkante. Dann wurde sie vor Schreck beinahe ohnmächtig. Die Kerzen flackerten, manche verloschen.

Der Raum wurde kalt.

Und dort war er. Mitten in ihrem Schlafgemach, geisterhaft, aber allzu präsent, stand Le Medcin.

„Monsieur“, sagte sie, neigte in einer respektvollen Geste den Kopf und presste ihre Hand auf ihr hämmerndes Herz. „Sie haben mich erschreckt.“

Er trug seinen üblichen hochwertigen, aber uralt aussehenden Anzug, dessen taubengrauer Stoff seine ebenholzfarbene Haut noch dunkler wirken ließ. Allein ihn anzuschauen, faszinierte und widerte sie an, genauso wie seine Magie.

„Du hast dich sehr gut geschlagen, Marie“, sagte er. Seine tiefe Stimme jagte ihr einen Schauer Gänsehaut über die Arme.

„Dankeschön, Monsieur.“ Sie wartete, weil sie wusste, dass er aus einem bestimmten Grund hier sein musste.

„Deine Wächter waren sehr erfolgreich, so viel erfolgreicher als ich erwartet hatte. Dennoch…“, er hielt einen Moment inne. „Die Welt der Menschen befindet sich in einer sehr gefährlichen Lage. Der Krieg zwischen Himmel und Hölle, Gut und Böse… Die Gezeiten verändern sich und nicht zu unserem Vorteil.“

Sie war überrascht zu hören, dass sich Le Medcin selbst der guten Seite zugehörig fühlte. Oder überhaupt irgendeiner Seite… bis zu diesem Moment hatte sie ihn als wahrhaft neutrale Gewalt betrachtet. Als Schiedsrichter zwischen Gut und Böse, wenn man so sagen wollte.

„Ich verstehe“, war alles, was ihr zu sagen einfiel.

„Du wirst deine Angelegenheiten regeln müssen“, erklärte er und wechselte das Thema. „In vierundzwanzig Stunden lernst du deine neuen Schützlinge kennen.“

„Ich – was?“, fragte sie verwirrt.

„Komm“, sagte er und winkte sie zu dem breiten magischen Spiegel in der Ecke ihres Schlafzimmers. Indem er einen einzigen geisterhaften Finger auf die Spiegeloberfläche presste, sorgte er dafür, dass diese Wellen schlug und sich veränderte, ein Bild formte.

Ihr Blickwinkel war merkwürdig, aber nach einem Moment richtete er sich aus. Dicke schwarze Stahlrohre formten einen Käfig und verdeckten einen Teil dessen, was sie sehen konnte, aber die Insassen des Gefängnisses waren sonnenklar zu erkennen.

Drei bullige, muskulöse Männer. Bedeckt mit Tattoos und mit wilden, hassverzerrten Mienen. Sie standen mit verschränkten Armen da und starrten Mere Marie direkt an, als ob sie irgendwie wüssten, dass sie sie beobachtete.

Am Außergewöhnlichsten war jedoch, dass alle drei Männer jeweils ein Paar prächtiger Flügel besaßen, die sich hoch über ihren Köpfen erstreckten.

„Engel“, flüsterte Mere Marie, der das Wort ohne langes Nachdenken in den Sinn kam.

„Gefallene Engel“, korrigierte Le Medcin mit einem Seufzen. „Diese drei waren... problematisch. Wir brauchen jemanden, der in den kommenden Tagen ein Auge auf sie hat. Man glaubt, dass sie eine Schlüsselrolle für die Kräfte des Guten spielen werden, welche das menschliche Reich beschützen und Luzifer daran hindern, auf der Erde zu wandeln und jede lebende Seele der Welt in seine Herrschaft zu bringen.“

Mere Maries Mund öffnete und schloss sich wieder. Sie war selten sprachlos, aber das… das war etwas völlig anderes.

„Der Teufel ist dort draußen, Marie. Und er ist viel größer und gemeiner und klüger als die Kräfte, gegen die du hier gekämpft hast. Diese drei Krieger, die ich dir gebe… sie hätten großartige Wächter abgegeben, aber jetzt brauchen wir sie für einen höheren Zweck. Genauso wie wir dich für einen höheren Zweck brauchen. Mach dich bereit.“

„Aber warum jetzt?“ Diese Frage musste sie einfach stellen.

Le Medcin betrachtete sie einen schweigenden Herzschlag lang und schien abzuwägen, wie viel er ihr erzählen konnte.

„Ich kann es nicht beweisen, aber die Hölle verändert die Waagschalen irgendwie. Wir dürfen nicht zulassen, dass sie damit weitermachen. Sie werden die Welt dezimieren, alle Menschen und Kith versklaven und Feuer vom Himmel regnen lassen.“

„Ich… okay“, war alles, das sie herausbrachte, ehe er erneut sprach.

„In einem Tag ab jetzt werde ich dich holen. Pack leicht und nimm nur mit, was du brauchst.“

Er drückte ihr eine cremefarbene Visitenkarte in die Hände und sie versuchte, bei der eisigen Berührung seiner Haut auf ihrer nicht zu erschaudern. Dann war er fort, verschwunden wie die Erscheinung, die er war.

Sie starrte hinab auf die Karte, die sie mit zitternden Fingern umklammerte.

„Les Mercenaires“, las sie laut vor.

Das kam ihr bekannt vor…

Cairns leises Schnurren füllte den Raum, als er hereinschlüpfte, um sich um ihre Beine zu schlängeln. Der schwarze Kater setzte sich zu ihren Füßen und sah mit seinen leuchtenden Augen zu ihr empor.

„Geht’s dir gut?“, fragte er sanft.

„Fang an, alle wichtigen Bücher zu packen“, trug sie ihrem Vertrauten auf. „Wir verlassen das Herrenhaus morgen Abend.“

„Für wie lange?“, wollte er wissen.

„Ich weiß es nicht.“

„Wohin gehen wir?“

„Ich weiß es nicht.“

„Nun, was weißt du überhaupt?“

Sie blickte auf den Kater, ein kühles Lächeln auf den Lippen.

„Ich denke, unser Leben steht im Begriff sehr interessant zu werden“, antwortete sie achselzuckend.

Damit drehte sich Mere Marie um und begann sich darauf vorzubereiten, ihren ersten gefallenen Engel kennenzulernen.