6. Kapitel

Melbourne, 1946

Es war kurz nach Mitternacht, als Rebecca ins Haus ihrer Mutter schlüpfte, die Schuhe auszog und lautlos wie eine Diebin die Treppe hinaufschlich. Ihre Hand strich über das glatte Geländer. Hier riskierte man keine Splitter in der Haut. In diesem Haus war alles blank poliert, da Mrs. Swift darauf bestand, dass Rebecca zweimal die Woche jedes Zimmer von oben bis unten schrubbte.

Rebecca hatte angefangen, ihre Mutter nur noch Mrs. Swift zu nennen, als sie erkannt hatte, dass das Verhalten ihrer Mutter ihr gegenüber nicht ihre Schuld war. Als Rebecca vierzehn war, hatte ihre Mutter eine Zeichnung zerrissen, die sie kurz nach dem Tod ihres Vaters mit größter Sorgfalt angefertigt hatte. Rebecca hatte das kleine Porträt mit einem Sträußchen Gänseblümchen aus dem Garten, dem Teddy, den er ihr geschenkt hatte, und einem Foto von ihm auf ihrem Nachttisch arrangiert. Aber ihre Mutter hatte Anstoß an der Zeichnung genommen; es sei respektlos, ihren Vater mit einer Champagnerflasche in der Hand darzustellen. Rebecca hatte das Problem nicht verstanden – genau so war ihr Vater doch gewesen. In diesem Moment hatte Rebecca allerdings zu begreifen begonnen, wie stark der Drang ihrer Mutter war, die Augen vor der Wahrheit zu verschließen.

Mrs. Swift hatte sich nie eingestanden, dass ihr Mann Alkoholiker war. Über seine Anfälle im trunkenen Zustand, die die ganze Familie belasteten, wurde nie gesprochen. Rebecca hatte nichts anderes tun können, als ihren verzweifelten Gefühlen in ihren Bildern freien Lauf zu lassen. Jahrelang hatte sie gehofft, dass sich ihre Mutter auf wundersame Weise ändern würde, doch natürlich war das nie geschehen. Wenn Rebecca wieder einmal im Überschwang in das kleine Geschäft platzte, in dem ihre Mutter arbeitete, um ihr etwas Wichtiges zu erzählen, bekam sie nur zu hören, sie solle sich wieder verziehen.

Rebecca bewegte sich lautlos über den Treppenabsatz im obersten Stock ihres Hauses. Wie immer zogen die Radioklänge aus Mrs. Swifts Zimmer durch alle Räume. Sie hörte jeden Abend denselben Sender. Jazz. Mrs. Swift stellte sich gern als modern dar, aber das gehörte wie alles andere auch zu dem Bild, das sie nach außen projizieren wollte, und seit dem Tod ihres Vaters war es immer schlimmer geworden.

Rebecca hatte ihren Vater nie wirklich kennengelernt. Zu Hause war er ständig betrunken gewesen. Während der allabendlichen Diskussionen ihrer Eltern, die meistens in einen hässlichen Streit mündeten, versteckte Rebecca sich unter ihrer Bettdecke. Wenn Rebeccas Vater die Kontrolle verlor, sperrte Mrs. Swift ihn im Gästezimmer ein. Nach seinem Tod entwickelte sie einen Hang zu penibler Sauberkeit, um wenigstens der Außenwelt eine makellose Fassade zu präsentieren.

Als Kind hatte Rebecca das alles für normal gehalten – wurde nicht in den meisten Familien furchtbar gestritten? Doch gleichzeitig entwickelte sich ihre Vorstellungskraft. Zu zeichnen wurde zu einer bedeutenden Fluchtmöglichkeit.

Entweder konnte sie mithilfe ihrer Fantasie ihre eigene – bessere – Welt erschaffen oder die hässliche Realität, wie sie sie erlebte, mit brutaler Ehrlichkeit in ihre Kunst fließen lassen. Ihr Kunsttutor an der Gallery School war regelmäßig alarmiert über die leidenschaftlich-drastischen Darstellungen, die in Rebeccas Skizzenblöcken auch jetzt noch auftauchten.

Wie all ihre Kommilitonen saß sie da und ließ die Lektionen zu den Techniken über sich ergehen. Aber die Technik schien niemals wirklich daran zu rühren, was die Kunst bedeutsam machte. Das Leben, fand Rebecca, war wie die Kunst. Man konnte sich auf Formsachen und Äußerlichkeiten konzentrieren oder direkt zum Kern vorstoßen. Was zählte, waren die Emotionen, die in ihre Zeichnungen einflossen; nur das Wahrhaftige war es wert, hervorgeholt zu werden. Die Bewegung der Modernisten und die entsprechenden Überzeugungen zu Kunst und dem Dasein an sich faszinierten sie; neue Lebensweisen und Ausdrucksformen waren die einzig richtige Antwort auf die Missstände, die die vorangegangene Generation zu verantworten hatte.

Das Letzte, was Rebecca nach der Party mit diesen Menschen, die wie sie dachten, brauchte, war eine Begegnung mit ihrer Mutter. Überdies wollte sie an nichts anderes denken als an Edward. Mit ihm zu reden hatte sich angefühlt wie die Freiheit, die sie empfand, wenn sie zeichnete oder malte. Sie wollte mehr davon, unbedingt sogar, aber er hatte auch noch etwas anderes in ihr berührt.

Rebecca schloss ihre Zimmertür ab und nahm sich ihren Stift. Sie hatte bereits jede Skizze, die sie heute Abend noch anfertigen würde, geplant, während sie in der Straßenbahn die Chapel Street entlanggefahren war und auf die dunklen Geschäfte geblickt hatte.

Rebecca suchte sich drei gleich große Blatt Papier aus und begann. Die Kohle gab ihr den Spielraum, den Gesichtern die Ausdruckskraft und Nuancierung zu verleihen, die sie vermitteln wollte. Später würde sie die Skizzen mit Pinsel und Tusche übermalen, doch zunächst musste sie die essenziellen Züge entwerfen, die die Porträts zum Leben erwecken würden.

Die ersten beiden Skizzen waren sozusagen zum Aufwärmen gedacht. Max Harris mit seinen dunklen Wimpern, eine Zigarre in der Hand, die wasserstoffblonde Joy und ihre vielsagende Miene. Die ersten beiden Bilder entstanden rasch, aber sie verweilte eine halbe Ewigkeit über Edward, richtete ständig ihre Lampe neu aus, damit sie dort Licht hatte, wo sie es brauchte, und arbeitete bis in die frühen Morgenstunden. Jeder Strich war sorgsam gesetzt, jeder Strich hatte Bedeutung. Das war ihre Art zu zeichnen. Wenn es ihr nicht gelang, die Essenz einer Person mit ein paar Strichen zu erfassen, dann war das Bild nicht wert, gemalt zu werden. Sie wollte den Charakter festhalten, den echten Menschen. Es war unsinnig, etwas zu erschaffen, das niemanden ansprach. Die Augen grün, das Haar dunkelblond, der Ausdruck amüsiert, doch dann urplötzlich wieder ernst, dachte sie, und als der neue Tag anbrach, war sie zuversichtlich, dass sie fast alles eingefangen hatte, was sie in ihm sehen musste, um diesen einen Moment – die Party, die sie bewegt hatte wie noch nie etwas zuvor – auf den Punkt zu bringen.

Rebecca fiel wieder ein, dass Edward angedeutet hatte, auch er versuche zu entkommen. Wurde seine Dichtkunst von dem gleichen inneren Drang beflügelt wie ihr Verlangen nach Ausdruck?

Sie hatte ihm ihre Nummer gegeben, als er danach gefragt hatte, und ihr im Gegenzug seine genannt.

Rebecca ließ sich auf das alte Bett mit dem Blumenüberwurf zurückfallen und schaltete das Licht aus. Sie trug noch immer ihren roten Mantel. Aber welche Rolle spielte es schon, worin sie geschlafen hatte, wenn der Morgen kam?