13. Kapitel

New York, 1987

Bei jeder Besprechung sang Leon Lobeshymnen auf James, und Tess mied das Büro, sooft sie konnte. Sie hatte sich angewöhnt, zum Mittagessen in ein kleines Restaurant um die Ecke zu gehen. Der Cappuccino dort war sehr stark, und der Milchschaum war mit einer üppigen Schicht Kakaopulver bedeckt.

Tess zog einen Notizblock hervor und machte sich eine Liste, einen Aktionsplan.

Die Situation stellte sich wie folgt dar. Zunächst die negativen Punkte: Edward bestand darauf, seine Geschichte in Australien spielen zu lassen. Eine umfassende Änderung war für ihn ganz klar ein Ausschlusskriterium. Doch das würde dem Verkauf in den Staaten nicht guttun. Außerdem wollte sich Edward nicht auf Abgabetermine einlassen. Sie hatte also keine Ahnung, wann das Buch herauskommen würde.

Tess nahm einen Schluck von dem höllisch heißen Kaffee und verzog das Gesicht.

Nun zum Positiven: Edward reichte regelmäßig Kapitel ein, er war also offenbar im Schreibfluss. Zudem wusste Tess nun, dass die Geschichte autobiografisch war. Dennoch musste sie Edward überreden, der Öffentlichkeit zu verraten, dass es Rebecca wirklich gegeben hatte.

Tess nahm sich Edwards Gedichtband, lehnte sich zurück und las weiter.

Die Lyrik bestand aus starken, schlichten Sätzen. Die Sprache war aufs Wesentliche reduziert, die Bedeutung klar herausgearbeitet. Es war eine echte Schande, dass er vor so vielen Jahren zu schreiben aufgehört und sich nicht weiterentwickelt hatte. Die Anfänge einer bemerkenswerten Stimme waren in jedem Vers zu spüren. Doch etwas hatte sie zum Verstummen gebracht.

Tess seufzte und fuhr dann erschreckt zusammen, als plötzlich jemand vor ihrem Tisch stehen blieb.

»Tess?«

Sie blickte auf.

Der Duft eines teuren Aftershaves verscheuchte den Geruch von Frittiertem, der in dem Restaurant hing. James Cooper stand vor ihr. Tess verfluchte sich, einen Tisch am Fenster gewählt zu haben, wo man sie von der Straße aus sehen konnte. Schnell versuchte sie, die Gedichte wegzustecken.

Zu spät. »Wie findest du sie?«, fragte er.

»Nett«, antwortete sie und schob das Buch in ihre Aktentasche.

»Kann ich mich kurz zu dir setzen?« Er sah sich in dem Restaurant um, während er an seiner marineblauen Krawatte zupfte.

Tess zuckte die Achseln und bedeutete ihm mit einer achtlosen Geste, ihr gegenüber Platz zu nehmen. Dann rührte sie in ihrem Kaffee, bis der Kakao auf dem Milchschaum einen Wirbel bildete.

Eine Kellnerin erschien an ihrem Tisch.

»Danke«, sagte James. »Ich will nichts bestellen.«

Die Kellnerin blieb hartnäckig stehen. Tess’ Lippen verzogen sich zu einem Grinsen. Guter alter New Yorker Stil.

»Vielleicht kannst du dich zu einem Cappuccino hinreißen lassen, James«, murmelte sie. »Oder nimm einen Espresso. Der ist kleiner, dann kannst du schneller wieder verschwinden.«

Ihr entging nicht, dass James’ Lippen zuckten.

»Ein Cappuccino«, bestellte James, ohne den Blick von Tess abzuwenden.

»Sind Sie auch wirklich sicher?«, fragte die Kellnerin, die offenbar ebenfalls auf Krawall gebürstet war. Tess konnte die Frau gut leiden.

»Ja.« Immer noch mit dem Blick auf Tess.

Die Kellnerin riss das oberste Blatt von ihrem Notizblock ab und legte es auf den Tisch, ehe sie davonging.

Tess deponierte den Löffel auf der Untertasse. Lehnte sich zurück und wartete.

»Ich möchte dir etwas sagen.« Er blickte sich in dem Restaurant um.

Tess konnte nicht widerstehen. »Wirst du verfolgt?«

»Quatsch.«

Sein Kaffee kam. Er leerte ihn in einem Zug, stellte die Tasse wieder ab und tippte anschließend mit dem Finger auf die rote Resopaltischplatte. »Ich komme gleich zur Sache.«

»Gern. Das kannst du doch ohnehin am besten. Du greifst ohne Umschweife an. Und nimmst dir, was du willst.«

»Nein.«

Sie zog die Brauen hoch.

»Ich weiß nicht, wie oft ich dir noch sagen soll, dass ich dir deinen Autor nicht wegnehmen wollte. Man hat ihn mir gegeben. Und ich hatte auch keine Ahnung, dass dich das so … aufregen würde.«

»Wie wär’s, wenn wir uns darauf einigten, das Wort ›aufregen‹ aus diesem Gespräch zu streichen? Es impliziert eine gewisse Gereiztheit, die der Ernsthaftigkeit des Problems wohl kaum gerecht wird.«

James schob seine Tasse zur Seite und beugte sich vor. »Tatsache ist, dass ich dir keinen Autor gestohlen habe«, sagte er leise. »Ende der Geschichte. Es tut mir leid, dass es so auf dich wirkt. Aber hör zu, ich bin hergekommen, weil …« Er schüttelte den Kopf.

Tess legte ihre Hände in den Schoß. Ihr Herz hatte ärgerlicherweise zu flattern begonnen.

»Mein Vater«, sagte James, und plötzlich klang seine Stimme tiefer, sonorer, leiser, »ist fasziniert von dem, was er über Edward Russells neues Buch gehört hat.«

»Ach. Tatsächlich.« Tess stieß den Atem aus. Na großartig. Dass Sean Cooper, einflussreichster Literaturkritiker der New York Times, Edwards Buch in der Luft zerriss, wäre wirklich die Krönung. Sean war berüchtigt dafür. Und für James wäre es ein Sieg auf ganzer Linie. Sie hatte sich gedacht, dass er seinen Vater dazu bringen würde, Alec Burgess’ neuen Roman wohlwollend zu besprechen. Dass er so weit gehen und Edward Russell aktiv zu behindern versuchen würde, hätte sie allerdings nicht gedacht. James war offenbar bösartiger, als sie ihn eingeschätzt hatte. Sie lehnte sich auf dem Stuhl zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und blickte auf die Tischplatte.

»Leon hat mir erzählt, dass Edward Russell eine Liebesgeschichte schreibt«, fuhr James fort.

Schweigen. Was hatte Leon mit James über ihren Autor zu sprechen? Tess runzelte die Stirn. Wie auch immer. So etwas wie mit Alec würde ihr nie wieder geschehen.

James legte die Finger auf dem Tisch zusammen.

»Die Sache ist die, Tess, dass er sich gefragt hat – also mein Vater –, ob du vielleicht Zeit hättest, dich heute nach der Arbeit mit ihm, mit uns, auf einen Drink zu treffen.« James blickte zur Seite und hinaus auf die graue Straße.

Tess’ flatterndes Herz produzierte mit einem Mal harte, laute Schläge. Was, dachte er, würde sie jetzt tun? Ihm vor Dankbarkeit um den Hals fallen? Sie presste die Lippen zusammen und wartete einen Moment.

»Weil er sich für Edward Russell interessiert?« Warum sollte eine so mächtige Gestalt in der Welt der Literatur seine Zeit mit einem unbekannten australischen Autor verschwenden, von dem in den vergangenen vierzig Jahren praktisch nichts zu lesen gewesen war? Hatte wirklich Sean Cooper seinem Sohn diesen Gedichtband gegeben? Oder hatte James ihn irgendwo in einem Antiquariat entdeckt und Tess als eine Art Scherz gegeben? Ja, sie dachte irrational, aber doch aus einem guten Grund.

»Dann könnten wir zu meinen Eltern fahren und uns ein wenig unterhalten …« James’ Stimme verebbte.

Ha! Damit hatte selbst James Probleme. Wie hinterhältig musste man sein? James plante schlichtweg, dafür zu sorgen, dass sie Edward nicht groß herausbrachte, denn wenn das geschah, könnte das Wunderkind Alec Burgess vielleicht wieder zu ihr zurückkehren wollen. Ach, der arme James. Würde er dann vielleicht genauso dumm dastehen wie Tess vor zwei Wochen noch? Finster starrte sie auf ihren Kaffee, auf den sie nun überhaupt keine Lust mehr hatte.

Bis ihr plötzlich zu Bewusstsein kam, was genau er gerade gesagt hatte.

»Uns ein wenig unterhalten?« Sie hob die Hände in die Luft und kam sich dabei vor wie Nico. »Vergib mir, wenn sich das in meinen Ohren ziemlich verlogen anhört.«

James starrte noch immer aus dem Fenster. »Könnte man vielleicht meinen. Aber weißt du was, Tess? Das ist es nicht. Es ist nichts als ein Angebot, dich mit meinem Vater zu treffen – nicht mehr und nicht weniger. Er ist aufrichtig interessiert an dem Buch und deiner Arbeit, und er möchte mit dir reden, das ist alles.«

Tess warf ihm einen Blick zu. Aufrichtig? Jemand, der verwandt war mit dem Mann ihr gegenüber, sollte aufrichtig sein? Sie unterdrückte ein Lachen.

»Aber vor allem ist mein Vater ein Fan von Edward«, fuhr James fort. »Mein Vater liebt Nachkriegskunst. Und Literatur. Er findet diese Ära sehr spannend. Und er hat keinesfalls vor, Edwards Buch oder seinen Ruf zu zerstören.« Er wandte den Kopf, um sie anzusehen. »Oder deine Karriere, was das betrifft.«

Tess rieb sich den Nacken.

James holte seine Brieftasche heraus und schob ihr zwei Dollar für den Kaffee über den Tisch. »Ich weiß nicht genau, was dein Problem ist, aber du hast eins. Und es hindert dich daran, wirklich etwas aus dir zu machen.«

Tess glaubte ihren Ohren nicht zu trauen. »Was maßt du dir an!« Sie beugte sich vor und schob ihm das Geld zurück. »Wie kannst du es wagen, derart persönlich zu werden? Hast du nicht schon genug angerichtet? Du hast jede Grenze überschritten, die man beruflich überschreiten kann, aber eins muss dir klar sein: Persönliche Grenzen überschreitest du nicht! Wir arbeiten im gleichen Büro, also spar dir deine Spielchen. Ich kenne Männer wie dich, und ich mag sie nicht. Du kannst doch nach dem, was du getan hast, nicht einfach hier reinschneien und fragen, ob ich mit dir etwas trinken gehe. Ich habe hart gearbeitet, und dann bist du gekommen und hast alles mit einem Schlag zerstört. Ich hoffe, du bist stolz auf dich, James. Ehrlich, ich habe keine Ahnung, wie du so leben kannst. Und nun gehe ich. Ich bin gekommen, weil ich ein bisschen Ruhe gebraucht habe, falls du es unbedingt wissen willst. Denn ich habe es so satt, dass du in jedem Meeting, in dem wir zusammensitzen, über meinen ehemaligen Autor schwadronieren musst. Das macht mich krank.«

»Tess.«

Sie griff nach ihrer Tasche. Was wollte er denn jetzt noch?

Er streckte den Arm aus und legte seine Hand für einen kurzen Augenblick auf ihre, nahm sie jedoch wieder fort, ehe Tess zurückzucken konnte.

»Tess«, sagte er, »ich verspreche dir, dass mein Vater sehr viel von Edward Russell hält. Er will dich einfach nur kennenlernen. Er ist fasziniert von dem, was er über das Buch gehört hat. Ich weiß, wie sehr du dir wünschst, dass der Roman ein Bestseller wird. Und ich bin deiner Meinung. Er könnte zu einem werden. Aber mit einem Literaturkritiker zu sprechen, die Erwartungshaltung aufzubauen – was kann daran falsch sein? Dad könnte durchaus beschließen, das Buch schon im Vorfeld zu erwähnen. Seine Reichweite ist gewaltig. Kannst du nicht um Edward Russells willen das, was zwischen uns steht, für ein Weilchen vergessen und dich mit meinem Vater unterhalten?«

Tess’ Entschlossenheit wuchs. Sie hatte genug. Etwas würdevoller als eben sammelte sie ihre Sachen zusammen.

Aber sie begriff ebenfalls, dass es nicht gut war, Sean Coopers Angebot abzulehnen, wenn sie nicht riskieren wollte, einen der einflussreichsten Menschen in dieser Branche gegen sich aufzubringen. Was also sollte sie tun?

James sah sie abwartend an.

»Also schön«, sagte sie schließlich und formulierte ihre Antwort sorgsam. »Ich sehe ein, dass dein Vater einen gewissen … Einfluss auf Edwards Buch haben könnte. Falls ich dein ›Angebot‹ ausschlage, versage ich Edward eventuell die nötige Publicity und schade dadurch indirekt seinem Ruf und den potenziellen Verkaufszahlen. Aber ich schwöre, James, ich will dein Wort, dass du die Wahrheit sagst, was die Motive deines Vaters betrifft. Ich hoffe, so viel Anstand hast du.«

Sie hatte ihn gekränkt, das konnte sie sehen, aber es war ihr egal. Er hatte ihre Karriere zerstört, ob beabsichtigt oder nicht. Sie würde ganz sicher nicht seinem Charme erliegen.

Er senkte die Stimme. »Ich kann nur immer wieder betonen, dass ich dir nicht schaden wollte. Und ich schwöre dir, ich sage die Wahrheit. Mein Vater weiß einiges über Edward und seine Freunde. Er mochte ihre Kunst, ihre Ansichten, die Schlachten, die sie geschlagen haben. Nichts stößt meinen Vater mehr ab als unverhohlener Kommerz.«

Tess öffnete den Mund, schloss ihn aber wieder. Sean Cooper hatte wahrscheinlich noch nie darüber nachdenken müssen, woher das nächste Geld kommen würde.

»Kann ich Ihnen noch etwas bringen?«, ertönte die Stimme der Kellnerin in der Stille.

»Nein, danke«, sagte James. »Nur die Rechnung, bitte.«

Die Kellnerin schrieb die Summe auf einen Zettel und legte ihn auf den Tisch. »Einen schönen Tag noch.«

Tess schob ihr das Geld für ihren Kaffee hin, als James dasselbe tat.

»Ich weiß, dass es für Edward nur von Vorteil sein wird, wenn du mit meinem Vater sprichst.«

Tess schlang sich den Riemen ihrer Tasche über die Schulter. Als sie sich von der Bank schob, fühlten ihre Hände sich auf dem glatten Kunststoff feucht an. Dann erhob sie sich.

James tat es ihr nach.

Sie blieb direkt neben ihm stehen. »Wider besseres Wissen rede ich mit deinem Vater. Aber ich schwöre dir, James, wenn ihr irgendetwas Hinterhältiges plant …«

James richtete seinen Blick auf sie. »Ich sage es nicht noch einmal. Wir sehen uns um fünf am Empfang.« Danach trat er zur Seite, damit sie zuerst gehen konnte.

Den Rest des Tages beschäftigte sich Tess mit Banalem und konzentrierte sich vor allem auf Bürokram, der erledigt werden musste. Um fünf Uhr strebte sie zu den Toiletten und blickte sich düster in dem mannshohen Spiegel an, der im Eingangsbereich hing. Erneut rief sie sich in Erinnerung, dass sie dumm wäre, wenn sie Sean Cooper verprellte, aber besser vorsichtig sein sollte, James ihr Vertrauen zu schenken.

Was die Dinge verkomplizierte, war die Tatsache, dass sie, wenn sie ehrlich zu sich war, Sean Cooper schon seit Langem aus der Ferne bewunderte. Sie hielt ihn für klug, fand ihn inspirierend, und die Chance zu bekommen, den berühmten Kritiker persönlich kennenzulernen, verwandelte sie in ein Nervenbündel. Tess zog ihr Kompaktpuder aus der Tasche, besserte ihren Teint notdürftig aus, sprühte etwas Chanel-Parfum auf und zog die Lippen nach. Ihr blaues Kostüm wirkte professionell, und der Bleistiftrock schmeichelte immerhin ihrer Figur. Entschlossen verließ sie die Damentoilette.

James wandte sich um, als sie in die Lobby rauschte. Irritiert nahm sie zur Kenntnis, dass er nach wie vor einen leicht gekränkten Ausdruck zur Schau trug.

»Hallo«, sagte sie knapp. Sie gab sich ganz professionell, aber was erwartete er denn?

»Wir fahren direkt zu meinen Eltern nach Hause, wenn es dir recht ist«, sagte er leise.

»Wie du meinst«, gab Tess zurück.

James trat zur Seite, um Tess den Vortritt zum Fahrstuhl zu lassen. Draußen hielt er ein Taxi an, und sie fuhren weitgehend schweigsam am Central Park vorbei, obwohl Tess’ Nerven zum Zerreißen gespannt waren. Wahrscheinlich wäre sie ihn scharf angegangen, wenn er auch nur ein Wort gesagt hätte.

Als sie an einem beeindruckenden, verglasten Wohnkomplex am Central Park hielten, blickte Tess die imposante Fassade hinauf und zwang sich, nicht die Stirn zu runzeln, während sie die unaufdringliche Lobby durchquerte. Der Gedanke, dass sich Alec Burgess wahrscheinlich mühelos in diese exquisite Welt der literarischen Elite einfügen würde, nun, da er berühmt war, gefiel ihr nicht. War das der Grund gewesen, warum er zu James gewechselt war? Um ins literarische Establishment aufgenommen zu werden? Es stand außer Frage, dass James im Hinblick auf die richtigen Verbindungen weit mehr zu bieten hatte als Tess. Aber wann genau waren die »richtigen Leute« Alec wichtiger geworden als Leute, die das Richtige taten? Tess musste an Edwards Dilemma mit seiner Familie denken. Sie sah sich in der Eingangshalle um. Edwards Buch schien ihr zuzusetzen. Sie musste konzentriert bleiben. Und wachsam.

Ein Angestellter drückte für James den Fahrstuhlknopf – als hätte er das nicht selbst tun können. Tess konnte sich nur mit Mühe davon abhalten, die Augen zu verdrehen. Während sie nach oben fuhren, plauderte James mit dem Liftboy, nannte ihn Ernie und stellte ihm Tess vor, als seien sie alte Kumpel.

Doch als sie die Wohnung seiner Eltern betraten, konnte Tess nicht umhin, sich an dem Anblick, der sich ihr bot, zu weiden. Orientalische Teppiche und gemütlich abgenutzte Ledercouchen schmückten einen großen Raum, an dessen Wänden volle Bücherregale standen. Die komplett verglaste Wand nach draußen schien den Central Park beinahe ins Wohnzimmer zu bringen. Sean Cooper, der im wahren Leben sogar noch eleganter und kultivierter wirkte als im Fernsehen, kam auf sie zu und streckte ihr die Hand entgegen. Sehr viel freundlicher, als er für gewöhnlich in den Medien auftrat.

»Tess, ich freue mich, Sie kennenzulernen.« Er hatte die gleichen dunklen Augen wie sein Sohn. »Ich weiß ja, dass James Sie bewundert. Das macht das hier zu einem doppelten Vergnügen.«

James bewunderte sie? Das Einzige, was ihr dazu einfiel, war, dass James seinen Charme ganz offenbar von seinem Vater geerbt hatte.

»Kaffee?« James durchquerte den großen Raum zum riesigen Küchenbereich an der Seite.

»Ja, danke«, brachte Tess hervor.

»Kommen Sie, Tess, setzen Sie sich.«

Das Rattern der Kaffeemühle in der Maschine ertönte so laut, dass einen Moment lang keine Unterhaltung möglich war. Als James sich schließlich neben Tess aufs Sofa setzte und die Becher verteilte, kam er direkt zur Sache.

»Dad, Tess möchte unbedingt wissen, was dich so an Russells Buch fasziniert.«

Sean beugte sich vor, machte etwas Platz auf dem Couchtisch und stellte seinen Becher auf einen runden Untersetzer aus glattem Holz. »Ich darf Ihnen versichern, Tess, dass mein Interesse absolut aufrichtig ist. Aus keinem anderen Grund würde ich Sie herbitten.«

Tess nippte an ihrem Kaffee. Was hatte James seinem Vater über sie erzählt? Aber dann schüttelte sie den Gedanken ab. Sie musste aufhören, sich durch ihren Zorn auf James selbst im Weg zu stehen. Edward. Sie war wegen Edward hier. Schluss und aus.

Seans Stimme hatte beinahe eine hypnotische Kraft – tief, sanft und klar. »Wie ich gehört habe, handelt es sich bei dem Buch um eine Liebesgeschichte.« Er verstummte und blickte einen Moment lang zum Fenster. Als er wieder zu sprechen ansetzte, war es, als käme seine Stimme von weit her. »Heißt das Mädchen in der Geschichte Rebecca Swift?«

Tess stellte ihren Becher ab.

»Wieso fragen Sie das?«

Sean lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander.

Wenn zu jemandem das Adjektiv »elegant« passte, dann zu diesem kultivierten, klugen Mann, dachte Tess.

»Ich frage, weil ich vermute, dass sie genau das Thema ist, über das Russell schreiben muss. Irgendwann musste es passieren. Und falls es um diese Phase in seinem Leben geht, dann hat das nicht nur eine enorme Bedeutung für seine Karriere, sondern auch für Ihre.«

Plötzlich wirkte der Wohnraum extrem still. Tess wurde sich bewusst, dass nichts von draußen zu hören war. Die Atmosphäre in ihrem kleinen Dreierkreis verdichtete sich.

Tess wartete ab. Sie konnte entweder mit Sean arbeiten oder gegen ihn. Dann rief sie sich in Erinnerung, dass er Sean Cooper war. Wenn sie ehrlich war, hatte sie keine Wahl.

Sie stieß den Atem aus. »Die Frau in dem Buch heißt Rebecca, ja. Und, na ja, ich muss gestehen, dass ich es so ähnlich empfunden haben wie Sie. Ich habe recherchiert. Rebecca Swift. Es heißt, sie ist an der australischen Küste von einem Felsen in die Tiefe gestürzt. Eine tragische Sache.«

Sean schwieg nachdenklich. Tess war sich überdeutlich bewusst, dass James sich neben ihr anders hinsetzte und einen Knöchel auf das andere Knie legte. Sie starrte auf den Couchtisch.

Sean schien seine Worte mit Bedacht zu wählen. »Weiß Edward, dass Sie sich dieser Beziehung bewusst sind? Zwischen ihm und der jungen Künstlerin?«

Tess schüttelte den Kopf.

Sean rieb sich das Kinn. »Wir reden gleich darüber. Sehen Sie, ich habe über Edward nachgedacht. Man erlebt es bei Schriftstellern, bei Künstlern öfter. Wenn ihnen ihre Inspiration verloren geht, kann das Resultat dramatisch sein. Als Rebecca starb, war es, als habe Edward auch seine Muse verloren. Die ersten Gedichte, die er während ihrer Beziehung schrieb, waren so vielversprechend, so voller Zorn, Leidenschaft und Provokation – in Bezug auf die bestehenden Strukturen, Formen, Bedeutungen –, dass er zu einem wichtigen Autor seiner Generation geworden wäre, hätte er in dieser Richtung weitergemacht. Er hatte radikale Gedanken.

Doch nach Rebeccas Tod war es damit vorbei. Er entschied sich für eine stabile, aber ehrlich gesagt auch langweilige Karriere. Ging auf Nummer sicher. Schrieb Biografien, gab Literaturmagazine heraus, las an der Universität. Er versuchte nicht einmal, von seinen eigenen Werken zu leben. Er versteckte sich hinter einer Fassade und äußerte nie wieder öffentlich, was ihm wichtig war.

Jetzt stellt sich die Frage, ob er anschließend auch darauf verzichtete, das Leben zu führen, das ihm wirklich entsprach. Ich vermute es. Darum ging es den Modernisten damals im Kern: Authentizität in der Kunst sowie im Leben ganz allgemein. Aber Edward scheint beides abgegangen zu sein. Nun haben wir die Chance, einem bemerkenswerten Talent dabei zu helfen, sein Potenzial neu zu entdecken – wenigstens, was seine Arbeit betrifft. Für ein Leben mit Rebecca ist es zu spät, doch diese glühende Liebesgeschichte zwischen einem jungen Schriftsteller und einer Künstlerin wird den Nerv der Leute treffen. Sie haben die Aufgabe, seine Arbeit zu unterstützen. Ich bin schon jetzt gespannt auf Ihre Zusammenarbeit mit ihm, Tess.«

Sean beugte sich vor und ließ seine Hände zwischen seinen Knien baumeln. »Was die Umstände von Rebeccas Tod betrifft – sie war nicht die Erste, die an diesem Küstenstrich ertrunken ist. Außerdem ist die Gegend berüchtigt für Haiangriffe.«

Seans Stimme drang durch Tess’ Gedanken. Sie konnte sich den Sturz in die Tiefe nur allzu lebhaft vorstellen. Tess wurde flau im Magen. Wie musste Rebecca sich im Fallen gefühlt haben? Wohl wissend, dass sie nun sterben würde?

»Rebecca war erst vierundzwanzig. Es geschah bei dem Strandhaus, das Edwards Familie gehörte. Das Schuldgefühl, das er wohl allein durch diese Tatsache entwickelt hatte, kann ausgereicht haben, um in ihm die Gewissheit zu festigen, dass er kein Anrecht mehr darauf hatte, seine eigene Poesie zu veröffentlichen.«

Tess wandte sich dem Fenster zu. Der Gedanke an Rebecca und Haie war kaum zu ertragen.

»Und noch etwas«, sagte Sean leise.

Tess schlang sich die Arme um den Oberkörper.

»Sie sollten wissen, dass Sunday Reed mit der Contemporary Art Society später einige Werke von Rebecca ausgestellt hat. Man feierte sie posthum als echtes Talent. Die einhellige Meinung der Kritiker lautete, dass Rebecca eine wichtige Vertreterin der modernen Kunst geworden wäre. Sunday hatte das Talent, solche Künstler zu entdecken und das Beste aus ihnen herauszuholen. Letztendlich wurde übrigens allgemein anerkannt, dass Sunday eine der wichtigsten Persönlichkeiten der modernen Kunst Australiens war. Jedenfalls befinden sich Rebeccas Werke in Sundays Sammlung; sie wollte sie nach Rebeccas schrecklichem Tod nicht verkaufen. Rebecca war, was ihre Malerei betrifft, ihrer Zeit voraus. Und es steht außer Frage, dass es ein beträchtliches Interesse an ihren Bildern geben würde, sollte man sie parallel zum Buch der Öffentlichkeit zugänglich machen.«

Tess nickte.

»Der Heide-Zirkel bestand aus jungen, modern denkenden Menschen, die versuchten, aus den Trümmern des Krieges ein neues Leben aufzubauen. Ihre Ablehnung des Bewährten war allumfassend, müssen Sie wissen. Von der Lebensweise über die Art zu lieben bis hin zu ihrer Auffassung, wie die Ehe sein sollte, war alles durchzogen vom Modernismus – außerdem und vor allem natürlich ihr Verständnis von Kunst.«

Tess griff wieder nach ihrem Kaffee. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Edward sein Privatleben öffentlich machen wird. Selbst wenn ich ihm klarmache, dass ich von dem autobiografischen Charakter seiner Geschichte weiß, wird er die Publicity nicht wollen, dessen bin ich mir sicher. Nach den letzten beiden Telefonaten, die ich mit ihm geführt habe, würde ich eher befürchten, dass er sich gänzlich von dem Projekt zurückzieht, weil ihm die kommerzielle Komponente so zuwider ist. Dennoch meine ich, dass Edwards Geschichte, wie jede andere Geschichte auch, nicht nur ihm allein gehört.«

Sie brach ab.

James setzte sich anders hin.

»Wenn wir der Leserschaft klarmachen, dass das Buch autobiografisch ist, wird sich der Roman verkaufen wie …«

Sean hob die Hand. »Tess, sprechen Sie ihn darauf an. Fragen Sie ihn nach Rebecca Swift. Wir beide wissen, dass sich das Buch dann viel besser verkaufen wird. Noch wichtiger ist aber, dass Sie ihm klarmachen, wie sehr seine Geschichte die Leser berühren wird, weil sie so menschlich ist. Eine Liebesgeschichte, eine Geschichte über einen Mann, der sich seit vierzig Jahren von der Welt abkapselt. Denn ehrlich gesagt denke ich, dass er das getan hat. Ohne Rebecca hat er nicht mehr schreiben können. Und diese Vorstellung von einer Muse – von dem einen Menschen, der alles inspiriert – ist es, die mich so fasziniert. Und genau dort sollten Sie anpacken.«

Tess warf ihm einen scharfen Blick zu.

Aber Sean fuhr bereits fort. »Ja, ich halte es für richtig, ihn darin zu bestärken, die Wahrheit öffentlich zu machen. Er glaubt schließlich an Authentizität, und es nicht zu tun hat etwas von Heuchelei. Die Wahrheit ist vielschichtig. Es gibt so viele ineinandergreifende Faktoren, von verschiedenen Ansichten ganz zu schweigen, doch im Kern lässt es sich auf eine schlichte Formel bringen. Wahrheit ist Aufrichtigkeit sich selbst und anderen gegenüber. Und ich sage es Ihnen wirklich nicht gern, aber Edwards Buch wird so viel besser als die Thriller, mit denen Sie bisher erfolgreich waren. Die würde ich nie im Leben rezensieren.« Er blickte sie über den Rand seiner Brille hinweg an, und ein Lächeln spielte um seine Lippen.

Plötzlich legte James seinen Arm auf die Sofalehne hinter Tess’ Rücken. »Aber wenn Tess Edward zu sehr drängt, dann verliert sie vielleicht sein Vertrauen. Er könnte sich jemand anderen suchen wollen.«

»Ich würde vorschlagen, dass Sie Edward zunächst einmal dazu bringen, einzugestehen, dass es sich um eine wahre Geschichte handelt«, fuhr Sean fort. »Dann sehen wir weiter.«

»Er wird es nicht tun«, sagte James.

Tess sah ihn an. Entschlossenheit machte sich in ihr breit.

»Das weißt du nicht, James«, bemerkte Sean. »Ich werde das Buch rezensieren, sobald es herauskommt, Tess, aber Sie haben noch viel Arbeit vor sich. Und ich denke, dass die Konzentration auf Rebeccas Tod, auf ihre Geschichte und den politischen und künstlerischen Hintergrund der Gesellschaft nach dem Krieg genau das ist, worauf es ankommt.«

Tess nickte. Sie sah es genauso.

James stand auf und blickte auf seine Uhr. »Ich muss los. Ich bin zum Essen verabredet.«

Tess fuhr zu ihm herum, beinahe alarmiert. Mit wem ging er aus? Verärgert schüttelte sie den Gedanken ab. Sean stand auf.

»Viel Glück bei der Arbeit mit Edward. Ein ausgezeichneter Autor«, sagte er, als sie gemeinsam vor der Fahrstuhltür warteten. »Wissen Sie, ich fand immer, dass er – in Ermangelung eines besseren Ausdrucks – in diese Welt bersten müsse. Und Sie haben anscheinend die ehrenvolle Aufgabe, ihn dazu zu bringen.«

Tess drückte ihre Tasche fest an ihre Brust.

»Danke, Dad.« James klopfte Sean auf den Rücken.

»Danke«, sagte auch Tess und nahm Seans Hand, als er sie ihr hinhielt.

Als der Fahrstuhl kam, ließ James Tess den Vortritt, während Ernie dafür sorgte, dass die Türen lange genug aufblieben. In der Kabine starrte Tess stur geradeaus. Sie war sich James’ Gegenwart erneut überdeutlich bewusst.

»Du weißt, was ich denke«, sagte er. »Ich gehe davon aus, dass er nicht will, aber versuchen kannst du es.«

»Ja«, sagte Tess und sah ihm direkt in die Augen, als die Kabine sanft abbremste und hielt. »Das werde ich definitiv, James.«

Wieder huschte etwas über sein Gesicht, das beinahe gekränkt wirkte. Tess war plötzlich zu heiß, und sie war froh, in die Eingangshalle treten zu können.

Am nächsten Abend griff Tess nach dem Kleid, das sie an ihren Schrank gehängt hatte. An das schwarze Corsagenoberteil schloss sich ein goldfarbener Rüschenrock an, der hinten etwas länger war als vorne. Sie stieg hinein, zog es hoch und griff nach dem Reißverschluss im Rücken, ehe sie ihre kleine Wohnung durchquerte, um sich im mannshohen Spiegel an der Rückseite ihrer Badezimmertür zu betrachten. Ihre Haare wippten, ihr Make-up war perfekt, und doch fühlte sie sich nur müde und ausgelaugt. Den ganzen Tag schon plagten sie Zweifel, wie sie die Sache mit Edward angehen sollte.

Irgendwie musste es ihr gelingen, Edwards Einstellung in Einklang mit der Rentabilität zu bringen, die seinem Werk zur Sichtbarkeit verhelfen würde. Obwohl sie durchaus verstand, dass die Modernisten sich nach dem Krieg neu aufzustellen versucht hatten, waren Kommerzialisierung, Business und Wohlstand die Schlagwörter der Stunde, und das betraf das Verlagswesen genauso wie andere Branchen. Sie lebten schließlich in den Achtzigern. Edward konnte doch nicht darauf beharren, die Kargheit der Nachkriegsperiode, in der er und seine Freunde 1946 leben wollten, in die heutige Zeit zu transportieren.

Nun, sicher, er war mit dem Selbstverständnis und dem Anspruchsdenken seiner Familie und seines Standes nicht einverstanden gewesen, musste aber in gewisser Hinsicht doch an dem Haus seiner Kindheit, dem Land seiner Vorfahren und der Schönheit dieser Umgebung gehangen haben. Und nun wollte er ernsthaft die Möglichkeit verschenken, sein Buch in einen echten Erfolg zu verwandeln? Die Menschen liebten wahre Geschichten. Rebecca selbst durfte nicht ignoriert werden, und darüber hinaus war die Liebe zwischen ihr und Edward zeitlos. Sie würde Romantiker auf der ganzen Welt ansprechen.

Tess verließ ihr Apartment und gönnte sich ein Taxi. Sie blickte aus dem Fenster auf Manhattans glitzernde Lichter, während sie zum Plaza Hotel fuhr, wo an diesem Abend eine Gala des Verlagswesens und seiner Autorinnen und Autoren gefeiert wurde.

Im legendären Terrace Room mischte sie sich unter die überwiegend männlichen Kollegen, ehe sie sich an den Tisch setzte, der ihrem Lektorenteam zugewiesen worden war. James saß auf dem Platz neben ihr, plauderte jedoch von ihr abgewandt mit dem Kollegen auf seiner anderen Seite, während Tess mit Martin Haymes, einem von Campbell and Blacks dienstältesten Lektoren, Small Talk machte. Haymes beglückte sie mit Anekdoten seiner Angelausflüge, während er wiederholt darauf verwies, dass er Anlässe wie diese nicht ausstehen konnte, bis Tess’ Gedanken abzudriften begannen.

Sie stellte ihr Glas aus geschliffenem Kristall auf die weiße Tischdecke zurück und betrachtete das edle Golddekor, die blitzenden Kristalllüster, die weiß-gold gestrichenen Bögen, die die Trompe-l’œil-Wandgemälde einrahmten. Der Saal war ein Monument des Wohlstands – dessen, was dieses Jahrzehnt auszumachen schien: Luxus. Pracht. Was war denn falsch daran?

Tess’ Großeltern hatten nach dem Krieg ein einfaches Leben geführt. Keiner der beiden Familienzweige war während der Fünfziger- und Sechzigerjahre wohlhabend gewesen, und Tess’ Eltern konnten sich heute weit mehr leisten als in ihren jungen Jahren. Konnte es für Edward nicht auch an der Zeit sein, die Welt, wie sie sich seit dem Krieg erneuert hatte, zum eigenen Vorteil zu nutzen? Es war doch bewiesen worden, dass der Kommunismus nicht funktionierte und Faschismus ein Verbrechen war. Aber natürlich wusste Tess, dass es sich bei Edward um tief in seinem Inneren verwurzelte Glaubenssätze handelte. Sie richtete ihr schimmerndes Kleid.

Als Martin aufstand, um sich unter die Leute zu mischen, trank Tess einen Schluck Champagner. Die Erleichterung, dass diese doch sehr eintönige Unterhaltung vorbei war, mischte sich mit der Erkenntnis, dass auch James’ Gesprächspartner aufgestanden war.

Prompt wandte James sich ihr zu.

»So«, sagte er und sah hinüber zur Tanzfläche, auf der sich einige Paare eingefunden hatten, »findest du es hier nicht auch furchtbar?«

Tess lächelte. Dieser Einstig überraschte sie. »Ach, komm schon, James. Das ist doch genau die Art von gesellschaftlichem Ereignis, in die du hineingeboren wurdest. Du machst mir nichts vor.«

James sah sie einen Moment lang stumm an, ohne dass sie seinen Gesichtsausdruck hätte deuten können, dann nahm er sein Glas und nahm einen Schluck. Er stellte die Champagnerflöte ab und neigte sich ihr zu. »Ich hasse diese Anlässe sogar noch mehr als all die Wohltätigkeitsveranstaltungen, zu denen meine Eltern mich mitschleifen, jede Dinnerparty, die meine Mutter für irgendeinen Prominenten gibt, und jede Teezusammenkunft, zu denen ihre Freundinnen eingeladen werden, die wiederum nichts weiter tun, als von einer Spendengala zur nächsten zu rennen. Du machst dir kein Bild.«

Tess stockte der Atem. »Aber du bist doch ständig in den Klatschspalten zu sehen.«

»Schon. Aber muss ich das deshalb genießen?« Er lehnte sich zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.

Die typische Alphapose, dachte Tess und kniff die Augen zusammen. Ärgerlicherweise fiel ihr erneut auf, wie attraktiv seine Züge waren.

Nein. Sie beugte sich vor. »Moment mal. Im Verlag bist du der strahlende Mittelpunkt. Du flirtest mit den Angestellten – und unterbrich mich jetzt nicht«, sagte sie hastig, als er sich wieder gerade aufrichtete und sich ihr zuwandte. »Auf den Fotos der Regenbogenpresse siehst du immer verdammt zufrieden aus – als seist du mit den Kennedys verwandt. Und du hast jedes Mal irgendeine tolle Frau am Arm.«

Es war nicht so, dass es sie störte, aber sie hatte plötzlich Lust, ihn zu provozieren.

»Ich staune, Ms. Miller«, sagte er, »dass Sie, obwohl Sie Lektorin sind, anscheinend nicht wissen, wie man zwischen den Zeilen liest. Und da wundert es dich, dass du mit einem Autor haderst, der sein Werk authentisch halten will?«

Tess griff nach ihrem Glas und trank es leer. »Was mich wundert, Mr. Cooper«, begann sie und beugte sich ebenfalls vor. Erstaunlicherweise hatte sie plötzlich das Gefühl, als seien James und sie wie in einer Blase allein in diesem Saal voller Menschen, was sie prompt an Edward und Rebecca erinnerte, die etwas Ähnliches im Kreis ihrer Leute empfunden hatten, doch sie verdrängte den Gedanken ärgerlich. »Was mich wundert, ist, wieso du dich hinter dieser Fassade versteckst. Wenn du das hier alles wirklich so verabscheust« – sie blickte sich im Saal um – »warum diese Schau abziehen? Warum führst du dann nicht das Leben, das du dir wünschst? Was hält dich zurück?«

Ein reuiges Lächeln huschte über sein Gesicht. Er lehnte sich erneut zurück und musterte ihr Gesicht. »Du hast keine Ahnung, Tess. Ich denke, wenn irgendjemand sich hinter einer Fassade versteckt, dann du.«

Tess schob ihren Stuhl zurück und stand auf. Dabei stieß sie beinahe mit Leon zusammen, der hinter ihnen aufgetaucht war. Neben ihm stand, strahlend schön wie immer, seine Frau Tania und hielt seine Hand. Ihr Haar war in der Mitte gescheitelt und links und rechts aus dem Gesicht geföhnt worden, und sie trug ein gerüschtes rosafarbenes Taftkleid, das auch in einem Palast angemessen gewesen wäre.

»Hallo!«, sagte Tess so begeistert, als wären sie ihre Rettung.

»Tess. James.« Leon klopfte James auf die Schulter. »Freut mich, dass ihr zwei euch anfreundet. Ist das nicht herrlich hier? Was für ein schöner Abend für uns alle.«

Tess schenkte Tania ein Lächeln.

»Tania und ich wollen tanzen. James, warum fragst du Tess nicht auch? Kommt, ihr zwei.«

James neigte sich seinem Chef zu und flüsterte ihm laut ins Ohr: »Dazu müsste ich schon sehr selbstlos sein. Schlimm, wenn ich ablehne?«

Tess konzentrierte sich angestrengt auf Tanias strahlendes Gesicht. Die Miene der anderen war wie festgetackert. Rosa Lippenstift, rosige Wangen, ein Lächeln, das nie erstarb. Tess wusste, dass Leons Frau sich niemals an Gesprächen beteiligte, die man als heikel bezeichnen konnte. Tanias Metier waren Euphemismen und höfliche Floskeln. War das ihre Strategie, an der Seite eines Vorstandsmitglieds zu überleben?

»Entschuldigt mich«, sagte Tess. »Ich muss … mich bei ein paar Freunden blicken lassen.« Sie warf James einen letzten Blick zu und trat den Rückzug an.

Doch ihr Zorn schwelte weiter in ihr, während sie sich durch den Saal bewegte. Sie zwang sich, sich auf die Leute zu konzentrieren, schnappte hier und da Gesprächsfetzen auf und betrachtete die zahlreichen runden, weiß eingedeckten Tische mit dem üppigen Blumenschmuck. Abmachungen wurden getroffen und Verträge besiegelt, und niemand machte sich die Mühe, so zu tun, als ginge es an diesem Abend nicht um die Arbeit.

Normalerweise liebte Tess es, in das Geschäftliche einzutauchen. Ob es sonntagmorgens beim Brunch war oder in der Woche in aller Herrgottsfrühe in irgendeinem schicken Café – Tess war immer zur Stelle, wenn es eine Gelegenheit gab weiterzukommen. Je hingebungsvoller sie arbeitete, je mehr Stunden sie ableistete, umso erfolgreicher war sie. So funktionierte dieses Dasein eben.

Aber als sie Alec Burgess verloren hatte, hatte sie zum ersten Mal in ihrem Arbeitsleben eine herbe Niederlage einstecken müssen. Sie war gezwungen worden, sich einzugestehen, dass ihr Werdegang vielleicht doch nicht die bombensichere Angelegenheit war, auf die sie sich immer würde verlassen können. Gleichzeitig aber hatte Edwards Buch eine Wirkung auf sie, auch wenn sie es nur ungern zugab, und sie hatte bereits begonnen, ihr Umfeld in einem anderen Licht zu sehen. Doch wenn Edward sich weiterhin weigerte, sich auf die Arbeitsabläufe einzulassen, wie sie bei Campbell and Black seit jeher gefordert wurden, riskierte Tess, alles zu verlieren, für das sie so hart gearbeitet hatte. Sie würde sich praktisch selbst verlieren.

Tess blieb am Rand des Saals stehen und ließ den Blick über die Grüppchen der Gäste schweifen. Sie suchte nach einer bestimmten Person, und Erleichterung durchströmte sie, als sie sie nach einem Moment entdeckt hatte.

Flora saß an einem Tisch auf der anderen Seite des Saals. Ihr rotes Haar tanzte um ihr Gesicht. Sie trug, wie immer, Mode aus der Vergangenheit, diesmal ein hellgrünes Kleid aus den Fünfzigern mit enger Korsage und weitem Rock. Flora war es egal, was die anderen dachten, und Tess’ bewunderte sie dafür. Aber wie sie es machte, war ihr ein Rätsel. Floras rasante Karriere in einem der weltweit bedeutendsten Verlage für Liebesromane war legendär.

Tess setzte sich auf den leeren Stuhl neben ihre Freundin.

»Du siehst aus, als hättest du gerade ein Gespenst gesehen«, sagte Flora lachend. »Was ist denn los?« Sie schenkte Tess ein Glas Champagner ein.

Noch mehr Champagner. Tess trank einen Schluck und brachte Flora auf den neuesten Stand.

»Ist doch eindeutig, was hier gerade geschieht«, murmelte Flora. »Indem du James die Stirn geboten hast, was du ja musstest, hast du ihn offenbar nicht nur gekränkt, sondern auch seine Gefühle verletzt, weil er insgeheim mehr für dich empfindet. Andernfalls hätte er sich wohl nicht bemüßigt gefühlt, es dir direkt heimzuzahlen, als Leon vorgeschlagen hat, ihr solltet tanzen.«

Tess stöhnte. »Steck mich nicht in eins deiner Bücher. Das hier ist das wahre Leben, keine romantische Fiktion. Die beiden Bereiche gehen nicht zusammen, und das wissen wir beide.«

Tess hätte nie etwas zu Floras desaströsem Liebesleben gesagt. Ihre Freundin hatte eine lange Liste an jämmerlichen Ex-Freunden vorzuweisen, glaubte aber immer noch daran, dass man sich nur genug anstrengen musste, damit am Ende doch alles gut wurde. Flora gab die Hoffnung niemals auf. Vielleicht war ihre Sicht der Dinge gar nicht so anders als Nicos – die beiden hatten bloß unterschiedliche Herangehensweisen. Flora dagegen hielt Tess vor, zynisch zu sein.

»Du solltest dich von deiner so sorgsam zur Schau getragenen Haltung verabschieden«, fuhr Flora fort. »Du weißt, dass ich schon lange der Meinung bin. Lass es zu. Schau, was geschieht. James ist ein aufregender Mann. Und von dem, was du mir erzählt hast, passiert da gerade etwas zwischen euch. Etwas braut sich zusammen.« Sie legte den Kopf schief. »Eigentlich glaube ich sogar zu wissen, was. Er ist dir ebenbürtig. Er fordert dich heraus, und das passt dir nicht. Also geratet ihr immer wieder aneinander. Natürlich darf man auch nicht vergessen, dass du dich gegen ihn auflehnst. Das hat wahrscheinlich noch nie jemand getan. Bisher hat er immer bekommen, was er haben wollte, aber nun bist du da …«

Tess umklammerte ihr Abendtäschchen in ihrem Schoß, als brauche sie etwas zum Festhalten. »Jetzt hör aber auf. Wirklich. James hat mir meinen Klienten geklaut, Ende der Geschichte. Jetzt hat er ein schlechtes Gewissen und stellt mich seinem mächtigen Vater vor, um es wiedergutzumachen. Und faselt dann davon, dass er es ja ach so blöd findet, sich unter den oberen Zehntausend zu bewegen, weil er gar nicht der Typ dafür ist, oder so ähnlich. Ich bin nicht dumm, Flora. Er versucht, mich um den Finger zu wickeln, wie er es bei jedem versucht. Weil er es nicht mag, wenn eine Kollegin ihm böse ist. Das ist alles. Heute hat er mir sein wahres Gesicht gezeigt. Er ist ein Simulant, ein Betrüger. Sagt das eine, tut das andere. Ich will dich nicht mit Klischees langweilen.«

Aber Flora rückte ein Stück näher und malte mit ihrem pinken Fingernagel ein Muster auf Tess’ Glas. »Er setzt dir zu. Sollte dir das nicht auch etwas sagen?«

»Sei nicht albern.« Tess blickte zur Tanzfläche. Leon und Tania drehten sich langsam mit den anderen Paaren. Ein Song von George Michael. Tania schlang ihrem Mann die Arme um den Nacken.

»Schau dir das an. Herrje«, brummte Tess.

»Wie schön«, sagte Flora.

Tess verdrehte die Augen.

»Achtung, er kommt«, sagte Flora plötzlich. »Auf zehn Uhr.«

Tess setzte an, sich zu erheben.

Aber James war schneller. Er stand an ihrem Tisch, ehe sie fliehen konnte.

»Tess«, sagte er. »Flora.«

»Hallo, James«, flötete Flora. »Ich habe von deiner neuen Stelle gehört.«

James hielt Floras Blick stand. »Aha.«

Manchmal fragte Tess sich, ob Flora eher in ihrer Fantasie lebte als in der wahren Welt. Tess durchschaute James. Flora war doch eine intelligente Frau. Warum ließ sie sich immer wieder von charmanten Männern täuschen?

James kniff die Augen zusammen. Und sah, wie Tess fand, plötzlich wie James Dean aus. Aber was für ein dämlicher Gedanke. Sie trommelte mit den Fingern auf den Tisch. Wenn er Streit suchte, dann war sie bereit.

»Tess«, sagte er, »hättest du Lust zu tanzen?«

Stille.

Flora setzte sich kerzengerade auf, doch Tess schüttelte den Kopf.

»Danke«, antwortete sie und schob ihren Stuhl endgültig zurück, »aber ich habe … zu tun.« Und damit ging sie. Sie war wütend, dass ihr Atem plötzlich bebend kam, und noch wütender, weil sie unbedingt verschwinden wollte.