Als Bosch nach allen möglichen Antiobservierungsmanövern, zu denen auch gehörte, in Chavez Ravine einmal ganz um das Dodger Stadion herumzufahren, schließlich bei CellRight eintraf, ging die Übergabe der Proben reibungslos über die Bühne. Nachdem er die drei Röhrchen Hallers Kontaktmann persönlich übergeben hatte, fuhr er zum Freeway 5 und dann nach Norden. An der Magnolia-Ausfahrt in Burbank verließ er den Freeway wieder und hielt weiter an seiner verschlungenen Streckenführung fest. Er besorgte sich bei Giamela’s ein Submarine-Sandwich. Während er es im Auto aß, behielt er unablässig das Kommen und Gehen auf dem Parkplatz im Auge.
Er steckte gerade das Sandwichpapier in die Tüte zurück, als sein Handy zu summen begann. Es war Lucia Soto, seine ehemalige Partnerin beim LAPD.
»Wie geht’s Bella Lourdes?«, fragte sie.
Dafür, dass ihr Name nicht öffentlich bekannt gegeben worden war, schien er sich schnell herumzusprechen.
»Kennst du Bella denn?«, fragte er.
»Ein bisschen. Von den Hermanas.«
Das erinnerte Bosch daran, dass Soto einer Gruppe angehörte, die sich aus Latina-Polizistinnen aller Departments des Countys zusammensetzte. Da das nicht viele waren, war es zwischen ein paar von ihnen zu engeren Freundschaften gekommen.
»Sie hat mir nie erzählt, dass sie dich kennt«, sagte Bosch.
»Sie wollte nicht, dass du mitbekommst, dass sie sich bei mir nach dir erkundigt hat«, sagte Soto.
»Na ja, sie hat einiges durchgemacht. Aber sie ist ganz schön tough. Ich glaube, sie kommt drüber weg.«
»Hoffentlich. Ganz schön üble Geschichte das.«
Sie wartete kurz, ob ihr Bosch vielleicht ein paar Einzelheiten erzählte, aber er schwieg. Schließlich schaltete sie.
»Ich habe gehört, du hast heute schon die Anklagepunkte gegen diesen Kerl eingereicht«, fuhr sie darauf fort. »Ich hoffe nur, er geht euch nicht durch die Lappen.«
»Er hat keine Chance«, sagte Bosch.
»Umso besser. Aber was anderes, Harry, wann treffen wir uns wieder mal zum Essen, einfach wieder mal bekakeln, was sich in der Zwischenzeit so alles getan hat? Langsam fange ich an, dich zu vermissen.«
»Leider habe ich gerade gegessen. Aber das holen wir auf jeden Fall bald nach – das nächste Mal, wenn ich wieder in Downtown bin. Ich fände es auch schön, dich wieder mal zu treffen.«
»Dann bis bald, Harry.«
Bosch fuhr vom Parkplatz und machte sich auf Umwegen auf den Weg nach South Pasadena. Er fuhr innerhalb eines Zeitraums von dreißig Minuten viermal an Ida Townes Forsythe’ Haus im Arroyo Drive vorbei und achtete jedes Mal sehr genau auf die am Straßenrand geparkten Autos und sonstige verräterische Hinweise, dass Whitney Vance’ langjährige Sekretärin und Assistentin observiert werden könnte. Nachdem er nichts entdeckt hatte, was darauf hindeutete, und auf einer schmalen Privatstraße auch zweimal an der Rückseite des Hauses vorbeigefahren war, glaubte er riskieren zu können, bei Ida Townes Forsythe zu klingeln.
Er parkte in einer Nebenstraße und ging von dort zum Arroyo Drive und zu ihrem Haus. Es war wesentlich schöner als in der Google-Straßenansicht: ein typischer California-Craftsman-Bau und noch hervorragend in Schuss. Bosch betrat die breite, lange Veranda auf der Vorderseite und klopfte an die Holzkassettentür. Er hatte keine Ahnung, ob Forsythe zu Hause war oder vielleicht noch alles Mögliche in der Vance-Villa zu erledigen hatte. In letzterem Fall wollte er bis zu ihrer Rückkehr warten.
Doch er musste kein zweites Mal klopfen. Die Frau, wegen der er hergekommen war, öffnete die Tür, aber der Blick, mit dem sie ihn ansah, deutete nicht darauf hin, dass sie ihn wiedererkannte.
»Mrs Forsythe?«
»Ms bitte.«
»Entschuldigung, Ms Forsythe. Können Sie sich noch an mich erinnern? Ich bin Harry Bosch. Ich war letzte Woche bei Mr Vance.«
Jetzt fiel der Groschen.
»Natürlich. Was führt Sie zu mir?«
»Ähm, also, zunächst wollte ich Ihnen mein Beileid aussprechen. Ich weiß, dass Sie sehr lange mit Mr Vance zusammengearbeitet haben.«
»Das ist richtig. Es war ein schwerer Schock für mich. Ich wusste zwar, dass er alt und schwach war, aber trotzdem kann man sich einfach nicht vorstellen, dass ein Mann mit einer solchen Präsenz und Energie plötzlich nicht mehr da sein könnte. Was kann ich für Sie tun, Mr Bosch? Ich vermute, die Angelegenheit, in der Sie für Mr Vance Ermittlungen anstellen sollten, hat sich mit seinem Tod erledigt.«
Bosch hielt es für das Beste, sofort zur Sache zu kommen.
»Ich bin hier, um mit Ihnen über das Päckchen zu sprechen, das Sie mir letzte Woche in Mr Vance’ Auftrag zugeschickt haben.«
Die Frau stand fast zehn Sekunden lang regungslos in der offenen Tür, bevor sie antwortete. Sie wirkte verängstigt.
»Sie wissen schon, dass ich beobachtet werde, oder?«
»Nein, das weiß ich nicht«, sagte Bosch. »Ich habe mich zwar umgesehen, bevor ich bei Ihnen geklopft habe, aber mir ist nichts Verdächtiges aufgefallen. Sollte dem allerdings trotzdem so sein, sollten Sie mich lieber ins Haus lassen. Mein Auto steht ein Stück weiter um die Ecke. Im Moment verrät meine Anwesenheit also nur, dass ich vor Ihrer Tür stehe.«
Ida Forythe runzelte die Stirn, aber dann machte sie einen Schritt zurück und öffnete die Tür weiter.
»Kommen Sie herein.«
»Danke«, sagte Bosch.
Sie führte ihn durch den geräumigen Eingangsbereich ins Wohnzimmer, das neben der Küche auf der Rückseite des Hauses lag und keine Fenster zur Straße hatte. Sie deutete auf einen Sessel.
»Was wollen Sie, Mr Bosch?«
Bosch nahm Platz und hoffte, dass auch sie sich setzte, doch sie blieb stehen. Er wollte auf keinen Fall, dass das Gespräch feindselige Züge annahm.
»Also, zuerst möchte ich mich vergewissern, dass richtig ist, was ich vorhin gesagt habe«, begann er. »Sie haben mir doch dieses Päckchen zugeschickt?«
Inzwischen hatte sie die Arme über der Brust verschränkt.
»Ja, das habe ich«, sagte sie. »Weil Mr Vance mich darum gebeten hat.«
»Wussten Sie, was es enthielt?«, fragte Bosch.
»Damals nicht. Inzwischen schon.«
Das weckte Boschs Besorgnis. Hatten sie die Repräsentanten des Unternehmens danach gefragt?
»Woher wissen Sie das?«, fragte er.
»Weil ich nach Mr Vance’ Tod sein Büro abschließen sollte, sobald seine Leiche weggebracht worden war. Dabei fiel mir auf, dass sein goldener Füllhalter fehlte. Und daraufhin musste ich sofort an den schweren Gegenstand in dem Päckchen denken, das ich in seinem Auftrag an Sie schicken sollte.«
Bosch nickte erleichtert. Möglicherweise wusste sie nur von dem Füller, aber nichts von dem Testament. Und in diesem Fall wusste vielleicht auch sonst niemand etwas davon. Das wäre für Haller bestimmt von Vorteil, wenn er es vor Gericht vorlegte.
»Was hat Mr Vance gesagt, als er Ihnen das Päckchen für mich gegeben hat?«
»Er bat mich, es in meine Handtasche zu stecken und nach Hause mitzunehmen. Und dann sollte ich es am nächsten Morgen auf dem Weg zur Arbeit auf die Post bringen und aufgeben. Das habe ich getan.«
»Hat er Sie danach gefragt?«
»Ja, als ich an diesem Morgen zur Arbeit kam, fragte er mich als Erstes nach dem Päckchen. Ich sagte ihm, ich sei gerade auf der Post gewesen, und das nahm er mit sichtlicher Erleichterung zur Kenntnis.«
»Glauben Sie, Sie können den Umschlag, den Sie mir zugeschickt haben, identifizieren, wenn ich ihn Ihnen zeige?«
»Wahrscheinlich. Die Adresse war von Hand geschrieben. Ich würde die Handschrift erkennen.«
»Und wenn ich alles, was Sie mir gerade erzählt haben, in einer eidesstattlichen Erklärung schriftlich festhalte, wären Sie bereit, diese im Beisein eines Notars zu unterschreiben?«
»Warum sollte ich das? Um zu beweisen, dass es sein Füller war? Fall Sie ihn verkaufen, würde ich ihn gerne kaufen. Ich würde Ihnen mehr zahlen als den marktüblichen Preis.«
»Darum geht es nicht. Ich verkaufe den Füller nicht. In dem Päckchen war ein Dokument, dessen Echtheit möglicherweise angefochten wird, und deshalb werde ich vermutlich nachweisen müssen, wie es in meinen Besitz gelangt ist. Dabei wird der Füller, der ein Familienerbstück ist, sicher sehr hilfreich sein, aber gut wäre auch eine von Ihnen unterschriebene eidesstattliche Erklärung.«
»Ich will mich auf keinen Fall mit dem Vorstand anlegen, wenn Sie das meinen. Diese Leute sind zu allem fähig. Sie würden für einen Anteil an diesem Vermögen ihre eigenen Mütter verkaufen.«
»Sie werden dadurch nicht tiefer in die Sache hineingezogen, als Sie das ohnehin schon sind, Ms Forsythe.«
Endlich ging sie zu einem der anderen Sessel im Raum und setzte sich.
»Wie soll ich das verstehen? Ich habe mit alldem nichts zu tun.«
»Das Dokument in dem Päckchen war ein handschriftliches Testament«, sagte Bosch. »Sie werden darin als Begünstigte aufgeführt.«
Er achtete genau auf ihre Reaktion. Sie sah ihn verständnislos an.
»Soll das heißen, ich bekomme Geld oder Firmenanteile oder sonst etwas?«
»Zehn Millionen Dollar«, sagte Bosch.
Er sah ihre Augen kurz aufleuchten, als ihr bewusst wurde, dass ihr ein Teil des Vermögens zustand. Sie hob den rechten Arm und drückte die Faust an ihre Brust. Obwohl sie das Kinn senkte, konnte Bosch ihre Lippen zittern sehen, als ihr Tränen in die Augen stiegen. Bosch war nicht sicher, wie er das deuten sollte.
Es dauerte eine Weile, bis sie zu ihm aufschaute und zu sprechen begann.
»Ich habe nichts erwartet. Ich war eine Angestellte, keine Familienangehörige.«
»Waren Sie diese Woche in der Villa?«, fragte Bosch.
»Nein, seit Montag nicht mehr. Das war der Tag danach. Mir wurde zu verstehen gegeben, dass meine Dienste nicht mehr länger gefragt sind.«
»Aber am Sonntag, als Mr Vance gestorben ist, waren Sie noch dort?«
»Er rief mich an und bat mich, in die Villa zu kommen. Er sagte, er wollte verschiedene Briefe schreiben. Er bat mich, nach dem Mittagessen zu ihm zu kommen, was ich auch tat. Ich fand ihn unmittelbar nach meiner Ankunft in seinem Büro.«
»Durften Sie ohne Begleitung nach hinten gehen?«
»Ja, dieses Privileg stand mir immer zu.«
»Haben Sie einen Krankenwagen gerufen?«
»Nein, denn er war eindeutig tot.«
»War er an seinem Schreibtisch?«
»Ja, er starb an seinem Schreibtisch. Er war vornüber- und ein wenig zur Seite gesunken. Es sah so aus, als wäre alles ganz schnell gegangen.«
»Dann haben Sie also den Sicherheitsdienst verständigt.«
»Ich rief Mr Sloan an, und er kam nach hinten und verständigte jemandem vom Personal, der eine medizinische Ausbildung hatte. Sie führten Wiederbelebungsmaßnahmen durch, aber das nutzte nichts mehr. Er war tot. Darauf rief Mr Sloan die Polizei an.«
»Wissen Sie, wie lang Mr Sloan für Mr Vance gearbeitet hat?«
»Lange. Mindestens fünfundzwanzig Jahre, würde ich sagen. Er und ich waren am längsten bei ihm.«
Sie betupfte die Augen mit einem Papiertaschentuch, das sich, schien es Bosch, aus dem Nichts materialisiert hatte.
»Als ich mich mit Mr Vance getroffen habe«, sagte er, »hat er mir die Nummer eines Handys gegeben, auf dem ich ihn anrufen sollte, um ihn über Fortschritte bei meinen Ermittlungen zu informieren. Wissen Sie, was aus diesem Telefon geworden ist?«
Sie schüttelte sofort den Kopf.
»Das entzieht sich meiner Kenntnis.«
»Ich habe ein paarmal unter dieser Nummer angerufen und eine Nachricht hinterlassen«, sagte Bosch. »Und Mr Sloan hat mich ebenfalls mit diesem Handy angerufen. Haben Sie ihn nach Mr Vance’ Tod etwas von seinem Schreibtisch oder aus seinem Büro entfernen sehen?«
»Nein, Mr Sloan hat mir aufgetragen, das Büro abzuschließen, nachdem sie die Leiche weggebracht hatten. Und ein Handy ist mir dabei nicht aufgefallen.«
Bosch nickte.
»Wissen Sie, womit mich Mr Vance beauftragt hat?«, fragte er. »Hat er mit Ihnen darüber gesprochen?«
»Nein, das hat er nicht«, antwortete sie. »Niemand wusste es. Alle im Haus waren neugierig, aber er hat niemandem erzählt, was Sie für ihn tun sollten.«
»Er hat mich beauftragt herauszufinden, ob er einen Erben hatte. Wissen Sie, ob er mich von jemandem hat beobachten lassen?«
»Wieso hätte er das tun sollen?«
»Das frage ich mich auch. Aber aus dem Testament, das Sie mir in seinem Auftrag zugeschickt haben, geht eindeutig hervor, dass er glaubte, dass ich bereits einen lebenden Erben gefunden hatte. Allerdings haben wir nach unserem ersten Treffen in der Villa nicht mehr miteinander gesprochen.«
Forsythe kniff die Augen zusammen, als hätte sie Mühe, der Geschichte zu folgen.
»Das weiß ich leider nicht«, sagte sie schließlich. »Sie sagen, Sie haben unter der Nummer, die er Ihnen gegeben hat, mehrmals angerufen und eine Nachricht hinterlassen. Was haben Sie ihm mitgeteilt?«
Bosch beantwortete ihre Frage nicht. Er hatte diese Nachrichten ganz bewusst so formuliert, dass sie dahingehend aufgefasst werden konnten, dass er, wie sie aus Gründen der Tarnung vereinbart hatten, James Aldridge gefunden hatte. Sie hätten jedoch auch so gedeutet werden können, dass er einen Erben ausfindig gemacht hatte.
Er beschloss, das Gespräch mit Forsythe zu beenden.
»Ms Forsythe, Sie sollten sich schon einmal Gedanken machen, ob Sie sich nicht besser einen Anwalt nehmen sollten, der Sie in dieser Angelegenheit vertritt. Sobald das Testament beim Nachlassgericht eingereicht worden ist, wird die ganze Angelegenheit aller Wahrscheinlichkeit nach äußerst unerfreulich werden. Sie werden nicht umhinkommen, sich zu schützen. Ich arbeite mit dem Anwalt Michael Haller zusammen. Egal, von wem Sie sich in dieser Sache vertreten lassen, bitten Sie die betreffende Person, sich mit ihm in Verbindung zu setzen.«
»Ich kenne keine Anwälte, die ich anrufen könnte«, sagte sie.
»Lassen Sie sich von Ihren Freunden jemanden empfehlen. Oder von Ihrem Bankberater. Banker haben vermutlich ständig mit Nachlassverwaltern zu tun.«
»Gut, das werde ich.«
»Um noch einmal auf die eidesstattliche Erklärung zurückzukommen. Ich werde sie heute noch aufsetzen und Ihnen morgen zur Unterzeichnung vorbeibringen. Ist das für Sie in Ordnung?«
»Ja natürlich.«
Bosch stand auf.
»Haben Sie ganz konkret jemanden gesehen, der Sie oder das Haus beobachtet hat?«
»Ich habe auf der Straße Autos gesehen, die nicht hierhergehören. Aber sicher bin ich natürlich nicht.«
»Möchten Sie, dass ich hinten rausgehe?«
»Das könnte vielleicht nicht schaden.«
»Kein Problem. Ich lasse Ihnen meine Nummer hier. Rufen Sie mich an, wenn Sie Schwierigkeiten bekommen oder wenn jemand anfängt, Ihnen Fragen zu stellen.«
»Gut.«
Bosch reichte ihr eine Visitenkarte, und sie führte ihn zum Hintereingang.