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Berlin-Moabit,
Institut für Rechtsmedizin der Charité, Leichenannahme,
Mittwoch, 23. Juli, 23:12 Uhr
B eschwingt warf Julius Blohm den gigantischen Schlüsselbund mit der rechten Hand in die Höhe und fing ihn geschickt mit der linken wieder auf. In dieser Jahreszeit, und zumal bei der Hitze, die Berlin seit Wochen beharrlich scheinbar zum Schmelzen bringen wollte, beneideten seine Freunde ihn erstmalig um seinen studentischen Nebenjob: Nachtdienst in der Rechtsmedizin. Seine Aufgabe bestand in der Annahme der Leichen, die die Hauptstadt regelmäßig nachts ausspuckte. Sein Arbeitsplatz war das Leichenschauhaus der größten deutschen Metropole, das dem Institut für Rechtsmedizin angegliedert war.
Bei der Toten auf der metallenen Bahre vor Julius Blohm handelte es sich um eine vierundsiebzigjährige verwitwete Rentnerin, die leblos in ihrer Wohnung in Berlin-Charlottenburg aufgefunden worden war. Die Informationen entnahm Blohm dem Notarzteinsatzprotokoll, das die Leichenwagenfahrer der Rechtsmedizin ihm mitsamt der Toten am Hintereingang dieses Institutsgebäudes, der Leichenanlieferung, kurz vor 23 Uhr übergeben hatten.
Der Sohn der Toten, Ende vierzig, der seit Beginn seiner Arbeitslosigkeit vor zwei Monaten zu seiner Mutter in deren Zweizimmerwohnung eingezogen war, hatte seinen Wohnungsschlüssel vergessen und fast zwanzig Minuten vergeblich an der Wohnungstür geklingelt und geklopft. Er hatte sich zunehmend Sorgen um seine Mutter gemacht, die aufgrund einer noch nicht lange zurückliegenden Operation, bei der ihr eine künstliche Hüfte eingesetzt worden war, noch nicht mobil genug war, die Wohnung selbstständig zu verlassen. Deshalb hatte er sich schließlich nicht anders zu helfen gewusst, als den Notruf zu wählen. Kurz darauf hatten Einsatzkräfte der Berliner Feuerwehr im Beisein der Polizei die Wohnungstür gewaltsam geöffnet. Nur wenige Minuten später war ein Notarzt vor Ort eingetroffen, der die Feuerwehrleute bei ihren Reanimationsmaßnahmen der auf dem Wohnzimmerboden leblos aufgefundenen Wohnungsinhaberin unterstützte. Allerdings waren auch die Bemühungen des Notarztes nicht von Erfolg gekrönt, und die Vierundsiebzigjährige war gegen 21:36 Uhr für tot erklärt worden. Todesart: ungewiss.
Das Resultat des frustran verlaufenen Rettungseinsatzes lag nun vor Julius Blohm auf der Bahre.
Der vierundzwanzigjährige Medizinstudent hatte das Einchecken, wie er die Aufnahme von Leichen im Institut bezeichnete, schnell hinter sich gebracht. Zuerst die Übergabe und Dokumentation von eventuellen Wertsachen, Schmuck und Bekleidung der Toten durch die Leichenwagenfahrer sowie die anschließende Feststellung von Körpergewicht und Körperlänge der Toten. Dann die obligatorische Befestigung des Leichenfußzettels – darauf die Personalien der Toten – mit grobem Bindfaden am linken großen Zeh der Toten. Die erforderlichen Unterlagen zur Übergabe an das Personal des Leichenschauhauses am nächsten Morgen hatte Blohm ebenfalls ausgefüllt und dann die tote Charlottenburger Witwe in einen der weißen Plastikleichensäcke verfrachtet.
Jetzt löste er mit der Spitze seines rechten weißen Turnschuhs die Bremse an den Rädern des Untergestells der Bahre. Sogar in der Leichenanlieferung war die Hitze des vergangenen Tages noch allgegenwärtig, und feine Schweißperlen lösten sich von seiner Stirn und tropften auf den weißen Leichensack. Umso mehr freute er sich auf die Kühle, die ihn erwartete. Und tatsächlich, genau in dem Moment, als Blohm die Tür zwischen dem Kellertrakt der Rechtsmedizin und der Leichenanlieferung mit einem der Schlüssel von seinem gewaltigen Bund wieder hinter sich zuschloss, löste sich die Sommerhitze in der mechanischen Kühle auf, die in diesem Teil des Gebäudes herrschte. Hier mischte sich der Geruch von scharfen Putzmitteln mit dem süßlichen Duft der Gase, die aus den Toten austraten und von ihrem verflüchtigten Leben zeugten. So roch der Tod. Zumindest hier. Süßlich, aber auch irgendwie sauber. Der Duft der Forensik.
Er schob das mit vier Rollen versehene Untergestell der Bahre mitsamt der Toten weiter in Richtung des geräumigen Kühlraumes und spürte die kühlen Metallgriffe unter den dünnen Latexhandschuhen. Laut Protokoll wog die Tote 52 Kilogramm. Im Gegensatz zu anderen Verstorbenen, bei denen es ihm manchmal schwerfiel, die Bahre durch die verwinkelten Kellergänge hier unten zu schieben, war sie ein echtes Leichtgewicht. Die Menschen wurden immer dicker, also wurden nicht nur die Toten, sondern auch sein Job in der Rechtsmedizin zunehmend schwerer.
Die kleinen Räder quietschten leise auf dem Linoleumboden, als hätte sich hier im Untergeschoss der Rechtsmedizin eine Mäusefamilie versteckt. Das Licht der Neonröhren ließ den grünen Boden glänzen. Aus seinem Aufenthaltsraum drang Radiogedudel zu ihm herüber. Dort würde er es sich gleich wieder bequem machen. Bis zum nächsten Anruf. Bis zur nächsten Leichenanlieferung. Zwölf Stunden unter Toten, das ist eine sehr stille Angelegenheit, ging ihm durch den Sinn. Insofern schätzte er das Hintergrundgedudel des Radios von Zeit zu Zeit bei seiner Arbeit.
Der Medizinstudent hatte den riesigen Kühlraum am Ende des langen Flurs fast erreicht. Dort war für bis zu achtzig Tote in offenen Regalfächern Platz, bei konstanten vier Grad Celsius. Die unsichtbare Mäusefamilie begann lauter zu quietschen.
An der Metalltür des Kühlraums angekommen, fischte Blohm erneut den Schlüsselbund aus seiner Kitteltasche und warf ihn pfeifend in die Luft. Er wollte ihn abermals lässig wieder auffangen, doch er rutschte ihm klirrend durch die Finger. Mit einem dumpfen Geräusch landete der schwere Schlüsselbund auf der festen, gummiartigen Außenhaut des weißen Leichensacks vor ihm, ungefähr dort, wo sich der Kopf der Toten befinden musste, und blieb dort liegen. Allerdings nur für einen kurzen Moment, denn als Blohm danach greifen wollte, rutschte er, noch bevor seine Finger ihn zu fassen bekamen, plötzlich herunter und landete laut rasselnd auf dem grünen Linoleumboden. Blohm zuckte zusammen. Verdutzt starrte er auf den Leichensack. Was war denn das?, dachte er. Er hatte die Schlüssel gerade wieder an sich genommen, richtete sich aus seiner gebückten Haltung auf und befand sich auf Augenhöhe mit der Leiche, als er es sah: eine Bewegung, im Inneren des Leichensacks!
Auch wenn das feste, starre Material der Säcke nur wenig über den Inhalt und die Konturen ihres Inhalts preisgab – im Leichensack hatte sich etwas bewegt. Da war er sich absolut sicher.
Die Augen des Studenten weiteten sich, starr vor Schreck.
Da! Schon wieder!
Blohms Atem ging schneller, kam jetzt keuchend und stoßweise. Abermals wurde seine Stirn schweißnass, trotz der ihn umgebenden Kühlschranktemperaturen. Blohm verharrte vor der Bahre, unfähig, sich zu bewegen. Aber jetzt war da – nichts! Es war keine weitere Bewegung im Inneren des Sacks auszumachen.
Er gab sich einen Ruck, streckte die behandschuhte rechte Hand vorsichtig aus und drückte zaghaft auf die Außenwand des Leichensacks, der im Licht der Neonröhren wie die cremeweiße Haut eines Belugawals glänzte.
Und dann kam der erste Schlag gegen die Innenwand. Noch zaghaft. Dann der zweite. Diesmal deutlich kräftiger. Blohm sah, wie sich mit jedem Schlag ganz deutlich eine Ausbeulung abzeichnete.
Ihm entfuhr ein Schrei. Ein viel zu hoher Schrei, der ihm so gar nicht wie sein eigener vorkam und ihn noch mehr erschreckte. Schweißperlen lösten sich von seiner Stirn und fielen auf die Spitzen seiner weißen Turnschuhe.
Sein Blick verharrte auf einer erneuten Ausbeulung, ohne dass sein Gehirn zu verstehen schien, was dort, direkt vor ihm, gerade passierte. Er konnte nicht glauben, was er jetzt, bei noch genauerem Hinsehen, erblickte: Der Leichensack hob und senkte sich im Brustbereich.
Die Tote! Sie atmet!
Blohm rannte los, seine trampelnden Schritte knallten wie Schüsse auf dem Linoleumboden des langen Flurs.
Im Hintergrund spielte das Radio gerade eine düstere Ballade von Nick Cave.
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