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Berlin,
Treptowers, BKA-Einheit »Extremdelikte«, Besprechungsraum,
Montag, 28. Juli, 7:36 Uhr
D
ie Fotos der beiden mumifizierten Toten wurden von dem Beamer übergroß an die Leinwand in dem grau möblierten Besprechungsraum im Untergeschoss der Treptowers geworfen. In dem 125 Meter hohen Gebäudekomplex im Berliner Ortsteil Alt-Treptow waren verschiedene Abteilungen des BKA untergebracht, unter anderem die rechtsmedizinische Sonderabteilung »Extremdelikte«. Mit zwei Ausnahmen waren alle Mitarbeiter der rechtsmedizinischen Abteilung zur täglichen Frühbesprechung um 7:30 Uhr in dem großen, mit einem Konferenztisch und zehn Stühlen, PC, Leinwand und Beamer ausgestatteten Besprechungsraum anwesend: Dr. Fred Abel, der die Besprechung als stellvertretender Leiter der »Extremdelikte«, mit einem Stapel Ermittlungsakten vor sich, leitete, Oberarzt Dr. Martin Scherz und die Assistenzärzte Dr. Alfons Murau, Dr. Wiebke Rath, Dr. Tomas Tomski, Dr. Alexandra Roth sowie die Sekretärin Renate Hübner. Nur ihr Chef, Professor Paul Herzfeld, und die Assistenzärztin Dr. Sabine Yao fehlten an diesem Morgen.
Das Geschlecht der Mumien auf den Fotos, die Abel hintereinander auf die Leinwand projizierte und die den Leichenfundort und die Körper aus verschiedenen Perspektiven zeigten – mal versehen mit einem Maßstab der Spurensicherung, mal ohne –, war zwar aufgrund ihres Aussehens nicht mehr sicher bestimmbar, aber die Kleidung, die
sie trugen, lieferte einige Informationen. Aufgrund ihrer Austrocknung und der damit einhergehenden Schrumpfung der Weichteile ihrer Körper und dem Ausfall der Kopfhaare erinnerten sie weniger an Menschen als vielmehr an grob geschnitzte, überdimensionierte Holzpuppen, die mit rissigem braunem Leder überzogen waren. Sie starrten den Betrachter aus leeren Augenhöhlen an. Die eine Mumie war mit einem Rock und etwas, was vermutlich einmal eine Bluse oder ein Hemd gewesen war, bekleidet. Die andere trug Shorts und ein kurzärmeliges Hemd. Die ursprüngliche Farbe der Kleidung war allenfalls noch zu erahnen, da literweise Fäulnisflüssigkeit – die, als der Fäulnisgasdruck im Körperinneren zu groß geworden war, durch alle Körperöffnungen aus den Körpern hinausgepresst worden war – die Kleidung verschmutzt und verfärbt hatte. Die Fäulnisflüssigkeit war dann eingetrocknet und hatte nun einen unschönen bräunlichen Farbton hinterlassen. Im Anschluss war es, mit weiterem Fortschreiten des postmortalen Intervalls, zur Vertrocknung der Körper und damit zur Mumifizierung gekommen.
Die Beine der beiden Mumien steckten wie graue, borkige Äste eines abgestorbenen Baumes in Halbschuhen. Ihre Köpfe erinnerten an raue, staubige Kugeln, in denen sich Käfer und andere Insekten eine trockene Heimstätte gesucht hatten. Da bei beiden Mumien Ober- und Unterkieferzahnprothesen aus den Mündern herausragten, die durch die lederartige Verhärtung der umgebenden Gesichtshaut weit offen gehalten wurden, handelte es sich augenscheinlich um die sterblichen Überreste von Menschen in höherem Lebensalter.
Abel fuhr sich mit der Hand über seine frisch rasierte Wange. Das neue Aftershave, das Lisa ihm geschenkt hatte – angeblich sanft und hautschonend –, brannte immer noch.
»Der erste Fall für heute«, setzte er an. »Was wir hier sehen, sind zwei noch nicht identifizierte Tote, vermutlich ein Mann und eine Frau. Und, wie unschwer zu erkennen, sind beide bereits mumifiziert.
Bauarbeiter, die den alten Hindutempel in der Hasenheide in Kreuzberg abgerissen haben, entdeckten die Leichen gestern Vormittag. Die beiden Körper befanden sich unter dem Holzboden in einem hinteren Bereich des Tempels, der hier …« – er deutete mit einem Laserpointer auf das auf die Leinwand projizierte Bild – »… zum Teil schon aufgestemmt worden ist.«
Murau räusperte sich geräuschvoll.
Abel blickte zu dem aus Wien stammenden Assistenzarzt hinüber, der beim Anblick der beiden Mumien begonnen hatte, unruhig auf seinem Stuhl hin und her zu rutschen. Es kann nicht mehr lange dauern, bis er sich zu Wort meldet,
dachte Abel.
Murau hatte sich in diesem Sommer einen neuen, eigenwilligen Kleidungsstil zugelegt: Sein stämmiger Oberkörper, der etwas zu kurz geraten schien, steckte auch heute in einem äußerst eng sitzenden kakifarbenen Hemd, das ihn wie einen Tropenforscher aus dem letzten Jahrhundert erscheinen ließ.
Abel hatte bereits beim Betreten des Besprechungszimmers bemerkt, dass Murau eine farblich passende Hose dazu trug, als würde er nach Feierabend noch die letzten weißen Flecken auf der Landkarte des Amazonas oder eines anderen Urwaldgebietes erkunden wollen.
Murau wischte sich mit einem weißen Taschentuch den Schweiß von der Stirn und begann in seiner unverwechselbaren Wienerischen Mundart zu sprechen. »Das ist ja hier wie bei Howard Carter. Der Fluch der Mumie!« Er lachte begeistert über seine eigene Bemerkung.
Es hatte dem Österreicher noch nie etwas ausgemacht, im Kollegenkreis allein zu lachen – was fast immer der Fall war. Denn seine Kollegen fanden das, was Murau an bissigen und spöttischen Kommentaren zu den in der Frühbesprechung referierten Fällen beisteuerte, in der Regel meistens fragwürdig, wenn nicht sogar pietät- und geschmacklos. Allerdings hatten fast alle es längst aufgegeben, gegen seine Wortbeiträge zu opponieren, bis auf Oberarzt
Dr. Martin Scherz, der wie üblich missmutig dreinschauend mit einem Teelöffel in seinem Kaffeebecher rührte. Das dienstälteste Mitglied der rechtsmedizinischen Sonderabteilung, dessen grauer Bart in den vergangenen zwei Jahren zunehmend weiß geworden und zu ein paar wenigen Fusseln verkommen war, schaute gelangweilt zu Murau hinüber.
»Na, Kollege – Sie meinen wohl auch, dass Sie auf Carters Spuren im Tal der Könige wandeln, oder was soll Ihr Afrikacorps-Outfit, in dem Sie hier neuerdings aufkreuzen, bedeuten? Die Hitze steigt Ihnen wohl langsam zu Kopf«, sagte Scherz. Er und Murau waren noch nie Freunde gewesen und würden es sicher in diesem Leben auch nicht mehr werden.
Murau ließ das weiße Taschentuch in der Brusttasche seines Expeditionshemdes verschwinden. Wenn ihn Scherz’ bissiger Kommentar getroffen hatte, so war das seinem runden, rosigen Gesicht nicht anzusehen.
»Ich meine die Graböffnung, Herr Kollege«, erwiderte er. »Als es zur Mumie ging. Im Grab des Tutanchamun. Keiner konnte etwas sehen – nur Carter. Der schob nämlich eine Kerze durch die kleine Öffnung in der Grabkammer.«
Abel strich sich genervt durch seine grauen Haare. Die Belesenheit von Murau und seine aufdringliche Eigenschaft, aus seinem unendlichen Wissensschatz kein Geheimnis zu machen, sondern bei jeder Gelegenheit eine historische Anekdote in den Raum zu werfen oder Texte bekannter oder weniger bekannter Dichter zu rezitieren, hatte bereits so manche Frühbesprechung in die Länge gezogen.
Aber Murau sprach unbeirrt weiter: »Als Lord Carnarvon, der Finanzier und Förderer Carters, daraufhin Carter fragte: ›Können Sie etwas sehen?‹, antwortete Carter mit den historischen Worten: ›Ich sehe wunderbare Dinge!‹ Und wussten Sie, dass Carter damals …«
Plötzlich flog die Tür des Besprechungsraumes auf.
Bis auf Murau blickten die anwesenden Mitarbeiter der Abteilung »Extremdelikte« alle erleichtert auf, denn nun war klar, dass Murau seine Anekdoten von Carters Heldentaten im Tal der Könige nicht weiter würde ausführen können.
»Guten Morgen, Herrschaften! Oder, wie wir früher in Kiel immer gesagt haben: Moin! Moin! Bitte entschuldigen Sie die Verspätung, ich wurde durch einen Anruf aus dem Büro unseres Innenministers aufgehalten«, begrüßte Professor Paul Herzfeld die Anwesenden und nickte ihnen kurz freundschaftlich zu.
Herzfeld war im Gesicht gebräunt, sein weißes und perfekt gebügeltes Oberhemd unter dem dunkelblauen Sakko verstärkte seine Gesichtsfarbe. Der zweiwöchige Urlaub auf den Kapverdischen Inseln hatte ihm sichtlich gutgetan, und heute übernahm er von Abel, seinem Stellvertreter, wieder den Staffelstab der Abteilung.
Abel und Herzfeld hatten auch während seines Urlaubs immer wieder telefonisch Kontakt gehabt, meist wenn es auf den Kapverden Abend war, denn Herzfeld hatte tagsüber Wassersportaktivitäten gefrönt. Doch auch im Urlaub konnte er nicht ganz loslassen. Die Rechtsmedizin war für ihn nicht nur sein Beruf, es war seine Berufung. Was ihn schließlich vor zehn Jahren die Ehe mit seiner damaligen Frau Petra gekostet hatte. Und was oftmals für seine Mitarbeiter eine echte Herausforderung darstellte, denn Herzfeld arbeitete quasi rund um die Uhr und rief manchmal spätabends oder zu nachtschlafender Zeit von seinem Bürotelefon aus seine Mitarbeiter mit Nachfragen zu Sektionsfällen oder Leichenfundortberichten an. Was aber seiner Beliebtheit in der Abteilung keinen Abbruch tat. Es hielt sich hartnäckig das Gerücht, dass er nie ohne seinen kleinen Koffer mit Sektionsbesteck in den Urlaub fuhr. Abel stand seinem Chef in dieser Beziehung aber kaum nach. Auch er war Workaholic und vergaß alles um sich herum, wenn er sich erst einmal in einen Fall verbissen hatte.
Herzfeld stützte sich mit beiden Fäusten auf dem wuchtigen
Konferenztisch mit der auf Hochglanz polierten grauen Tischplatte ab und schaute die Kollegen herausfordernd an, was Abel kurz an ein Gorillamännchen erinnerte, das mit bestimmten Gesten seine Dominanz zur Geltung brachte.
»Haben Sie mich auch schön vermisst?«, fragte Herzfeld mit einem breiten Grinsen und einem Blitzen in den Augen. Abel musste lächeln. Er bewunderte seinen Chef, er schaffte es sogar, dass sich alle freuten, auch wenn er zu spät kam.
Alfons Murau hob süffisant in seinem breiten Wienerisch an: »Herr Professor, es ist uns natürlich eine Freude. Auch wenn Dr. Abel viele Leitungsqualitäten hat, die wir bis zu Ihrem nächsten Urlaub wieder vermissen werden …«
Herzfeld lächelte den Assistenzarzt an.
Muraus Art war zwar nicht jedermanns Sache, aber an seinem fachlichen Können hatte niemand im Raum, auch nicht Oberarzt Dr. Martin Scherz, den geringsten Zweifel. Deshalb sah Herzfeld dem Österreicher fast alle auch noch so überflüssigen Kommentare nach.
Herzfeld schaute in die Runde. »So, wie ich sehe, hast du schon mal angefangen, Fred. Danke. Aber wir sind nicht ganz vollzählig. Frau Yao?« Er hob fragend die Augenbrauen.
Abel schluckte trocken und blickte kurz auf den leeren Platz.
»Frau Dr. Yao kommt etwas später, sie findet sich dann direkt im Sektionssaal ein. Sie hat einen wichtigen privaten Termin, der sich nicht verschieben ließ. Habe ich vorhin vergessen zu sagen«, meldete sich Renate Hübner.
Die kurz vor ihrer Rente stehende Hübner hatte als gute Seele der Abteilung und als Sekretärin eine Doppelfunktion inne. Man konnte sie guten Gewissens als Urgestein bezeichnen, denn sie war seit Gründung der »Extremdelikte« vor etwas mehr als fünfzehn Jahren mit von der Partie. Manchmal schien es Abel, dass Hübner eher für die ganzheitliche Betreuung der unterschiedlichen Charaktere ihrer
Abteilung als für Schreibarbeiten oder Terminvereinbarungen zuständig war. Wer krank war, wurde aus ihrer immer bestens sortierten Schreibtischapotheke versorgt, oft mit verschreibungspflichtigen Medikamenten. Und wer an einem Freitagabend zu lange über seinen Sektionsakten saß, wurde mit einem kalten Bier aus ihrem Kühlschrank in den Feierabend entlassen.
»Alles klar. Dann übernehme ich jetzt«, sagte Herzfeld und ließ sich von Abel die Fernsteuerung des PCs geben.
Leise surrend warf der Beamer ein weiteres Bild der Mumien aus dem Hindutempel an die Wand.
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