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Berlin, Marzahn-Hellersdorf,
Wohnung von Mailin Zhou, Wohnzimmer,
Montag, 28. Juli, 7:41 Uhr
I
hr Blick fiel auf die quadratischen, hellgrauen Fliesen, in deren rauem Fugenmaterial immer noch dünne Streifen blassbräunlicher Verfärbungen zu sehen waren. Als sei dort vor langer Zeit eine Flasche Rotwein zu Bruch gegangen, deren Inhalt sich dann über den Fußboden verteilt hatte. Doch Sabine Yao wusste, dass sich hier vor sechs Tagen, genau an dieser Stelle vor der Wohnzimmercouch, etwas Schreckliches ereignet hatte. Dass das Leben ihrer knapp zwei Jahre alten Nichte Siara, der Tochter ihrer Schwester Mailin, hier an einen Wendepunkt gekommen war, von dem aus es kein Zurück mehr gab.
Sabine Yao beugte sich ein Stück nach vorn und schob den wackeligen Couchtisch, auf dem ihre Handtasche lag, zur Seite. Sie zog den Sisalteppich, den sie vor zwei Tagen bei einem Möbeldiscounter gekauft hatte, vor die Couch, sodass die von dem Blut ihrer Nichte herrührenden Verfärbungen verdeckt wurden – als könnte sie, indem sie die Spuren des furchtbaren Vorfalls verbarg, auch das, was passiert war, ungeschehen machen. Dann zerrte sie den schweren Kunstledersessel, den sie zuvor unter Aufbietung all ihrer Kräfte zur Seite gewuchtet hatte, auf die der Couch gegenüberliegende Seite des Teppichs. Den Couchtisch stellte sie zurück an seinen ursprünglichen Platz zwischen Couch und Sessel und ließ sich, leicht außer Atem, auf die Couch fallen.
Ihre Schwester Mailin hatte die ganze Zeit unbeteiligt
danebengestanden. Jetzt setzte sie sich Sabine Yao gegenüber.
»Ich kann dir doch nichts anderes sagen«, flüsterte Mailin und strich sich mit der Handfläche die schwarzen, ungewaschenen Haare aus der Stirn.
Mailin wirkte in den Polstern des riesigen Sessels noch zierlicher als sonst. Verloren. »Verdammt, Bine!« Ihre Augen huschten über den Boden, als würde sie nach weiteren Blutspuren Ausschau halten.
In den vergangenen Monaten ist es mit Mailin noch weiter bergab gegangen,
dachte Sabine Yao, und es schnürte ihr den Brustkorb zusammen, ihre sechs Jahre jüngere Schwester so zu sehen. Es würde immer einen Unterschied zwischen ihnen geben.
Mailin war bereits als kleines Mädchen anders gewesen, trug eine gewisse Instabilität in sich. Aber auch etwas Zorniges. Schon früh war es offensichtlich gewesen: Sabine spielte mit ihren Puppen, sprach wie eine Ärztin mit ihnen, Mailin riss ihnen die Arme ab. Später hatte Sabine freiwillig Praktika im Krankenhaus gemacht, während Mailin die Schule vernachlässigte, sich heimlich ritzte, Alkohol trank und wer weiß was konsumierte. So erhielt jede auf ihre Weise die Aufmerksamkeit ihrer Eltern. Seit jeher war Sabine Yao mit einem Gefühl der Sorge erfüllt, wenn sie an ihre jüngere Schwester dachte.
Doch dann hatte es den Anschein gehabt, dass Mailins Dämonen besänftigt wurden. Die Gründung einer Familie hatte ihr gutgetan, ihr eine nie da gewesene Stabilität gegeben. Die Ehe, die Kinder – Mailin hatte die Verantwortung angenommen. Und war aufgeblüht.
Sabine Yao war erleichtert gewesen, hatte sich mit ihrer Schwester gefreut und war stolz auf sie. Die Zeit der Frustration, der Zerstörungswut, der Unberechenbarkeit, der Suchtgefährdung schien Mailin endgültig hinter sich gelassen zu haben.
Doch nun schien Mailins früheres Ich wieder zurückzukehren. Als hätte es nur jahrelang auf einen solchen Moment gewartet. Mailin verließ das Haus kaum noch. Sie hatte wieder angefangen zu trinken.
Ihr Gesicht hatte eine gräuliche Farbe – ein Nachtgesicht, das trotz der hochsommerlichen Tage seit langer Zeit kaum noch Sonnenlicht gesehen hatte. Mailins Mundwinkel waren trocken und eingerissen, außerdem hatte sie merklich abgenommen. Sie war zwar erst Anfang dreißig, aber ihre Bewegungen waren innerhalb weniger Tage zu denen einer alten Frau geworden. Die junge Frau, die sie einmal gewesen war, war scheinbar mit ihrer Tochter auf dem harten Fliesenboden des Wohnzimmers aufgeschlagen und dabei in tausend kleine Stücke zersprungen.
Die Wohnung, drei Zimmer in einem anonymen zwanzigstöckigen Wohnblock in Marzahn, war übersät mit unsortierter Wäsche. Auf dem Esstisch im Wohnzimmer stapelten sich Unterlagen und einige ungeöffnete Briefe.
Sabine Yao, die einen bis kurz über ihre Knie reichenden dunkelroten Rock und eine cremefarbene Bluse trug, passend zu ihren ebenfalls cremefarbenen Pumps, lehnte sich auf der Couch zurück. Ihre sorgfältig manikürten Finger ruhten auf ihren Oberschenkeln. Die Rechtsmedizinerin blickte zu Mailin, die sich, wie immer bei den Besuchen ihrer älteren Schwester in den letzten Tagen, augenscheinlich wand. Sabine Yao musste eigentlich dringend zur Arbeit. Die Frühbesprechung war schon in vollem Gange. Aber sie brachte es nicht übers Herz, Mailin jetzt allein zu lassen. Ihre kleine Schwester brauchte sie. Sie hatte doch sonst niemanden mehr.
»Hast du was von Sina gehört? Hat sich einer der Sozialarbeiter aus der Kriseneinrichtung bei dir gemeldet?«, fragte Sabine Yao. Wie zu erwarten, schüttelte ihre Schwester den Kopf.
Noch am selben Tag, an dem sich das Drama im Wohnzimmer der kleinen Familie ereignet hatte, war Siaras Zwillingsschwester Sina vom Jugendamt in Obhut genommen und in einer Kriseneinrichtung untergebracht worden. Dort kümmerten sich Sozialarbeiter mit ihren Familien um die Kinder, die als Akutfälle sofort aus ihrem Elternhaus
genommen werden mussten – sei es wegen körperlicher Gewalt oder wegen Verwahrlosung, weil sich niemand für sie verantwortlich fühlte. Seit sechs Tagen war Sina nun schon in Neukölln mit vier anderen Kindern in der Wohngruppe blau. Und so waren die beiden Zwillingsschwestern nicht nur das erste Mal voneinander, sondern auch von ihrer Mutter getrennt.
»Hast du denn eine Nachricht vom Familiengericht? Also, haben die sich in irgendeiner Form schon bei dir gemeldet?«
»Nein, wieso?«, fragte Mailin ängstlich. »Was genau meinst du?«
Sabine Yao wusste, dass es nur noch ein bis zwei Tage dauern würde, bis Mailin Post vom Familiengericht erhielt.
Ein Richter würde sich in einer Anhörung ein Bild von ihrer Schwester und dem Geschehenen machen und dann entscheiden, wie es mit Sina weiterging. Ob Siaras Zwillingsschwester zu ihrer Mutter zurückkehren konnte, oder ob auch ihr Leben in ihrem häuslichen Umfeld möglicherweise in Gefahr war und das Sorgerecht für Sina dem zuständigen Jugendamt übertragen wurde.
Aber dieses Wissen behielt Sabine Yao jetzt besser für sich. Warum sollte sie Mailin noch weiter verunsichern und beunruhigen? Deshalb sagte sie ausweichend: »War nur so ein Gedanke, aber eigentlich nicht wichtig.«
Und wohlweislich verzichtete sie auch darauf, ihrer Schwester ihre weiteren Überlegungen mitzuteilen. Denn Mailin würde von der Staatsanwaltschaft eine Vorladung bekommen, die die Ermittlungen bereits aufgenommen hatte, wie die Rechtsmedizinerin wusste. Ermittlungen zur Klärung, ob eine Straftat die Ursache von Siaras schweren Verletzungen war. Von Verletzungen, für die die Mutter des Kindes, ihre Schwester Mailin, keine plausible Erklärung hatte. Aber trotzdem glaubte Sabine Yao jedes Wort von dem, was Mailin ihr über das tragische Unglück berichtet hatte.
Oder will ich es vielleicht einfach nur glauben?
Doch diesen
Gedanken wischte sie schnell beiseite und schämte sich sogar ein wenig, ihn überhaupt gedacht zu haben. Keiner kannte ihre Schwester so gut wie sie. Mailin würde niemals ihre Aggression gegen ihre Kinder richten. Dafür würde sie, Sabine, ihre Hand ins Feuer legen.
Sabine Yao hatte sich einen Tag nach dem Unfall auf der Kinderintensivstation der Charité selbst ein Bild vom immer noch kritischen Zustand ihrer kleinen Nichte gemacht. Sie wusste, dass Siaras Kopfverletzungen so schwerwiegend waren, dass eine völlige Wiederherstellung ihrer Gesundheit so gut wie ausgeschlossen war. Ob Siara jemals wieder in einem normalen häuslichen Umfeld würde leben können, war zum jetzigen Zeitpunkt ebenso offen wie die Frage, ob sie überhaupt überleben würde. Als Rechtsmedizinerin kannte Sabine Yao nur zu gut die möglichen Komplikationen – Lungenentzündung, Blutgerinnselbildungen in den Hirnschlagadern, Lungenembolie –, nicht nur infolge des Traumas selbst, sondern auch als Konsequenz der notwendig gewordenen Operationen, die ihre Nichte über sich hatte ergehen lassen müssen und die vielleicht noch folgen würden.
Aber das alles wusste ihre Schwester nicht. Mailin ahnte es vielleicht. Aber Sabine Yao konnte ihr momentan unmöglich sagen, wie es wirklich um ihre Tochter stand. Denn dafür war die Bürde, die ihre Schwester aus der jüngeren Vergangenheit mit sich herumtrug, viel zu groß. Das tragische Schicksal der Familie Zhou hatte bereits vor sechs Monaten seinen Lauf genommen, als Mailins Mann bei einem Unfall ums Leben kam.
Mailin starrte abwesend aus dem Fenster, während sich ihre Augen langsam mit Tränen füllten. Die Wohnung lag im zwölften Stock, sodass man, bei wolkenloser Sicht wie heute, den Fernsehturm auf dem Alexanderplatz sehen konnte, das ehemalige Wahrzeichen Ostberlins. Sabine Yaos Blick folgte dem ihrer Schwester. In der Ferne, ganz am Horizont über dem unendlichen Häusermeer und dem
Straßengewirr Berlins, konnte sie am Horizont einen blassgrünen Schimmer als schmalen Streifen unter dem azurblauen Himmel ausmachen.
Es würde auch heute in der deutschen Hauptstadt wieder ein heißer Tag werden.
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