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Berlin-Grünau,
Wohnhaus von Dr. Fred Abel und Lisa Suttner, Badezimmer,
Montag, 28. Juli, 9:01 Uhr
L isa Suttner betrachtete sich im Badezimmerspiegel, horchte in sich hinein, achtete auf jede noch so kleine Gefühlsregung in ihrem Inneren, suchte nach wahrnehmbaren Veränderungen an ihrem Körper. Aber da war – nichts.
Sommerliche Töne drangen von draußen durch das leicht geöffnete Badezimmerfenster zu ihr herein, von der Dahme, einem Nebenarm der Spree. Die Stimmen aufgeregter Vögel, das Kreischen einer weit entfernten Motorsäge oder vielleicht auch die elektrische Heckenschere eines Nachbarn.
Seit zwei Wochen wusste sie, dass sie schwanger war. Dass sie und Freddy Eltern wurden, dass sie sein Kind in sich trug. Auch wenn es ihr mittlerweile jeden Tag schwerer fiel, dieses Wissen für sich zu behalten, es nicht mit ihrem langjährigen Lebensgefährten zu teilen, hielt sie sich streng an ihr selbst auferlegtes Gebot, es Fred nicht vor Ende des dritten Monats zu sagen. Nach zwei Fehlgeburten vor drei und sechs Jahren, jeweils in der Frühschwangerschaft, war sie vorsichtig geworden, wollte jetzt keinen Überschwang, kein verfrühtes Glücksgefühl zulassen. Glück, das immer noch jederzeit wie ein Kartenhaus bei einem Windstoß in sich zusammenfallen konnte und Leere und Schmerz in ihr hinterlassen würde. Selbstschutz. Zudem würde sie keine junge Mutter sein. Sie war jetzt, nach den Berechnungen ihres Frauenarztes, in der zehnten Woche. Noch zwei Wochen, Fred, und du wirst der glücklichste Mensch der Welt sein. Wir werden Eltern! Im Februar kommenden Jahres!
Die Staatsanwältin der Bundesanwaltschaft, die bald Urlaub hatte und schon die Tage zählte, bis sie mit Fred auf die griechische Insel Kos fliegen würde, fuhr sich mit beiden Händen durch ihre rötlichen Haare, die immer noch feucht vom Duschen waren.
Du hast ungeschminkt auch schon mal besser ausgesehen, dachte sie, während sie nun ihr Gesicht im Badezimmerspiegel betrachtete. Penibel hielt sie Ausschau nach neuen Fältchen, ihre grünen Augen suchten jeden Millimeter ihres Spiegelbildes ab. Alles in Ordnung für über vierzig, eigentlich …
Dann hielt Lisa wieder inne. Das Gefühl ihrer nackten Füße auf den am Morgen angenehm kühlen Fliesen des Badezimmerbodens war das gleiche. Nicht einmal die Spur eines klitzekleinen Bäuchleins, aber dafür war es noch viel zu früh. Dennoch war seit ein paar Wochen alles anders.
Ich will es Fred unbedingt sagen, am liebsten jetzt sofort, kam es ihr in den Sinn. Sie schaute auf ihre Armbanduhr, eine kleine Rolex mit roséfarbenem Ziffernblatt, die sie vor dem Duschen abgenommen hatte. Er wird aber sicher im Sektionssaal stehen. Sie atmete tief aus und schalt sich innerlich für ihr irrationales Verhalten. Ihm während einer Sektion von ihrem neuen Glück zu erzählen war eine absurde Idee. Sie schüttelte den Kopf. Sie war, wie so oft in den vergangenen zwei Wochen, innerlich hin- und hergerissen.
Eilig zog sie sich ein weites, beigefarbenes T-Shirt über, das sie sich bereits auf dem Rand der Badewanne neben der großräumigen Dusche mit dem Regenwaldduschkopf zurechtgelegt hatte, und versuchte den Impuls, ihr Handy zu nehmen und ihren Lebensgefährten anzurufen, zu unterdrücken. Dann band sie ihre Haare zusammen und ging mit schnellen Schritten die Treppe in die untere Etage des Townhouses hinunter, das sie und Fred vor einigen Jahren bezogen hatten.
Sie hatte die große Panoramascheibe des Wohnzimmers, die auf die Veranda führte, bereits vor dem Frühstück weit aufgezogen. Die warme Luft hatte sich inzwischen im gesamten Wohnzimmer ausgebreitet, und es lag der Duft von frischem Kaffee in der Luft. Auf dem großen Glastisch, der das Zentrum des Wohn-Esszimmers bildete, lagen noch die Akten von Fred, die er gestern Abend nach dem Essen gesichtet hatte, um sich auf einen Mordprozess, der kurz nach ihrem Urlaub beginnen würde, vorzubereiten. Neben dem großen Lilienstrauß auf dem weiß lackierten Sideboard, den natürlich sie und nicht Fred vor zwei Tagen gekauft hatte, stand ein Foto in einem silbernen Rahmen. Es zeigte sie in den Armen von Fred. Als die Aufnahme vor knapp elf Jahren gemacht worden war, waren sie noch nicht lange ein Paar gewesen. Lisa hatte etwa zu jener Zeit als Staatsanwältin bei der Bundesanwaltschaft begonnen, und Fred, damals schon ein Ausnahmetalent in seinem Fach, war kurz zuvor aus der Hannoveraner Rechtsmedizin nach Berlin gekommen, zu der rechtsmedizinischen Spezialeinheit »Extremdelikte« des BKA, die Professor Paul Herzfeld seinerzeit auf Betreiben des damaligen Bundesinnenministers neu gegründet hatte. Sie beide lachten auf dem Foto über beide Ohren. Das Bild war in Barcelona entstanden, während ihres ersten gemeinsamen Urlaubs. Zum ersten Mal als Paar. Seitdem war viel passiert. Sehr viel. Viele gute Dinge. Aber sie hatten auch mehr als einmal erfahren, wie gefährlich ihre Berufe werden konnten. Trotzdem hatten sie immer zusammengehalten, nichts hatte zwischen sie kommen können. Weder berufliche Rückschläge noch persönliche Schicksalsschläge. Und gerade von letzteren hatte es viele gegeben. Freds Beziehung zu seiner Schwester Marlene war während der langen, schweren Erkrankung seiner Mutter, um die sich seine Schwester fast rund um die Uhr gekümmert hatte, fast völlig zerrüttet. Marlene hatte ihn mit Vorwürfen überhäuft, er würde nicht genug für seine Mutter tun. Dann war Freds Mutter vor vier Jahren gestorben. Er selbst war Opfer einer heimtückischen Attacke geworden, bei der er ein schweres Schädel-Hirn-Trauma erlitten hatte, was ihn fast das Leben gekostet hatte. Ein halbes Jahr hatte er sich in der Reha wieder zurück ins Leben gekämpft. Und seine damals sechzehnjährigen Zwillinge Manon und Noah – von einer Frau, die er nur drei Tage gekannt und mit der er eine flüchtige Affäre in Paris gehabt hatte – waren von Menschenhändlern entführt worden und dabei fast ums Leben gekommen. Fred hatte viele Bürden zu tragen. Und sie mit ihm. Auch der bisher unerfüllte Kinderwunsch war eine davon gewesen. Auch wenn es darüber niemals zu Spannungen oder Vorwürfen zwischen ihnen gekommen war, stand dieser unerfüllte Wunsch bisher immer unsichtbar zwischen ihnen. Doch jetzt nicht mehr.
In den letzten Monaten hatte Lisa oft das Bild in dem Silberrahmen betrachtet und mehrfach gedacht, dass sich vielleicht mehr Böses als Gutes in ihrer beider gemeinsamem Leben ereignet hatte. Mehr als einmal hätte Freds berufliche Neugier, seine fast schon nervige Beharrlichkeit und die ihm eigene unheilvolle Begabung, den falschen Leuten zum falschen Zeitpunkt viel zu nahe zu kommen und auf die Füße zu treten, ihn fast das Leben gekostet. Doch Fred Abel war nun mal, wie er war. Lisa wusste ihn zu nehmen, und so liebte sie ihn auch. Daran gab es nichts zu rütteln.
Wir sind nicht mehr allein.
Diese Worte gewannen jetzt die Oberhand über ihre Gedanken.
Neben dem Foto von damals lag ihr Handy. Die Lilien verströmten einen intensiven Geruch. Lisa ertappte sich dabei, wie sie nach ihrem Handy griff, sich einen der weißen Designerstühle an dem großen Esstisch zurechtrückte und sich setzte.
Ich will nur seine Stimme hören, ich werde es ihm nicht sagen, auch wenn ich es fast nicht mehr aushalte. Wahrscheinlich steckt er wieder einmal bis zu den Ellbogen in einem Opfer unserer gnadenlosen Hauptstadt und kann den Anruf nicht entgegennehmen.
Wir sind nicht mehr allein.
Sie spürte ihre Aufregung. Die Schläge ihres Pulses hatten sich bis kurz unter das Kinn nach oben gearbeitet. Dann drückte sie die Wahltaste.
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