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Berlin,
Treptowers, BKA-Einheit »Extremdelikte«, Sektionssaal,
Montag, 28. Juli, 15:03 Uhr
S cherz hatte erneut Schwierigkeiten mit dem digitalen Aufnahmegerät. Die Welt schien heute gegen ihn zu sein, was der Schlupfkasack, der zwei oder drei Konfektionsgrößen zu klein für ihn war, noch zu unterstreichen schien.
»Herr Kollege, könnten Sie bitte einmal …«, sagte er gereizt und hielt seinem Mitobduzenten das Gerät hin. Mit den neuen Modellen, die erst vor ein paar Tagen in ihrer Abteilung in Betrieb genommen worden waren, hatte sich Scherz wahrlich noch nicht anfreunden können.
Er kratzte sich genervt an seinem dünnen, grauen Fusselbart. »Mir wäre es lieber, wir hätten noch die alten Kassettengeräte. Kleine Kassetten im Diktafon. Wie die letzten vier Jahrzehnte«, sinnierte Scherz und wartete, bis Abel ihm das Aufnahmegerät startbereit in die Hand drückte.
»Aufnahme läuft«, sagte Abel knapp und stellte sich neben Scherz.
Zwei Bestatter in knittrigen schwarzen Anzügen hatten den Toten vor einer halben Stunde an der Leichenaufnahme der Treptowers angeliefert. Sektionsassistent Hermann Vogel, ein Routinier von neunundfünfzig Jahren und mit entsprechend viel Erfahrung im Sektionssaal, hatte den Toten auf einen der vier Stahltische im Sektionssaal gelegt. Der aufgeschnittene Sandsack, den die Bestatter in einer Transportwanne zusammen mit dem Leichnam gebracht hatten, war mit Blut und anderen Körperflüssigkeiten verschmiert. Vogel hatte ihn auf einer Bahre neben dem Sektionstisch mit dem Toten platziert.
Nachdem Herzfeld kurz seinen Kopf in den Sektionssaal gesteckt und sie informiert hatte, dass von der Staatsanwaltschaft mittlerweile grünes Licht für die Sofortobduktion vorlag und eine Beamtin der Mordkommission später dazukommen würde, um die Obduktionsergebnisse zu besprechen, begann nun die Untersuchung des Toten aus dem Sandsack.
Als diensthabender Rechtsmediziner an diesem Tag leitete Scherz die Obduktion, Abel war sein gesetzlich vorgeschriebener zweiter Obduzent. Scherz nickte dem Sektionsassistenten Hermann Vogel kurz zu, was für diesen das Startsignal war.
Vogel spülte die Körperoberfläche des noch nicht identifizierten Toten mit der am Sektionstisch montierten Handbrause ab und entfernte mit einem Schwamm alle Blutkrusten, sodass beide Obduzenten mit der äußeren Leichenschau beginnen konnten. Der Sektionsassistent drehte den Toten jetzt auf dessen linke Seite, indem er sich neben den Sektionstisch stellte und mit seiner rechten Hand den rechten Arm des auf dem Rücken liegenden Toten und mit seiner linken Hand die rechte Wade ergriff. So konnten sie sich, auf der anderen Seite des Sektionstisches stehend, unter guten Lichtverhältnissen und ohne Blutverschmierungen am Körper des Mannes – beides Faktoren, die die Beurteilbarkeit von Verletzungen bei der Leichenschau am Fundort nur zu oft stark einschränkten – ein Bild von den Verletzungen machen. Sowohl an der Körperrückseite, über den gesamten Rücken, den Nacken, die Schulterpartien, das Gesäß und die Flanken verteilt, als auch an den Armen und Beinen zeigten sich zahlreiche längliche Hautunterblutungen, die ein spezifisches Muster, sogenannte Doppelstriemen, zeigten. Diese Hämatome bestanden im Randbereich aus länglichen, streifigen Hautunterblutungen, die absolut parallel zueinander verliefen und zentral, zwischen den Blutungen, eine abgeblasste Zone aufwiesen. Dabei handelte es sich um sogenannte geformte Verletzungen, die dem Rechtsmediziner aufgrund ihrer Morphologie – nämlich Umriss, Aussparung innerhalb der Verletzung, Abstände der Strukturen zueinander und Größe – Rückschlüsse auf die verwendete Tatwaffe ermöglichten.
Bei der inneren Leichenschau, der Untersuchung aller inneren Organe nach ihrer Entnahme aus Kopf-, Brust- und Bauchhöhle sowie des Skelettsystems und der Muskulatur des Toten, zeigten sich neben Zerreißungen von Leber, Nieren, Milz und einem Abriss des Dünndarms von seiner aus Weichgewebe bestehenden Befestigung im Bauchraum Frakturen aller Extremitätenknochen, abgesehen vom linken Wadenbein und rechten Oberschenkelknochen. Der Schultergürtel des Mannes war regelrecht gesprengt und das linke Schlüsselbein offen frakturiert. Die schweren Gesichtsverletzungen hatten zu Frakturen des Ober- und Unterkiefers und der Mittelgesichtsknochen geführt, wobei letztere erst zur Darstellung kamen, nachdem Sektionsassistent Vogel zunächst die Kopfschwarte durch einen Ohr zu Ohr verlaufenden Schnitt gelöst und sie einschließlich des darunterliegenden Weichgewebes wie eine Badekappe bis unter die Kinnspitze heruntergezogen hatte und dann die Gesichtsknochen, von der Stirn beginnend, freipräpariert hatte, indem er die gesamte Haut des Gesichts mitsamt Unterhautgewebe wie eine Maske mit dem Sektionsmesser von den Knochen abschälte.
Ein ungewöhnlicher und für die abschließende Würdigung der Gesamtumstände durch die Obduzenten wichtiger Punkt war der Befund mehrerer Nadeleinstichstellen in der Haut der Außenseite des rechten Oberschenkels. Hier zeigten sich den Obduzenten unter der Lupe vier etwa stecknadelgroße Einstiche, die im Randbereich leicht gerötet und in dem darunterliegenden Unterhautgewebe diskret rötlich eingeblutet waren. Allerdings handelte es sich bei diesen Nadeleinstichstellen nicht um die üblicherweise bei Obduktionen zu beobachtenden Einstiche, die von intravenösem Drogenkonsum oder notärztlich gesetzten Injektionen herrührten, sondern diese Nadeleinstichstellen waren eine Folge davon, dass der Mann lebendig in den Sandsack eingenäht worden war. Dies ergab der Vergleich zweier kleinster Fadenreste, die Abel aus dem Wundgrund von zwei dieser Einstichstellen freipräparieren konnte, mit dem Nahtmaterial aus der provisorisch geschlossenen Naht des Boxsacks, die Mazur mit dem Teppichmesser aufgeschnitten hatte.
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Knapp zwei Stunden später waren alle Befunde dokumentiert, die Scherz – zunächst noch mit einiger Mühe und mehreren Anläufen, dann allerdings zunehmend reibungslos – in das digitale Diktiergerät gesprochen hatte, und die Obduktion war damit beendet.
Der Oberarzt fasste für sich und Abel noch einmal alle Befunde zusammen. Dies war, wie auch schon im Vorfeld jeder Obduktion, eine weitere Möglichkeit, dass sich beide Obduzenten ihre jeweiligen Beobachtungen und eigenen Interpretationen wie Bälle hin und her spielen konnten. »Die Kopfverletzungen sind massiv, allerdings keine Schädelinnenraumblutung. Insofern würde ich hier nicht das Schädel-Hirn-Trauma, sondern das Polytrauma insgesamt als todesursächlich in den Vordergrund stellen. Es gibt nur wenige Knochen an seinem Oberkörper, die nicht gebrochen sind. Die Wirbelkörperfrakturen haben mit Sicherheit auch zu Rückenmarksverletzungen geführt, aber das schaue ich mir später noch unter dem Mikroskop an. Die Rippenfrakturen und die Brüche der langen Röhrenknochen haben zu einer Fettembolie geführt, und die Leberzertrümmerung, die ich in dieser Form bisher nur bei Lkw-Überrollungen oder Stürzen aus dem zehnten Stockwerk oder höher gesehen habe, war für sich genommen auch tödlich.«
Abel pflichtete dem Oberarzt bei: »Das sehe ich genauso. Es wäre Erbsenzählerei, hier eine einzelne Verletzung in der Hierarchie der Todesursachen in den Vordergrund zu stellen. Am Ende war es die Kombination aus vielen einzelnen, für sich allein genommen schon letalen Verletzungen.«
»Apropos Verletzungen«, übernahm Scherz wieder das Wort. »Was die geformten Verletzungen anbelangt – das verwendete Schlagwerkzeug war etwas Längliches, sehr Stabiles. Ihr Freund, der Dunkelhäutige, lag heute Vormittag vor Ort mit seiner ersten Einschätzung richtig, als er auf Eisenstangen oder Baseballschläger tippte.«
Abel nickte, ohne dem etwas hinzuzufügen.
»Was ihn nicht unbedingt unverdächtig macht, wenn Sie mir die Anmerkung erlauben, Kollege Abel«, schob Scherz nach.
Abel ging darauf nicht weiter ein, sondern kam auf die Obduktionsbefunde zurück. »Interessanterweise haben wir an Brust und Bauch keine von dem oder den Schlagwerkzeugen herrührenden Doppelstriemen festgestellt – was die Beobachtung der Zeugen bestätigt, dass er wie ein Fötus zusammengekrümmt in dem Sack hing. In dieser Position waren Bauch und Brust durch seine Oberschenkel geschützt vor den Schlägen.«
»Ja, ich bin ganz Ihrer Meinung«, pflichtete Scherz ihm bei. »Herzblut, Venenblut und das bisschen, was noch von seinen Nieren übrig ist, schicken wir hoch zu Fuchs ins Labor. Nach erster Einschätzung der Kripo geht es ja wohl um Drogen, was der Fund in der Sporttasche vermuten lässt. Soll Fuchs prüfen, ob unser bisher nicht identifiziertes Opfer selbst Drogenkonsument war, was – wenn er es bestätigt – für die Kollegen des LKA 1 vielleicht ein erfolgversprechender Ermittlungsansatz wäre.«
Mit diesen Worten nickte Scherz dem Sektionsassistenten Hermann Vogel zu. Es war das Signal, dass er und Abel ihre Arbeit im Saal beendet hatten und der Sektionsassistent sich nun um die Asservate und die weitere »Versorgung« der Leiche kümmern konnte – das Zurückverbringen der präparierten Organe in den ausgeweideten Körper, das sorgfältige Zunähen, die Reinigung des Toten und das Verbringen in die Kühlung.
»Kollege Abel«, sagte Scherz, der jetzt plötzlich sichtlich erschöpft schien. »Ich muss sagen, dass mir in den knapp vier Jahrzehnten, die ich diese Arbeit mache, nicht oft ein so brutaler Mord untergekommen ist. Einnähen eines lebenden Menschen in einen Boxsack, in dem er totgeprügelt wird …« Scherz atmete hörbar aus, ehe er weitersprach. »Mein lieber Mann, das ist eine neue ›Qualität‹ von Gewalt, wie wir sie bei den ›Extremdelikten‹ nur selten sehen. Eine Beziehungstat würde ich hier mal per se ausschließen, es sei denn, unser Opfer ist der Tochter von Francis Ford Coppolas Paten zu nahe gekommen. Aber jetzt höre ich mich fast schon an wie Kollege Murau. O Gott, sein ständiges Geschwafel scheint mittlerweile auf mich abzufärben.«
Abel, der sich ein Grinsen verkneifen musste, fragte: »Sie meinen, die Organisierte Kriminalität steckt dahinter?« Allerdings hatte er ähnliche Überlegungen auch schon während der Obduktion angestellt.
»Absolut«, erwiderte der Ältere. »Vielleicht Bulgaren. Die sind mittlerweile laut Kriminalstatistik in Berlin ganz vorn mit dabei, oder gute deutsche Rocker. Die darf man auch nicht unterschätzen. Passt zum Rotlichtmilieu.«
»Sie sollen sich doch nicht meinen Kopf zerbrechen und mir die Arbeit wegnehmen, Herr Dr. Scherz!«, schallte plötzlich eine strenge Frauenstimme durch den Sektionssaal. Die Köpfe der beiden Rechtsmediziner fuhren wie auf ein Kommando herum. In der Eingangstür war eine kleine, zierliche Frau aufgetaucht. Sie trug ein gelbes Sommerkleid, bedruckt mit großen blauen Hibiskusblüten.
Abel war zwar schon mehrfach auf Bettina Brehmer vom LKA 1 getroffen, aber er hätte sie in ihrer leichten Sommergarderobe beinahe nicht erkannt. In Abels Erinnerung trug sie eine Winterjacke, Winterstiefel und eine grobe Strickmütze. Gemeinsam hatten sie vor anderthalb Jahren das Haus eines Serienvergewaltigers inspiziert, der die Frau, die er entführt, missbraucht und nach zwei Tagen Martyrium schließlich getötet hatte, in eine Badewanne mit Eiswürfeln gelegt hatte. In der Hoffnung, so die Verwesung aufzuhalten, um sein »Schätzchen«, wie er sein zweiundzwanzigjähriges Opfer bei seiner Vernehmung zynisch genannt hatte, »möglichst lange« bei sich zu behalten und »immer wieder benutzen« zu können. Zusätzlich hatte der Täter im eiskalten Januar die Heizung im ganzen Haus abgestellt, um die Leichenfäulnis noch zusätzlich auf ein Minimum zu reduzieren, da er gar nicht so viel Eiswürfel neu produzieren konnte, wie er sie für die Konservierung der toten jungen Frau benötigte.
Bei der Begehung des Tatorts herrschten in dem Wohnhaus des Täters Minusgrade, und Abel erinnerte sich noch gut daran, dass er sich damals mehrfach selbst verflucht hatte, nicht wie Oberkommissarin Brehmer auf die winterlichen Temperaturen gut vorbereitet in warmer Kleidung erschienen zu sein, da sich die Untersuchung des Hauses über fast zwölf Stunden hingezogen hatte.
Abel hatte Brehmers nüchternen Pragmatismus bei den damaligen Ermittlungen schätzen gelernt und wusste, dass die Kollegin vom LKA sich im Nachgang der Untersuchungen Herzfeld gegenüber lobend über seine rechtsmedizinische Rekonstruktion der Tatumstände geäußert hatte.
»Und hier haben wir Instinkt und Intuition in einer Person. Guten Tag, Herr Dr. Abel. Ist ja schon eine Weile her«, begrüßte ihn Bettina Brehmer, die mittlerweile bei den drei Männern am Sektionstisch angekommen war.
Abel lächelte Brehmer zu, und die Oberkommissarin bedachte Sektionsassistent Vogel zur Begrüßung mit einem kurzen Nicken.
»Wenn Sie schon ohne mich obduzieren, dann will ich doch wenigstens wissen, was dem Herrn hier Ihrer Meinung nach widerfahren ist«, sagte die gerade mal einen Meter fünfzig große Frau. Sie hatte, obwohl sie sehr wahrscheinlich auf die sechzig zuging, ihre mittelblonden, mit ziemlicher Sicherheit gefärbten Haare zu einem frechen Pferdeschwanz zusammengebunden, was ihre übergroßen Kreolen-Ohrringe noch mehr zur Geltung brachte.
Scherz deutete auf das entstellte Gesicht des Toten auf dem Sektionstisch. Einäugig, zahnlos, zerstört. Dann gab er der Ermittlerin eine knappe Zusammenfassung von den wesentlichen rechtsmedizinischen Erkenntnissen, an deren Ende Brehmer tief einatmete und anschließend mit aufgeblähten Wangen die Luft wieder hinauspresste.
»Tja, da hat der liebe Moritz wohl Probleme mit den falschen Leuten gehabt«, kommentierte sie trocken.
»Ist das sein Name – Moritz?«, schaltete sich Abel ein.
Bettina Brehmer nickte, und die goldenen Kreolen schaukelten bis an ihr Kinn.
»Ja. Die endgültige Bestätigung der Daktyloskopie steht zwar noch aus, aber ich denke, wir können davon ausgehen, dass er es ist. Moritz Lübben. Vierundvierzig Jahre alt geworden. Die Aufnahme des Fackel-Tattoos an seinem Unterarm, die unser Fotograf noch am Fundort geschossen hat, passt nach unseren ersten Erkenntnissen zu ihm. In seinem Schrank in dem Kickboxstudio befand sich nicht nur eine beträchtliche Menge Kokain und Heroin sowie Amphetamine für den Straßenverkauf, sondern auch eine Bauchtasche mit seinen Papieren und anderen persönlichen Dokumenten.«
Scherz streifte sich seine gelben Sektionshandschuhe ab, wobei er das elastische Plastik wie ein Gummiband spannte und sie hintereinander gekonnt in einen Abfallbehälter schnellen ließ.
»Also, wenn der Tote aus dem Sandsack Moritz Lübben ist«, fuhr Brehmer fort, »und wenn dem so ist, dass er in einem Sandsack starb, ist das beinahe eine Boshaftigkeit des Lebens. Er ist der Sohn von Hermann Lübben.« Sie machte eine Pause, anscheinend in der Hoffnung, dass Abel oder Scherz mit dem Namen etwas anfangen konnten. Doch deren fragende Gesichter legten Zeugnis vom Gegenteil ab.
»Na gut, auch Sie können nicht alles wissen. Hermann Lübben war eine schillernde Figur des Boxsports in den Achtzigerjahren, als noch Zuhälter mit goldenen Uhren in der ersten Reihe am Ring saßen. Lübben war Boxpromoter, eine echte Westberliner Type. Er kam zu Geld, zu Ansehen. Wenn er ein Lokal am Ku’damm betrat, wurde immer der beste Tisch für ihn frei gemacht.«
»Rotlicht inklusive, nehme ich an?«, fragte Scherz, der sich jetzt seine Hände an einem der Handwaschbecken im Sektionssaal wusch, sehr wahrscheinlich in der Hoffnung, dass sich seine Rotlichtmilieu-Theorie bestätigen würde.
»Falsch, Sie klischeebehafteter Mensch«, rüffelte Brehmer ihn mit erhobenem Zeigefinger, den Scherz aber nur beiläufig zur Kenntnis nahm.
»Lübben wurde zu einem wahren Schutzengel für Kinder aus armen Familien. Er richtete eigene Betreuungen für sie ein. Genauer für Kinder aus …« – sie machte eine kurze Pause und schien sich ihre Wortwahl genau zu überlegen – »ich sage mal, für Kinder aus schwierigen Familien. In verschiedenen damaligen Westberliner Problemkiezen. Der Wedding war einer davon. Er holte so die Kinder von der Straße. Nach der Schule konnten sie in die von Lübben organisierte Betreuung gehen. Sogar von ihm bezahlte Nachhilfelehrer waren dort zeitweise anwesend. Und wer diese Nachmittagsbetreuung besuchte, erhielt Gratisunterricht in seiner Boxschule. Ich denke, durch Berlin laufen Hunderte erwachsene Menschen, die Hermann Lübben nicht nur einen vernünftigen Start ins Leben zu verdanken haben, sondern auch, dass sie nicht auf die schiefe Bahn geraten sind.«
Scherz, der sich gerade die Hände mit einem Papierhandtuch abtrocknete, pfiff zwar anerkennend durch die Zähne, konnte sich aber anscheinend nicht verkneifen anzumerken: »Aber sein eigener Sohn scheint auf die schiefe Bahn geraten zu sein, wenn der Anschein nicht trügt, dass er ein so gut sortiertes Drogendepot sein Eigen nennen durfte.«
»Ja, zumindest sieht es zurzeit danach aus. Zwei Kollegen meiner Mordbereitschaft sind gerade unterwegs zu Hermann Lübben und werden ihn über den Tod seines Sohnes informieren. Und wir hoffen, bei der Gelegenheit gleich etwas mehr über seinen Spross zu erfahren. Wo wir einhaken können, noch ehe die KT alle Faserspuren, Fingerabdrücke und DNA-Spuren ausgewertet hat. Das wird sehr wahrscheinlich Wochen dauern, weil in dem Kickboxstudio tagtäglich Dutzende Menschen ein und aus gegangen sind. Die müssen wir alle feststellen, ausfindig machen und um eine freiwillige Speichelprobe und Fingerabdrücke bitten. Allein das wird Wochen dauern und viele Kräfte bei uns und bei der KT binden. Und erst dann können wir die Ergebnisse mit den Spuren am Tatort abgleichen. Denn nach dem, was Sie mir eben zu dem aus rechtsmedizinischer Sicht anscheinend unzweifelhaften Befund berichtet haben, dass Lübben junior noch zu Lebzeiten in den Sandsack eingenäht wurde, handelt es sich beim Leichenfundort auch um den Tatort, das steht damit dann wohl ziemlich sicher fest«, sagte die Oberkommissarin.
»Bisher keine weiteren Zeugen? Irgendwelche Kameras auf der Straße vor dem Studio oder in der näheren Umgebung?«, wollte Abel wissen.
»Negativ. Aber wir sind dran«, erwiderte Brehmer mit sorgenvoller Miene. »Warten wir die Befragung von Lübben senior ab. Ich befürchte allerdings, es wird nicht lange dauern, bis die Hauptstadtpresse herausfindet, wen Sie heute auf dem Tisch liegen hatten. Und dann werden die wildesten Gerüchte und Spekulationen ins Kraut schießen. Ich hoffe, dass wir nicht Zeugen eines knackigen Prologs geworden sind. Ich habe keine Lust, dass wir in der Stadt bald noch mehr totgeprügelte Kerle in Sandsäcken finden.«
Das ist wohl nicht ausgeschlossen, dachte Abel, dem genau dieser Gedanke beim Verlassen der »Drachenhöhle« auch gekommen war.
Dann herrschte für kurze Zeit Schweigen im Sektionssaal. Scherz sortierte mittlerweile Aktenblätter und schien sich innerlich bereits von der Oberkommissarin verabschiedet zu haben. Aus seiner Richtung war lediglich ein unartikuliertes Brummeln zu vernehmen.
Bettina Brehmer wandte sich zum Gehen, hielt dann aber noch einmal inne und sagte mit gesenkter Stimme zu Abel: »Meine Kollegin berichtete mir, dass einer der beiden Herren, die die Leiche gefunden haben, ein Bekannter von Ihnen ist?« Sie versuchte offensichtlich, ihre Bemerkung eher beiläufig klingen zu lassen.
Abel zuckte kurz innerlich zusammen, obwohl er nichts zu verbergen hatte.
»Er ist sogar ein guter Freund. Lars Moewig ist als Privatermittler hier in Berlin tätig. Er hat mir schon das eine oder andere Mal privat sehr geholfen.«
Brehmer lächelte. »Ein Detektiv, der im Wedding zum Kickboxtraining geht und über die schlimmste Leiche des Sommers stolpert. Herr Abel, also wirklich, Sie haben Freunde – das ist stark«, sagte sie lächelnd und verließ den Sektionssaal.
Abels Blick fiel ein letztes Mal auf das entstellte, einäugige Gesicht von Moritz Lübben, das in diesem Moment hinter dem Reißverschluss des weißen Leichensacks verschwand, den Sektionsassistent Hermann Vogel mit einer kraftvollen, surrenden Bewegung zuzog.
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