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Berlin-Grünau,
Wohnhaus von Dr. Fred Abel und Lisa Suttner, Arbeitszimmer,
Montag, 28. Juli, 19:21 Uhr
V or den leicht geöffneten Fenstern des Arbeitszimmers wiegten sich die trockenen Äste der Kiefern im Wind. Es schien, als würde an diesem Abend noch ein Sommergewitter aufziehen. Abel vernahm das Rauschen der Bäume, das sich, wenn er die Augen schloss und sich auf den Gedanken einließ, anhörte, als würden irgendwo weit entfernt Wellen sacht an einen Strand branden.
Abel hatte sich, nachdem er nach Hause gekommen war und geduscht hatte, ein schwarzes T-Shirt und dunkelblaue Shorts angezogen und saß jetzt in dem alten Ledersessel seines Vaters, sein Laptop vor sich auf den Knien. Der Fluch dieses Hauses war, dass sich die Hitze den ganzen Tag über darin staute und erst abends wieder etwas nachließ. Mit dem aufkommenden Wind wurde es nun endlich etwas kühler, bis er die Fenster wieder schließen musste, da mit Einbruch der Abenddämmerung auch ganze Mückenarmeen von der Dahme her ausschwärmten, auf der Suche nach ein paar köstlichen Blutstropfen.
»Papa, das ist wirklich toll. Wir hoffen, Lisa freut sich auch, wenn wir uns dann endlich wiedersehen«, sagte die junge Frauenstimme aus dem Laptop.
Abel hatte die Gardinen vor beiden Fenstern zugezogen, um Sonnenlichtreflexionen auf dem Bildschirm zu vermeiden. Nun lächelte er in die kleine Kameralinse.
»Na klar, Lisa freut sich bestimmt. Und jetzt lass uns für heute Schluss machen, ich habe einen Fall, zu dem ich mir noch einmal alle Unterlagen ansehen will«, sagte er und tippte dabei mit dem Finger auf den Unterlagenstapel, den Renate Hübner ihm zusammengestellt hatte – sein Gutachten zum Fall Siara Zhou und die dazugehörigen Krankenunterlagen, die bisher vorliegenden Ermittlungsergebnisse und das Vernehmungsprotokoll der Mutter.
Abels Tochter Manon zog einen Schmollmund und sah dabei noch hübscher aus, als sie ohnehin war. Sie kam eindeutig nach ihrer Mutter.
Manon und ihr Zwillingsbruder Noah lebten bei ihrer Mutter Claire auf Guadeloupe. Dass er ihr Vater war und die beiden das Ergebnis einer ebenso leidenschaftlichen wie kurzen Affäre vor neunzehn Jahren, hatte Abel erst vor einigen Jahren erfahren.
»Also gut, Dad«, sagte Noah, der jetzt neben seiner Schwester auf dem Bildschirm auftauchte, mit tiefer Stimme und einem breiten Lächeln. »Dann tu, was du nicht lassen kannst. Wir gehen gleich runter an den Strand, hier ist es ja erst Mittag.«
Abel lächelte zurück. »Macht’s gut.« Er klappte den Laptop zu, und das helle Bildschirmlicht verschwand von seinem Gesicht. Fast in derselben Sekunde öffnete Lisa die Tür und trat ins Arbeitszimmer.
»Na, wie geht es den beiden?«, fragte sie neugierig.
Abel bemerkte, dass sich seine langjährige Partnerin noch nicht, wie sonst um diese Zeit üblich, abgeschminkt hatte. Sie trug ein legeres, beigefarbenes T-Shirt und eine kurze Jeans. Von hinten trat sie an den Ledersessel heran und umarmte Abel.
»Wie läuft es in der Schule bei ihnen? War Claire auch da?«, fragte sie weiter.
Ohne eifersüchtig auf sein vorheriges Leben zu sein, war Lisa immer interessiert daran zu wissen, was dieser relativ neue Teil von Abels Familie in der Karibik so trieb.
»In der Schule ist wohl alles in Ordnung. Und sie wollen immer noch zum Studieren nach Berlin kommen«, antwortete Abel. »Claire war nicht zu Hause, aber sie lässt uns beide grüßen, sagen die Kinder.«
»Wenn sie sich für ein Studium entschieden haben und ihre Wahl auf Medizin fällt – hoffentlich wollen sie am Ende nicht auch noch Rechtsmediziner werden«, sagte Lisa mit einem ironischen Unterton und wartete auf Abels Reaktion, die auch prompt kam.
»Was ist denn schlecht an einem Beruf, in dem man die Überstunden kaum zählen kann? In dem man kein Überstundenfrei nehmen kann, weil jeden Tag neue Fälle dazukommen, die man nicht liegen lassen kann, weil sie eine zeitnahe Bearbeitung erfordern?«, widersprach er mit gespielter Entrüstung.
Lisa lächelte.
»Schon okay, es sind ja auch ganz nette Typen unter euch Aufschneidern dabei«, beschwichtigte sie und drückte Abel einen Kuss auf die Wange.
Doch er war für ein solches Signal der Zuneigung am heutigen Abend nicht besonders empfänglich, entzog sich ihr und sagte: »Apropos Überstunden: Ich muss mich jetzt noch einmal mit dieser Sache hier beschäftigen.«
Lisa schielte auf den Aktendeckel.
Verdacht auf versuchten Totschlag in Tateinheit mit der Misshandlung Schutzbefohlener zum Nachteil Siara Zhou
»Ich habe heute Nachmittag einen Anruf vom Familiengericht bekommen, dass die Anhörung, das Sorgerecht für Sina und Siara betreffend, noch für diese Woche terminiert wird, wahrscheinlich sogar schon für übermorgen. Und …«
»Hast du endlich mit Sabine gesprochen?«, unterbrach Lisa ihn.
»Nein.« Abel schüttelte den Kopf.
Lisa strich ihm zärtlich über die Schulter. »Ich weiß, es ist eine vertrackte Situation. Für euch beide. Ihr wart bisher immer ein Top-team. Aber genau deswegen musst du mit ihr sprechen. Am besten gleich morgen früh. Unbedingt noch vor der Anhörung im Familiengericht. Aber …«, fuhr sie fort und blickte Abel verheißungsvoll an. »Vielleicht kann diese Akte ja doch noch etwas warten? Vielleicht solltest du dich vorher lieber mit der Akte Lisa Suttner beschäftigen. Ich könnte uns Trüffelpasta machen, ich habe alles besorgt.«
Doch ehe Lisa ihre Vorstellung von der Gestaltung des gemeinsamen Abends weiter ausführen konnte, schüttelte er energisch den Kopf.
»Nein, Lisa. Heute leider nicht. Ich habe vorhin in der Abteilung schon eine Kleinigkeit gegessen. Ich muss die Unterlagen unbedingt noch einmal durchgehen. Die Kopfverletzungen des Mädchens, darum wird es in der Anhörung vor dem Familiengericht gehen. Die Wucht der Ausführung und vor allem diese kleine Stelle hinter ihrem Ohr. Hier …« Abel legte den Zeigefinger und Mittelfinger seiner rechten Hand in seine Nackenregion, dicht hinter das rechte Ohr, unmittelbar im Übergangsbereich von unbehaarter zu behaarter Kopfhaut – die Stelle, von der er mittlerweile sicher war, dass von dort die Fraktur der Schädelbasis ihren Ausgang genommen hatte. Dort, wo das zweite Trauma, ein Schlag oder Tritt, die Nichte von Sabine Yao getroffen hatte.
Lisas liebevoller Gesichtsausdruck wich Erstaunen, und in ihren immer noch sanften Tonfall mischte sich jetzt Ernsthaftigkeit. »Komm, bitte! Keine Pasta, das ist okay, aber reden. Nur eine halbe Stunde.«
Doch Abel war bereits völlig in seine eigene Welt eingetaucht, der Begutachtung der Verletzungen von Siara Zhou. Er sagte, so als ob er Lisas Worte gar nicht gehört hätte: »In Siaras Fall handelt es sich bei der Schädeldachfraktur und der Fraktur der Schädelbasis um zwei getrennte Bruchsysteme, die zeitlich hintereinander entstanden sind. Sie hat zwei massive Schädel-Hirn-Traumata unmittelbar hintereinander erlitten. Das war definitiv kein Sturzgeschehen bei kindlichem Spielen oder Rumklettern auf Möbeln. Kurz nachdem sie auf dem Boden aufschlug – sehr wahrscheinlich war das der Moment, als ihr Schädeldach brach –, erlitt sie einen heftigen Schlag, vielleicht mit der Faust, oder einen Tritt. Gegen ihre rechte Nackenregion …«
Lisa zog die Hand von Abels Schulter, als hätte sein Körper unsichtbare Stacheln ausgefahren. »Heute Morgen habe ich vergeblich versucht, dich zu erreichen, ich wollte mit dir sprechen, einfach nur deine Stimme …«, unternahm sie ein letztes Mal den Versuch, Abel aus den Tiefen seiner fachlichen Gedanken an die Oberfläche, in die Gegenwart zu ziehen. Doch es gelang ihr nicht.
Wie in Trance blätterte Abel in den Unterlagen. »Lass uns bitte morgen Abend reden, Lisa«, sagte er leise.
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Dass Lisa das Arbeitszimmer verlassen hatte, hatte Abel überhaupt nicht bemerkt, zu versunken war er bereits in seine Überlegungen gewesen: zu den Verläufen der Frakturlinien an Siaras Schädel, zu den Diskrepanzen zwischen der Schilderung der Mutter und den objektiven Befunden, insbesondere zu den radiologischen.
Ihm war auch nicht klar, wie viel Zeit inzwischen vergangen war, als sein Blackberry auf der Tischplatte mit einem tiefen Brummton vibrierte und er feststellte, dass es bereits fast 22 Uhr war. Aber Abel war nicht verwundert, als er sah, wer ihn so spät noch anrief.
»Hast du Frau Friedrich vom LKA mittlerweile verdaut?«, fragte er zur Begrüßung, konnte sich allerdings nur schwer von den Unterlagen vor ihm lösen.
Moewig lachte am anderen Ende der Leitung bitter auf. »Reizende Person, aber ich konnte ihr wirklich nicht behilflich sein. Ich glaube auch nicht, dass Karol etwas damit zu tun hat. Er hätte niemals die Kulisse für so eine Tat zur Verfügung gestellt. So, wie ich ihn kennengelernt habe, ist er froh, wenn er seine Ruhe hat und sein Studio läuft. Hast du den Toten schon auf dem Tisch gehabt?«
»Ja, hab ich. Es war genau das, wonach es aussah: Moritz Lübben wurde lebendig in diesen Sandsack eingenäht und darin mit etwas Knüppelähnlichem totgeprügelt. Mit deiner Vermutung, dass eine Eisenstange oder ein Baseballschläger verwendet wurde, dürftest du richtig- oder zumindest sehr nah dran liegen.«
Am anderen Ende der Leitung herrschte zunächst Schweigen. Dann fragte Moewig: »Moritz Lübben? Lübben sagst du?«
»Ja. Moritz Lübben, Sohn eines ehemaligen Boxpromoters. Sein Vater war im Westberlin der Achtzigerjahre wohl sehr umtriebig und engagiert, was sozial benachteiligte Kinder anging, und diese Boxkinder bekamen außer …«
»Ich weiß, wer Lübben ist. Hermann Lübben. Der Patron«, unterbrach ihn Moewig mitten im Satz. »Ach du Scheiße, der Sohn von Hermann Lübben wurde totgeschlagen!«
»Du kennst ihn?«, hakte Abel nach.
Moewig antwortete nicht sofort.
In der Ferne hörte Abel das erste Grollen des Sommergewitters, das von der Dahme her aufzog.
»Hermann Lübben«, meldete sich Moewig jetzt wieder am anderen Ende der Leitung zu Wort, »hat mir das Leben gerettet. Ich war eines seiner Boxkinder
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