70
Berlin-Reinickendorf,
Weiße Stadt, Brückenhaus, Wohnung von Sara Wittstock,
Samstag, 2. August, 02:15 Uhr
D ie beiden Perserkatzen schliefen nie zur selben Zeit. Eines der Tiere war immer wach und patrouillierte durch die Wohnung.
Sara Wittstock saß vor ihrer Monitorwand, zwei Laptops vor sich auf der Schreibtischplatte, die sie gerade zuklappte. Sie hatte sich, nachdem sie Sabine Yao auf dem Parkplatz der Treptowers abgesetzt hatte, mit dem digitalen Sicherheitskonzept von Europol beschäftigt – ein Freundschaftsdienst für einen alten Bekannten in der Europol-Zentrale in Den Haag, der offenbar wenig Zutrauen in das Können seiner eigenen Leute hatte.
Richtig müde war sie trotz der fortgeschrittenen Uhrzeit noch nicht, aber ihr Tages- und Nachtrhythmus korrelierte sowieso schon seit Jahren nicht mehr mit der Außenwelt.
Das leichte elektronische Surren der Serverlüftungen drang aus dem Flur herein und lullte sie ein wenig ein. Allerdings fehlte ihr diese Geräuschkulisse regelrecht, wenn sie einmal nicht zu Hause war – was selten genug vorkam. Computer, Server, Überwachungstechnik, all das war ein Teil von ihr geworden. Eine Art Ersatzfamilie, wenn auch eine leblose. Mit Technik kam sie besser klar als mit Menschen. Das hatte sie leidvoll erkennen müssen, nachdem zunächst ihre Ehe gescheitert und dann vor einem knappen Jahr auch noch das alleinige Sorgerecht für ihren Sohn Rizgar ihrem Ex zugesprochen worden war. Aber sie wischte diese Gedanken rasch beiseite.
Sie würde noch schnell die Aufnahmen der Überwachungskameras aus der Wohnung von Sabine Yaos Schwester checken – nur für den Fall, dass sich da irgendetwas getan hatte. Deshalb zog sie die Tastatur auf ihrer Schreibtischplatte zu sich heran.
Die Rechnereinheit hatte die zwölf Monitore bereits in den Stand-by-Modus versetzt, da sie die letzten Stunden an den Laptops gearbeitet hatte, und im Wohnzimmer herrschte Schummerlicht. Aber nachdem sie über die Tastatur eine Ziffern- und Buchstabenfolge eingegeben hatte, sprangen die Monitore an, und der Raum wurde schlagartig hell erleuchtet.
Sara Wittstock aktivierte mit der Maus die Steuerungsoberfläche und klickte sich durch die einzelnen Kameraansichten, ließ die Aufnahmen, die laut der kleinen Zeitleiste in der rechten unteren Ecke des jeweiligen Monitors am Vortag um 21:04 Uhr begonnen hatten, im Schnelldurchlauf vorbeiziehen.
Kamera 1 Badezimmer: Nichts .
Kamera 2 Badezimmer: Nichts .
Kamera 1 Küche: Nichts .
Kamera 2 Küche: Nichts .
Kamera 1 Wohnzimmer: Treffer!
Sara Wittstocks Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen.
Eine Bewegung auf dem Bildschirm. Eher ein Schatten.
Sie ließ die Aufnahme zurücklaufen. Ein Mann ging durch das von Kamera 1 im Wohnzimmer aufgezeichnete Bild, verließ das Blickfeld der Kamera. Die Zeitleiste in der rechten unteren Ecke zeigte 22:12 Uhr.
Sara Wittstock setzte sich auf dem Schreibtischstuhl kerzengerade hin. Sie liebte diese Momente. Sie, die unsichtbare Jägerin, die den anderen, die ihre virtuelle Anwesenheit nicht im Entferntesten ahnten, bei ihren manchmal legalen, meistens aber illegalen Aktivitäten zusah. Die andere beobachtete. Alles dokumentierte.
Sie navigierte sich mit ein paar Mausklicks auf der Benutzeroberfläche durch die Systemsteuerung, ging auf Kamera 2 im Wohnzimmer, deren Aufnahmerichtung sich auf der gegenüberliegenden Wohnzimmerseite von Kamera 1 befand und im Weitwinkelmodus den Großteil des Raumes erfasste. Eine Couch, davor ein Couchtisch. Ein Sessel. Dahinter die riesige Schrankwand, fast alle Regalbretter und Ablagefächer leer, mit Ausnahme von wenigen Büchern, einigen DVDs und einem Strauß Plastikblumen, wovon sie sich in der Wohnung selbst ein Bild hatte machen können.
Kamera 2 Wohnzimmer: Ein Mann.
Sie ließ die Aufnahme jetzt in normaler Wiedergabegeschwindigkeit laufen. Der Mann stand mitten im Raum. Die Arme verschränkt. Regungslos, wie eine Erscheinung. Sie hielt den Atem an, ihr Finger drückte immer wieder auf die rechte Maustaste. Screenshot nach Screenshot. Der Mann wirkte völlig ruhig. Entspannt. Als gehörte er dorthin. Er hatte es vermieden, das Licht im Wohnzimmer oder in irgendeinem anderen Raum einzuschalten. Aber die Bilder der Kameras waren trotz des schummrigen Lichts in der Wohnung, die lediglich von den durch das Wohnzimmerfenster einfallenden Lichtquellen der umliegenden Hochhausfronten erhellt wurde, gestochen scharf. Infrarottechnik.
Sara Wittstock zoomte auf das Gesicht des Mannes. Screenshot.
Der Unbekannte trat mehrere Schritte vor und blieb links neben dem großen Sessel stehen, beugte seinen Oberkörper leicht nach vorn. Als würde er auf dem Boden etwas suchen. Die Zeitleiste in der rechten unteren Ecke zeigte 22:14 Uhr.
Plötzlich öffnete sich wie von Geisterhand die untere, etwa sechzig Zentimeter hohe, linksseitige Tür der großen Wohnzimmerschrankwand.
Sara Wittstock pfiff scharf durch die Zähne, woraufhin eine ihrer Perserkatzen maunzte und ihr aufgeregt auf den Schoß sprang. Die IT- Expertin ließ sich davon jedoch keine Sekunde ablenken. Ihr Blick war starr auf das Geschehen auf dem Monitor fixiert.
Dort kamen jetzt zwei Arme zum Vorschein, die sich aus der geöffneten Tür im Unterteil der Schrankwand über den Fußboden nach vorn tasteten. Als würde ein Dämon der Hölle entsteigen.
Es folgte ein Oberkörper, ein Paar Beine. Ein Körper, der sich jetzt spinnenartig vorwärts bewegte.
»Oh, fuck!«, entfuhr es Sara Wittstock.
Aus dem Schrank in Mailin Zhous Wohnzimmer kroch ein Mensch.
☠ ☠ ☠