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Berlin-Schöneberg,
Generalstaatsanwaltschaft, Büro Gabriel Fournier,
Montag, 4. August, 9:47 Uhr
A
ls die Vorzimmerdame Markwitz in das repräsentative, holzgetäfelte Büro von Gabriel Fournier im zweiten Obergeschoss der Generalstaatsanwaltschaft führte, stand der Generalstaatsanwalt vor dem geöffneten Fenster, die Hände in seine kompakten Hüften gestemmt. Er drehte seinen massigen Körper in Markwitz’ Richtung und blies dabei den Rauch seiner Zigarette, die ihm locker im Mundwinkel hing, aus der Nase. Offensichtlich hatte er das allgemein in öffentlichen Gebäuden in Berlin herrschende Rauchverbot aufgehoben – zumindest in seiner Behörde.
»Na endlich, Markwitz! Setzen Sie sich!«, forderte der korpulente Mann. Sein rosiges Gesicht glänzte vor Schweiß.
Der Hauptkommissar nahm auf einem der vielen freien Stühle rund um den riesigen Konferenztisch in der Mitte von Fourniers Büro Platz.
»Wie ist der aktuelle Stand?«
Der Generalstaatsanwalt hatte Markwitz unverzüglich zu sich einbestellt, nachdem er vom Stab des Polizeipräsidenten über die so überraschend wie plötzlich aufgetretene Kronzeugin informiert worden war.
»Shania Saad und ihre Tochter sind mit Personenschutz und unter hohen Sicherheitsvorkehrungen in einem Hotel am Schwielowsee untergebracht. Wir warten auf das Go fürs Zeugenschutzprogramm, dann kommen sie in eine unserer sicheren Unterkünfte. Dort
vernehmen wir sie dann ausführlich, um so viel wie möglich über die Organisationsstruktur des Saad-Clans herauszufinden. Einfuhrwege der Drogen, Vertriebswege, Namen der Hintermänner, Immobilienabwicklung …«
»Ja, ja, schon klar, Markwitz«, unterbrach Fournier den Hauptkommissar. »Jetzt haben wir sie am Arsch. Jetzt haben wir die ultimative Chance, Asad Saad aus dem Spiel zu nehmen.«
Mit diesen Worten verließen die letzten Rauchschwaden seinen Mund. Der Generalstaatsanwalt, der bis jetzt vor dem Fenster stehen geblieben war, schnippte die Zigarettenkippe nach draußen und nahm nun ebenfalls an dem großen Konferenztisch Platz.
»Wir werden sein Drogenkartell hochgehen lassen, die Bordelle schließen, seine Immobilien beschlagnahmen. Was muss ich noch wissen, was ich bisher nicht weiß?«, fuhr er fort.
»Shania Saad ist seit sieben Jahren mit Abadi Saad zusammen, im fünften Jahr mit ihm verheiratet. Sie hat den Aufstieg des Clans im Detail mitverfolgt …«
»Erzählen Sie mir von dem Mordkomplott«, unterbrach Fournier, dem jetzt der Schweiß in Strömen übers Gesicht lief, ihn erneut.
»Shania Saad hat von ihrem Mann erfahren, dass sich die Familie blutig an Heumann rächen will. Das ist der Arzt, der in der Charité den jüngsten der Saad-Brüder notoperiert hat und unter dessen Händen Amir Saad dann verstorben ist. Danach ist Heumann in der Rettungsstelle der Charité mit dem drittältesten der Brüder, Abdelkarim Saad, zusammengestoßen. Dort gab es schon die erste Bedrohungssituation und Ankündigung von Rache durch die Saads. Die Libanesen wollen ihn töten, das steht außer Frage. Wir sind bereits seit Samstagvormittag bei Heumann vor der Tür, natürlich mit verdeckten Kräften.«
»Gut. Noch irgendwelche neuen Erkenntnisse?«
»Wir wissen jetzt auch, wer der zweite Mann war, der Amir Saad an
den Schulzensee in das Wohnhaus von Hermann Lübben begleitet hat, kurz bevor Saad dort von Lübben angeschossen wurde, bevor wiederum dieser, mit derselben Schusswaffe, Suizid beginn. Der zweite Mann war Bassam Darzi – ›der Saubermann‹. Seine DNA konnte die KT ebenfalls in Lübbens Haus nachweisen. Darzi betreibt für die Saads Geldwäsche in großem Stil. Er …«
Gabriel Fournier bedeutete Markwitz mit einer abrupten Handbewegung zu schweigen und atmete genervt aus.
»Gut, noch mal zum Thema geplanter Mordanschlag auf den Arzt«, sagte er. »Worauf genau müssen wir uns da Ihrer Meinung nach einstellen?«
»Shania Saad hat ausgesagt, dass ihr Mann und sein Bruder, Abdelkarim Saad, den Job übernehmen sollen. Anscheinend will der Löwe sicherstellen, dass nichts schiefgeht, und beauftragt die engsten Familienmitglieder. Der Löwe …«
»Lassen Sie den Bullshit: Der Löwe!
Wir sind doch hier nicht im Reich der Tiere. Der Kerl heißt Asad Saad und ist ein Schwerkrimineller und kein Kätzchen«, fauchte der für seine cholerischen Ausbrüche bekannte Fournier. Dann fragte er, diesmal in deutlich gemäßigterem Tonfall: »Wann?«
»Heute Abend.«
»Sicher?«
»Ja.«
»Uhrzeit?«
»Konnte die Zeugin uns nicht sagen.«
»Ihr Vorgehen?«
»Wir sind sehr gut bei Heumann aufgestellt. Er ist zu Hause. Seit Samstag hat er sein Haus im Westend nicht verlassen. Er ist offiziell krankgeschrieben, inoffiziell bleibt er natürlich dort, weil wir seinen Schutz in der Klinik nicht gewährleisten können. Das MEK der Direktion West ist vor Ort. Ich wollte mit Ihnen die weiteren
Maßnahmen absprechen«, erklärte Markwitz und verstand gleich darauf, warum die meisten seiner Kollegen im LKA den korpulenten Generalstaatsanwalt für ein schwer erträgliches Arschloch hielten.
»Ich habe nur eine einzige Maßgabe für diese ganze Geschichte: Sie und Ihre Leute dürfen es nicht vermasseln«, polterte der Generalstaatsanwalt jetzt wieder los. »Weiß dieser Heumann von der Zeugin?«
»Nein. Davon weiß er noch nichts. Ich wollte erst mit Ihnen sprechen.«
»Kennen Sie den Arzt persönlich?«, hakte Fournier nach.
»Ja, Kollege Okyar und ich waren am Samstagvormittag bei ihm, nachdem die Saads ihm eine eindeutige Botschaft geschickt hatten: einen misshandelten Hundewelpen. Sie haben meinen Bericht dazu gelesen?« Natürlich hat er meinen Bericht nicht gelesen,
beantwortete Markwitz sich seine Frage in Gedanken selbst.
»Nein, hatte ich noch keine Zeit dazu.«
»Um noch mal auf Ihre Frage zurückzukommen, Herr Fournier: Dr. Heumann weiß bisher noch nichts von der mittlerweile nicht mehr nur abstrakten, sondern laut Shania Saad sehr konkreten Gefahr für sein Leben. Ich wollte mit Ihnen das weitere Vorgehen besprechen. Wir sollten Heumann und seine Familie an einen sicheren Ort bringen. Ich gehe davon aus, dass die Saads Heumann weiterhin im Visier haben. Ich dachte an ein Ablenkungsmanöver. Wir bringen Heumann und seine Familie in Sicherheit, dann können wir den Zugriff durchführen, ohne irgendjemand zu gefährden. Wir haben noch genug Zeit dafür bis heute Abend, das alles zu …«
»Nichts davon werden wir tun.«
»Wie bitte?« Markwitz konnte kaum glauben, was er da hörte.
»Ich sagte, wir werden nichts dergleichen unternehmen. Wir servieren Heumann den Saads auf dem Silbertablett. Er bleibt, wo er ist, in seinem Haus.«
»Aber …«
»Kein Aber. Wissen wir, wie die Libanesen Heumann töten wollen?«
Markwitz schüttelte den Kopf. »Darüber hat die Zeugin keine Erkenntnisse. Die Familie Saad verfügt über Schusswaffen, das wissen wir sicher, aber es gibt keine Details zum Vorgehen. Keine SMS, irgendwelche Chats, was auch immer. Wir haben das überprüft. Die Brüder besprechen sich in wichtigen Angelegenheiten immer nur persönlich. Den heutigen Tag als Datum für den Mordanschlag hat unsere selbst ernannte Kronzeugin durch Zufall gestern erfahren, als sie ein Gespräch ihres Mannes mit Abdelkarim Saad belauschte.«
Gabriel Fournier griff in die Innentasche seines Jacketts, zog sein Zigarettenetui heraus und steckte sich eine weitere Zigarette in den Mund.
»Wir werden den Arzt und seine Familie dort lassen, wo sie sind. Und wir werden präpariert sein, wenn die Saads zuschlagen. Sie veranlassen alles. Sie fahren jetzt zu diesem Heumann und informieren ihn, was los ist. Ich habe keine Lust, dass der uns, wenn das hier alles vorbei ist, irgendeinen Anwalt auf den Hals hetzt, der behauptet, wir hätten seinem Mandanten gegenüber wichtige Informationen und Erkenntnisse unsererseits zurückgehalten. Fingerspitzengefühl, Markwitz! Machen Sie ihm keine Angst. Nicht dass er noch von sich aus das Weite sucht oder irgendeinen Alleingang startet. Heumann muss nur so viel wissen, wie eben gerade nötig ist. Haben wir uns verstanden?«
Markwitz nickte stumm und erhob sich.
Gabriel Fournier zündete sich die Zigarette an und blies eine Rauchwolke in die Luft. Ein Grinsen huschte über sein pausbackiges Gesicht.
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