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Max erwachte nach einem unruhigen Schlaf gegen halb sieben am Morgen und stand um sieben Uhr schließlich auf, nachdem er noch einmal über seine Telefonate mit Keskin, Böhmer und Kirsten nachgedacht hatte.

Nachdem er geduscht und gefrühstückt hatte, warf er um kurz vor acht seine gepackte Reisetasche in den Kofferraum und brach Richtung Mosel auf. Das Wetter entsprach der Jahreszeit Anfang November, es war kalt, diesig und trüb.

Während der Fahrt über die Autobahn ging Max wieder und wieder die wenigen Anhaltspunkte durch, die Eslem Keskin ihm genannt hatte. Tagebucheinträge von Keskins Freundin, die sich um eine große Schuld drehten, die aber nicht näher beschrieben worden war.

Max versuchte, eine Antwort auf die Frage zu finden, warum jemand ein Tagebuch führte, dort aber nur Andeutungen machte, statt sich den Kummer von der Seele zu schreiben, wie man es bei einem Tagebuch normalerweise tat.

Vielleicht würde sich ja schnell herausstellen, dass Keskin zu viel in die Tagebucheinträge ihrer Freundin hineininterpretiert hatte, und Max würde schon am nächsten Tag wieder nach Hause fahren. Ein Gefühl sagte ihm jedoch, dass es anders kommen würde.

Auf Höhe von Bad Neuenahr-Ahrweiler begann es zu regnen, und Max verringerte die Geschwindigkeit. Als er etwa eine halbe Stunde später die A48 bei Kaisersesch verließ, wurde die Sicht noch schlechter und die Fahrt zu einer anstrengenden Angelegenheit, die seine volle Konzentration erforderte.

Der Himmel war eine verwaschene, dunkelgraue Fläche, die nass glänzende, schmale Landstraße schlängelte sich in einem ständigen Auf und Ab wie eine Berg- und Talbahn durch dünnbesiedelte Natur.

Max musste noch langsamer fahren, weil sich die Sicht mit jedem Kilometer, den er hinter sich ließ, weiter verschlechterte.

Als er kurz darauf die serpentinenartige Straße Richtung Cochem hinabfuhr, hingen die dunklen Wolken wie eine Drohung über der Stadt und dem Moseltal.

Kurz nachdem er Cochem durchfahren und wieder verlassen hatte, erreichte er schließlich Klotten.

Die kleine Gemeinde wirkte mit ihren überwiegend alten, teilweise leerstehenden und dem Verfall preisgegebenen Gebäuden auf Max wie ein verwunschener, aus der Zeit gefallener Ort, als er von der Moselstraße in die engen Gässchen abbog, die laut seinem Navigationsgerät zu der Adresse führten, die Keskin ihm genannt hatte.

Max ließ in Gedanken noch einmal Revue passieren, was er über Klotten gelesen hatte. Ein Weinort, umgeben von steilen Schieferhängen, etwa tausendzweihundert Einwohner, etliche Weinbaubetriebe. Anfang des 11. Jahrhunderts hatte eine Polenkönigin, deren Namen Max vergessen hatte, sich mit ihren Kindern für ein paar Jahre in Klotten aufgehalten, was in allen Publikationen über den Ort erwähnt wurde.

Am Fuß der Gemeinde gab es eine Fähre über die Mosel, auf einer Bergkuppe oberhalb eine Burg, deren Namen Max ebenfalls entfallen war, die er aber schon von der Moselstraße aus gesehen hatte.

Eslem Keskin hatte sich in einer kleinen Pension einquartiert, deren beigefarbene Fassade offenbar vor nicht allzu langer Zeit erneuert worden war. Dennoch wirkte das Gebäude bei dem trüben Wetter wenig einladend auf Max, und er erwischte sich bei dem Gedanken, dass dieser ganze Ort auf ihn den Eindruck machte, als sei er als Kulisse für einen Edgar-Wallace-Krimi gebaut worden.

Nachdem er seinen Wagen in einer kleinen Parkbucht neben dem Haus abgestellt hatte, griff Max nach seinem Smartphone und wählte Keskins Nummer. Schon nach dem zweiten Klingeln nahm sie das Gespräch an.

»Guten Morgen«, begrüßte Max sie. »Ich bin da. Ich stehe vor dem Haus.«

»Wow!«, entgegnete Keskin hörbar überrascht. »So früh habe ich nicht mit Ihnen gerechnet.«

»Worauf hätte ich warten sollen?«

»Da haben Sie natürlich recht. Schön, dass Sie da sind, ich komme sofort runter.«

Max stieg aus, schlüpfte in seine Jacke und zog den Reißverschluss bis zum Hals zu. Der Niederschlag war mittlerweile etwas schwächer geworden und rieselte als kalter Nieselregen aus den dunklen Wolken, was es aber nicht unbedingt besser machte.

Max ging auf den überdachten Eingang zu und stellte fest, dass es sich seltsam anfühlte, wenn Keskin so freundlich mit ihm sprach. So, als ob das dicke Ende in Form von zynischen Kommentaren und Vorwürfen gegen ihn gleich kommen würde.

Ganz im Gegenteil zeigte sich auf Keskins Gesicht der Anflug eines Lächelns, als sie die Tür öffnete und ihm die Hand entgegenstreckte. »Noch mal: Danke, dass Sie gekommen sind, Herr Bischoff.«

Eslem Keskin hatte sich seit ihrem letzten Treffen, das schon eine Weile her war, nicht verändert. Ihre schlanke Gestalt wirkte sportlich, die dunkelrot umrandete Brille bildete einen interessanten Kontrast zu ihren dunklen Augen und den schulterlangen, fast schwarzen Haaren.

Max wollte ihr die Hand schütteln, stockte aber in der Bewegung, als hinter Keskin eine weitere Person auftauchte. Eine junge Frau Mitte zwanzig mit blonden Haaren, die bis zur Mitte des Rückens reichten. Sie kam Max sofort bekannt vor, und zwei Atemzüge später wusste er auch, woher.

Vor ihm stand Jana Brosius, eine ehemalige Studentin von ihm, die – auch daran erinnerte er sich noch gut – laut ihrer eigenen Aussage ein glühender Fan von ihm war.

»Frau Brosius?«, stieß er aus, die Hand noch immer halb erhoben.

»Kriminalkommissarin auf Probe Brosius, genau genommen«, entgegnete sie, und ihre Miene wollte dabei nicht so recht Max’ Erwartung unterstreichen, dass sie das im Scherz gesagt hatte.

»Sie sind …«, setzte er an, wurde jedoch von Jana unterbrochen. »Bei Ihrer alten Dienststelle, dem KK 11, ja.«

Max’ Gedanken überschlugen sich. Wie kam sie unmittelbar nach dem Studium zum KK 11? Und warum hatte Böhmer ihm nichts davon gesagt, dass eine ehemalige Studentin von ihm nun seine neue Kollegin war?

Die Antwort auf die zweite Frage gab Max sich gleich selbst: Weil Jana Brosius für Böhmer einfach nur eine neue Kollegin war. Woher sollte er wissen, dass sie in Max’ Vorlesungen gewesen war und ihn und seine Methoden bewunderte. Die erste Frage beantwortete gleich darauf Keskin.

»Frau Brosius war direkt nach dem Studienabschluss bei mir und hat mich in einem persönlichen Gespräch davon überzeugt, dass sie eine Bereicherung für die Mordkommission ist«, erklärte Keskin mit wohlwollendem Blick auf die junge Frau. »Ich halte große Stücke auf diese junge Polizistin und habe sie ein wenig unter meine Fittiche genommen. Wenn ich das richtig einschätze, steht ihr eine steile Karriere bevor. Sie ist extrem engagiert und zudem noch mit dem richtigen Gespür ausgestattet, das sie zu einer Top-Ermittlerin machen kann.«

Max hatte seine Überraschung überwunden und lächelte Jana an. »Das klingt wirklich gut. Wenn ich das richtig in Erinnerung habe, finden Sie die Fallanalyse ebenso faszinierend wie ich.«

»Ach ja, schon«, entgegnete sie mit einem gleichgültigen Schulterzucken. »Aber es gibt noch genügend andere interessante Bereiche.«

»Das hört sich anders an als noch vor zwei Jahren.«

»Ja, stimmt.« Sie warf Keskin einen schwer zu deutenden Blick zu, bevor sie sich erneut Max zuwandte. »Das war damals Schwärmerei. Ich bin mittlerweile reifer und erfahrener geworden. Außerdem wusste ich vor zwei Jahren noch nicht, was ich heute weiß.«

Über mich und Bernd Menkhoff? , schlussfolgerte Max und zwang sich dazu, Keskin keinen vorwurfsvollen Blick zuzuwerfen. »Wie dem auch sei«, erwiderte er und wischte die Überlegungen und die Überraschung über Janas Verhalten ihm gegenüber beiseite.

»Frau Brosius hat sich extra Urlaub genommen und ist gleich hergekommen, als sie von Gabrieles seltsamen Tagebucheinträgen gehört hat«, beeilte sich Keskin zu berichten.

»Verstehe«, sagte Max und überlegte, dass die junge Kommissarin sicher nicht irgendwo davon gehört, sondern von Keskin einen Anruf erhalten hatte. Ebenso wie er. Zudem fragte er sich, warum die Leiterin des KK 11 sie beide um Hilfe bat, nachdem sie ihn zuvor bei der jungen Polizistin offensichtlich diskreditiert hatte.

»Ich schlage vor, Sie kommen erst einmal rein.« Keskin deutete hinter sich. »Bevor wir alle völlig durchnässt sind.«

Es zeigte sich, dass die Renovierungsarbeiten im Inneren der Pension noch nicht so weit fortgeschritten waren wie an der Außenfassade. Die Möbel hatten ihre besten Jahre längst hinter sich, und den Decken und Wänden hätten einige Reparaturarbeiten und ein neuer Anstrich sicher gutgetan.

»Nicht modern, aber sauber«, erklärte Keskin, die Max’ Gedanken zu erraten schien. »Und die Inhaber sind sehr freundlich.«

Max nickte. »Alles prima. Gibt es hier auch ein Zimmer für mich? Ich meine, falls ich bleibe.«

»Nein, alles ausgebucht«, erklärte Jana, noch bevor Keskin antworten konnte.

»Ah, okay. Und wo soll ich übernachten?«

»Ich habe Ihnen ein Zimmer in einer Pension ganz in der Nähe gebucht. Ich gebe Ihnen nachher die Adresse. Hatten Sie denn eine gute Anreise?«

Max nickte. »Der Regen hat das Fahren etwas anstrengend gemacht, aber es ging.«

Dabei sah er Jana Brosius an und überlegte, was Keskin ihr wohl alles von ihrer speziellen Version der Ereignisse um Bernd Menkhoff erzählt hatte. Und er fragte sich, wie sie es geschafft hatte, die junge Frau so zu beeinflussen.