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Oberkommissar Kornmeier rief Max zurück, kurz nachdem dieser das Haus von Melanie Dobelke verlassen hatte.

»Na wunderbar«, sagte Max, als er den Namen auf dem Display las, und nahm das Gespräch an.

»Sie baten um Rückruf?«

»Ja, ich möchte auch gleich zur Sache kommen, denn ich habe mich gerade länger mit Melanie Dobelke unterhalten. Ihr Anruf kommt also genau zum rechten Zeitpunkt.«

Max wartete auf eine Reaktion Kornmeiers, und als die nicht kam, sagte er: »Herr Kornmeier, ich wüsste gern, wie alt Sie waren, als Peter Kautenberger verschwand.«

»Das Thema mit meinem Alter hatten wir doch …«

»Gibt es einen Grund, dass Sie mir Ihr Alter nicht sagen möchten? Nachdem Sie bei unserem letzten Gespräch meinten, Kautenberger sei vor fünfundzwanzig Jahren verschwunden, obwohl es erst zweiundzwanzig Jahre her ist? Und nachdem Sie betonten, Sie seien damals ja noch so jung gewesen, dass Sie noch zur Schule gegangen sind?«

»Das …«, setzte Kornmeier an, dann hörte Max, wie er tief durchatmete. »Also gut. Wo sind Sie gerade?«

»Ich bin auf dem Weg zu meiner Pension. Ich wohne bei Lisa Passig.«

»Okay, ich komme. Ich bin in einer Viertelstunde da.«

Max legte zufrieden auf. Endlich schien sich etwas zu bewegen. Und wie es aussah, war die Rolle des damaligen Oberkommissars Thomas Zerbach eine völlig andere, als er selbst es darstellte. Nun kam als nächstes Puzzleteilchen Oberkommissar Kornmeier aus Cochem hinzu, der offensichtlich bei ihrer letzten Unterhaltung großen Wert darauf gelegt hatte, zum Zeitpunkt von Peter Kautenbergers Verschwinden jünger zu erscheinen, als er gewesen war. Max war mehr denn je der Überzeugung, dass es zur Aufklärung des Mordes an Jessica Meininger wichtig war zu verstehen, was damals in Klotten passiert ist.

Als Max an der Pension ankam, begann es wieder zu regnen.

Er ging hinein und setzte sich in den Aufenthaltsraum, nachdem er festgestellt hatte, dass Lisa Passig nicht im Haus zu sein schien. Um sich die Zeit bis zu Kornmeiers Eintreffen zu vertreiben, versuchte er seinen Exkollegen zu erreichen, was ihm auch gelang.

»Hallo, Max!«, begrüßte Böhmer ihn mit einem grimmigen Unterton, der Max bekannt vorkam.

»Okay. Erzähl!«, sagte er knapp.

»Was?«

»Na, was dich ärgert. Ich höre es an deiner Stimme.«

»Du kennst mich einfach zu gut. Ich hatte gerade eine Unterhaltung mit meiner Chefin, die der Meinung ist, ich sollte dafür sorgen, dass du aus Klotten verschwindest. Was hast du jetzt wieder angestellt?«

»Ach, diese Frau geht mir wirklich auf die Nerven.«

»Dann bist du wohl an der Reihe zu erzählen.«

Max fasste seine Gespräche mit Jana und Keskin zusammen, woraufhin Böhmer ein meckerndes Lachen ausstieß.

»Okay, ich verstehe, warum du sauer bist, und jetzt auch, warum die Keskin sich aufführt, als hätte sie das Kriegsbeil ausgegraben. Ich befürchte, ihr beide werdet keine Freunde mehr.«

»Das sehe ich zumindest im Moment genauso. Und wenn sie glaubt, ich würde hier unverrichteter Dinge wieder abziehen, dann hat sie sich geschnitten.«

Erneut war ein kurzes Lachen zu hören. »Ich weiß. Und etwas Ähnliches habe ich ihr auch gesagt.«

Die Tür öffnete sich, und Kornmeier betrat den Aufenthaltsraum der Pension.

»Wo bist du gerade?«, fragte Max ins Telefon.

»Ich habe laut Navi noch eine knappe Stunde.«

»Okay, dann bis gleich.«

Er legte auf und bedeutete Kornmeier, sich zu setzen.

»Also, was halten Sie davon, wenn wir jetzt offen miteinander reden?«

»Was denken Sie, warum ich hierhergekommen bin?«, erwiderte Kornmeier mit müder Stimme.

»Na, dann legen Sie los. Am besten mit der Antwort auf meine Frage, warum es Ihnen so wichtig ist, dass ich Sie für jünger halte, als Sie tatsächlich sind.«

Kornmeier machte ein nachdenkliches Gesicht, als müsse er sich die Antwort erst überlegen und hätte nicht schon während der Fahrt von Cochem nach Klotten dazu die Gelegenheit gehabt.

»Bleibt dieses Gespräch unter uns?«

Max zuckte mit den Schultern. »Solange es rechtlich nicht relevant ist, ja.«

»Es stimmt, ich war vor zweiundzwanzig Jahren schon einundzwanzig. Aber dass ich zu der Zeit noch zur Schule ging, das war keine Lüge. Allerdings zur Polizeischule. Ich … ich wollte nicht, dass das rauskommt, damit …«

»Damit?«

»Damit Zerbach nicht auf die Idee kommt, ich könnte es gewesen sein, der ihn damals in Koblenz angeschwärzt hat.«

»Sie waren das?«, fragte Max ehrlich überrascht.

»Ich habe während der Ermittlungen mitbekommen, dass er immer wieder bei Melli zu Hause war und manchmal erst zwei Stunden später zurückgekommen ist. Bei seinem verschwitzten Gesicht und der unordentlichen Frisur war klar, was gelaufen ist. Er hat Mellis Situation ausgenutzt, und ich habe Melli angesehen, dass es ihr nicht gut ging. Deshalb habe ich dafür gesorgt, dass das ein Ende hat.«

»Aber wie konnten Sie so sicher sein, dass Zerbach die Beziehung nicht von Koblenz aus weiterführen würde?«

In dem Blick, mit dem Kornmeier Max ansah, lag Unverständnis. »Fragen Sie mich das wirklich? Sie haben diesen überheblichen Fatzke doch erlebt. Er war damals schon genauso wie heute. Würden Sie davon ausgehen, dass er der Typ ist, der eine Affäre, die er während einer Ermittlung anfängt, danach ernsthaft fortsetzen will?«

Max gestand sich ein, dass Kornmeier recht hatte und er es genauso sah, antwortete aber nicht, denn etwas anderes interessierte ihn. »Sie sagten, Zerbach kam manchmal erst nach zwei Stunden wieder aus Dobelkes Haus. Woher wissen Sie das?«

»Weil ich gesehen habe, wie er das Haus verließ.«

»Aber woher wussten Sie, dass er zwei Stunden drin war?«

»Weil …« Kornmeier biss sich kurz auf die Lippe, da ihm klar war, dass Max aus seiner Antwort Schlussfolgerungen ziehen würde. »Weil ich auch gesehen habe, wie er hineingegangen ist.«

»Sie haben zwei Stunden vor dem Haus gewartet?«

»Ja. Ich … ich war mit Peter Kautenberger befreundet und fand es schrecklich, dass dieser Arsch so kurz nach Peters Verschwinden die Situation ausnutzte und dessen Freundin … Sie wissen schon. Deswegen habe ich das beobachtet und die Kollegen in Koblenz über Zerbachs Treiben informiert.«

»Anonym.«

»Ja.«

»Sie waren also mit Peter Kautenberger befreundet?«

»Ja.«

Er lügt , soufflierte eine innere Stimme Max.

»Das ist mir neu. Er muss zu dem Zeitpunkt vier oder fünf Jahre älter gewesen sein als Sie. Und er hat meines Wissens außer mit Melanie Dobelke fast seine ganze Freizeit mit Achim Brandstätt, Ingo Görlitz und Gabi Meininger verbracht.«

»Ja, und?«

»Hm … Das heißt, die drei müssten Sie dann ja auch ganz gut kennen. Denken Sie, Melanie, Achim und Ingo würden mir das bestätigen, was Sie gerade gesagt haben?«

»Moment!«, fuhr Kornmeier hoch. »Sie sagten, das Gespräch bliebe unter uns. Ich habe mich darauf verlassen.«

»Das war eine hypothetische Frage, Herr Kornmeier. Ich sagte nicht, dass ich sie tatsächlich fragen werde.«

Max konnte sehen, wie sich Kornmeier wieder entspannte. »Ja, das würden sie bestimmt bestätigen.«

Und auch das war eine Lüge, glaubte Max zu wissen.