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Als Kornmeier sich verabschiedet und Max nochmals eindringlich gebeten hatte, niemandem von ihrer Unterhaltung zu erzählen, waren noch zwei Gespräche auf Max’ imaginärer Liste offen. Er sah auf die Uhr. Kurz nach eins. Er wusste nicht, wie hoch die Wahrscheinlichkeit war, Brandstätt und Görlitz zu erreichen. Er entschied sich, es zuerst bei Brandstätt zu versuchen. Und er nahm sich vor, seine Zurückhaltung abzulegen und Klartext mit den Leuten zu reden.

Als Max den Hof des Weinbaubetriebes betrat, sah er sofort Achim Brandstätt. Ähnlich wie zuvor sein Vater werkelte er an einem Schmalspurtraktor herum, dessen beide Motorabdeckungen hochgeklappt waren.

Im Gesicht des Mannes spiegelte sich Ablehnung wider, als er Max entdeckte.

»Mit welchen Fragen kommen Sie denn jetzt schon wieder an?«, fragte er, als Max ihn erreicht hatte.

»Mit der Frage, warum Sie mir nicht gesagt haben, dass Peter Kautenberger damals explizit Sie und Ihren Vater beschuldigt hatte, Ihren Wein zu panschen«, schoss Max bewusst scharf seine Frage ab.

Brandstätt richtete sich auf und wischte sich die Hände an einem grauen Lappen ab. »Wie kommen Sie denn darauf?«

»Das wurde mir von Leuten gesagt, die es wissen sollten«, entgegnete Max vage.

»Ach ja? Alle hier im Ort glaubten immer schon, irgendwelche Dinge zu wissen, doch niemand traute sich, etwas zu sagen. Das ist hier eben so.«

»Bis auf Peter Kautenberger.«

Brandstätt warf den Lappen in den Motorraum und stemmte die Hände in die Hüften. »Was wollen Sie? Piet hat damals wohl etwas gehört, und das hat ihm offensichtlich keine Ruhe gelassen, was man ja auch verstehen kann. Und dabei ging es nicht nur um uns, sondern auch um andere Winzer aus Klotten. Aber das habe ich Ihnen bereits bei unserem letzten Gespräch gesagt. Ich verstehe also nicht, was Sie jetzt noch wollen.«

»Warum nehmen Sie Peter Kautenberger in Schutz?« Max versuchte einen anderen Ansatz.

»Was?«

»Das ist mir schon beim letzten Mal aufgefallen. Sobald ich ihn ins Spiel bringe, stellen Sie sich vor ihn. Man könnte fast meinen, Sie wollten auf jeden Fall verhindern, dass jemand auf die Idee kommt, Sie hätten einen Grund gehabt, wütend auf ihn zu sein.«

»Sind Sie übergeschnappt?«

»Das bin ich nicht. Ich habe Ihnen gesagt, was ich beobachte, und hoffe, Sie können es mir erklären.«

»Einen Scheiß kann ich. Und einen Scheiß will ich. Die Unterhaltung ist beendet.«

»Also gut, ich werde es entsprechend an Hauptkommissar Zerbach weitergeben. Ich kann mir vorstellen, dass der sich an der Weinpansch-Geschichte festbeißen wird, und wissen Sie, warum? Weil es um damals geht, als er hier erfolglos die Leute befragt hat.«

»Na und?«

Max rang sich ein Grinsen ab. »Ich denke, Sie haben Zerbach kennengelernt. Wenn er eine Möglichkeit sieht, diese alten Ermittlungen nachträglich in einen Triumph für sich zu verwandeln, dann wird er nicht zögern, auch wenn das bedeutet, dass er diese Panscherei-Geschichte noch mal ausgräbt und breittritt.«

»Ich habe dir beim letzten Mal gesagt, du sollst den Mund halten«, dröhnte ein Mann hinter Max, und noch bevor er sich umdrehen konnte, wusste er, wer dort stand. »Aber du musstest ja anfangen, von diesem Mist zu erzählen.«

Der alte Brandstätt kam um Max herum und deutete auf ihn. »Das hast du jetzt davon.«

»Aber wieso? Ich habe doch …«

»Sei jetzt endlich still«, herrschte Brandstätt seinen Sohn an. »Du hast genug geredet.« Und an Max gerichtet: »Kommen Sie, jetzt unterhalten wir beide uns. Und wenn Sie sich danach noch einmal hier blicken lassen, werde ich höchstpersönlich die Polizei einschalten, haben Sie das verstanden?«

»Bisher haben Sie recht deutlich gesprochen«, entgegnete Max betont gelassen und hoffte darauf, nun endlich mehr zu erfahren.

Er folgte dem Alten, der sich abrupt umdrehte und auf das Wohnhaus zustapfte. Sie gingen in das gleiche Zimmer, in dem Max schon mit Achim Brandstätt und Wagner gesessen hatte.

»Setzen Sie sich«, forderte der Alte Max mürrisch auf, dann trat er zu einem niedrigen Schrank, öffnete eine Tür und nahm eine Flasche und zwei Schnapsgläser heraus, die er auf dem Tisch abstellte.

Max hob abwehrend die Hand. »Nein, danke, für mich keinen Schnaps.«

»Wenn Männer ein offenes Gespräch führen, dann trinken sie einen Schnaps zusammen. Hier ist das so.«

»Ich …«, setzte Max an, doch als er in das entschlossene Gesicht des Mannes sah, gab er auf. »Also gut. Trinken wir einen Schnaps zusammen.«

Brandstätt schenkte die Gläser randvoll, schob Max eines davon hin und hob das andere hoch. »Prost. Und nicht nippen, sondern auf ex.«

Max atmete durch und trank das Glas in einem Zug leer. Entgegen seiner Erwartung brannte der Schnaps nicht wie Feuer in der Kehle, sondern hatte einen angenehmen Geschmack.

»Mirabelle, eigene Produktion«, erklärte Brandstätt, stellte das Glas ab und ergänzte: »Ungepanscht.«

»Lecker«, gab Max zu, hätte sich aber im nächsten Moment dafür ohrfeigen können, als der Alte zur Flasche griff und die Gläser erneut füllte.

»So, junger Mann, da Sie es ja nicht aufgeben wollen, reden wir jetzt mal Klartext.«

»Das würde ich sehr begrüßen.«

»Sparen Sie sich ihre schlauen Bemerkungen und hören Sie einfach zu, was ich Ihnen zu sagen habe. Vor zweiundzwanzig Jahren ist mein damaliger Kellermeister bei einem Unfall im Urlaub ums Leben gekommen. Der Idiot hat sich beim Skifahren auf der Piste von einem Besoffenen umfahren lassen und ist dabei so unglücklich gestürzt, dass er sich das Genick gebrochen hat. Achim war noch nicht so weit, den Keller zu übernehmen, also habe ich jemanden für sie Übergangsphase besorgt und zeitlich begrenzt eingestellt.

Dieser Kerl hat an einem Abend die grandiose Idee gehabt, Achim vorzuschlagen, unsere günstigen Grundweine auf seine Art zu veredeln und so die Gewinnspanne um mehrere hundert Prozent zu erhöhen. Er meinte, er wüsste, wie das zu machen sei, ohne dass es auffällt. Und wissen Sie, was der Idiot von meinem Sohn getan hat? Er hat nicht etwa gesagt, dieser Typ soll seine Sachen packen und sofort von unserem Hof verschwinden, nein, er sagte, das klinge nicht schlecht und er wolle mit mir darüber reden. Können Sie sich das vorstellen?« Brandstätt schüttelte den Kopf und hob sein Glas. »Prost.«

Nachdem sie getrunken hatten, schlug Brandstätt mit der flachen Hand auf den Tisch. »Ich hätte ihn damals enterben und rauswerfen sollen, diesen Idioten von einem Sohn. Natürlich habe ich den Kellermeister sofort davongejagt, und es wäre alles eigentlich kein großes Drama gewesen, aber ausgerechnet an diesem Abend kam Peter Kautenberger an und wollte zu Achim. Er hat das Gespräch zwischen meinem Sohn und dem Kellermeister mitgehört und war entsetzt, dass Achim diese abstruse Idee nicht sofort ablehnte. Für ihn sah es so aus, als wolle mein Sohn tatsächlich unsere Weine panschen.«

Erneut griff der Alte zur Flasche. Max versuchte halbherzig abzuwehren, wollte den Redefluss des Mannes aber nicht unterbrechen und hatte gleich wieder ein volles Glas vor sich stehen.

»Sie müssen wissen, dass Peter ein grundehrlicher junger Mann war. Zu ehrlich, wenn Sie mich fragen, denn der Ehrliche ist bekanntlich immer der Dumme, wenn er es übertreibt mit der Ehrlichkeit. Jedenfalls hat er Achim empört zur Rede gestellt, als dieser Kellermeister gegangen war, und leider Gottes, bevor ich meinem Idioten von Sohn den Kopf zurechtrücken konnte.

Und was macht dieser Dummkopf? Erklärt er seinem Freund, dass das Blödsinn ist und er niemals wirklich in Betracht ziehen würde, unsere Weine zu panschen? Nein, das tut er nicht. Er fühlt sich von Peter angegriffen und sagt ihm, er solle sich um seinen eigenen Scheiß kümmern und er würde tun, was er für richtig halte.«

»Puh.« Max schnaufte und griff zum Glas, und der Alte tat es ihm gleich. Dieser Mirabellenschnaps begann Max richtig gut zu schmecken. »Das war nicht clever.«

»Nicht clever? Eine Katastrophe war das. Als Peter wutentbrannt gegangen war und Achim mir alles erzählte, war ich kurz versucht, ihm zum ersten Mal in seinem Leben eine runterzuhauen. Es kam, wie es kommen musste. Peter erzählte seinem Vater, was er gehört hatte, und kurz darauf stand der bei mir auf der Matte. Ich denke, ich konnte den alten Kautenberger davon überzeugen, dass wir so etwas niemals tun würden und dass mein Sohn ein Vollidiot ist, weil er das dem Gauner von einem Kellermeister nicht gleich ins Gesicht gesagt hatte. Ich habe ihm bei meiner Winzerehre versprochen, dass er sich keine Sorgen machen muss, und ihm im Gegenzug das Versprechen abgenommen, nicht darüber zu reden. Ich glaube, Peters Vater hat sich auch daran gehalten, aber Peter … Ab dem Moment war er ziemlich seltsam und hat immer wieder damit angefangen, dass der Ruf der ganzen Region geschädigt würde und so weiter und so weiter. Er hat sich aufgeführt wie ein Moralapostel, bis ich ihm irgendwann mal gesagt habe, dass der Ruf der Region nur geschädigt würde, wenn er weiter auf diesem Thema herumreitet und darüber spricht. Danach ist er nicht mehr bei uns aufgetaucht, und ich glaube, bei Ingo Görlitz und den anderen aus der Clique meines Sohnes auch nicht, weil die ihm ebenfalls gesagt haben, er solle endlich Ruhe geben. Tja … und kurz darauf ist er dann verschwunden.«

»Bis jetzt«, kommentierte Max und bemerkte selbst, dass die Worte nicht mehr so klar über seine Lippen kamen, wie sie das sollten.

Brandstätt winkte ab. »Ach, kommen Sie mir jetzt nicht mit dieser Geschichte, dass Peter wieder da ist. Das ist ausgemachter Blödsinn.«

»Aber auch Ihr Sohn glaubt, ihn gesehen zu haben.«

»Ja. Ich habe Ihnen ja gerade erzählt, was für eine Leuchte mein Sohn manchmal ist. Vergessen Sie’s.«

Erneut griff Brandstätt zur Flasche und sagte: »So, junger Mann, nun kennen Sie die ganze Geschichte, soweit sie uns betrifft. Mehr gibt es dazu nicht mehr zu sagen. Jetzt trinken wir ein letztes Glas zusammen, und dann verlassen Sie meinen Grund und Boden und kommen nicht mehr her. Das war der Deal.«

Max hob den Zeigefinger und schüttelte den Kopf. »Nein, nein, nein, das war kein Deal, das haben Sie so festgesetzt.«

»Das kommt aufs Gleiche raus. Hauptsache, Sie lassen uns ab sofort in Ruhe.«

Max sah ihm dabei zu, wie er die Gläser erneut randvoll einschenkte. Der Schnaps war wirklich lecker, und ein letztes Gläschen konnte nicht schaden.

Zwei Minuten später verabschiedete sich Max von Brandstätt und verließ auf nicht mehr ganz sicheren Beinen den Hof.

Achim Brandstätt war verschwunden, aber er suchte auch nicht explizit nach ihm. Der Spaziergang an der frischen Luft und auch der Regen würde ihm sicher guttun und wieder für etwas mehr Klarheit in seinem Kopf sorgen.

»Im Grunde genommen«, sagte Max leise vor sich hin, nachdem er um die nächste Ecke gebogen war, »haben Sie mir gerade ein Motiv geliefert, Herr Brandstätt.«

Dann blieb er wie vom Donner gerührt stehen.

Keine zwanzig Meter vor ihm stand ein Mann auf dem schmalen Gehweg und sah ihn eindringlich an. Und Max war sicher, dieser Mann war Peter Kautenberger.