Montagnachmittag. Auf dem Weg nach Wilhelmshaven
Nachdem in Wilhelmshaven erneut eine Meldung über einen Leichenfund in Wilhelmshaven eingegangen war, hatten Tomke, Carsten und Klein-Hajo sich sofort auf den Weg gemacht.
„Zurück im alten Revier − noch“, murmelte Tomke vor sich hin, als sie in Wilhelmshaven an den großen Baumärkten vorbei in die Peterstraße abbogen.
Sie hatte Carsten fahren lassen, und dieser drehte sich nun zu ihr um. „Altes Revier? Noch? Was soll das denn heißen? Was weißt du? Habe ich etwas verpasst?“
„Naja“, Tomke rutschte ein wenig auf ihrem Sitz hin und her und warf einen Blick auf Klein-Hajo, der auf der Rückbank saß, „wenn du schon fragst … Ich habe heute Morgen von unserem Chef erfahren, dass wir versetzt werden. Nur so viel: Es ändert sich nur unser Standort, wir bleiben zusammen und sitzen demnächst in Wittmund. Aber jetzt sind wir gleich da, lass uns später reden.“
Carsten, der in den letzten Wochen schon so einiges aufgeschnappt hatte, wollte widersprechen, ließ es dann aber sein, denn sie fuhren vor einer Villa am Stadtrand vor. Hier musste es sein, was an den Polizisten vor dem Haus zu erkennen war. Hajo Manninga, der Rechtsmediziner, war schon vor Ort. Ein uniformierter Kollege, den Tomke von anderen Fällen her schon kannte, lief neben ihnen her und informierte im Stenogramm-Stil: „Leiche männlich, erschlagen, Besitzer des Hauses, 65 Jahre“, und fuhr dann etwas ausführlicher fort: „ Es handelt sich um den Direktor einer Immobilienbank hier in der Stadt. Es gibt keine Einbruchspuren. Entweder hat er den Täter gekannt oder dieser hatte einen Schlüssel. Die Tür zum Wintergarten ist geöffnet. Ob sie offen war oder der Mörder sie beim Verlassen des Hauses offengelassen hat, kann ich noch nicht sagen. Erster Eindruck: Er wurde von hinten erschlagen. Jetzt ist die Spusi dran.“
Tomke klopfte ihm auf die Schulter. „Danke erst mal. Den Rest erfahren wir dann hoffentlich von Dr. Manninga. Gute Arbeit, Kollege. Ach so, wer hat denn den Toten gefunden?“
„Eine Streife, die auf den Notruf reagiert hat.“
„Welchen Notruf? Wer hat den denn abgesetzt?“
„Keine Ahnung. Vielleicht der Tote? Ging jedenfalls von hier aus.“
Tomke schüttelte ungläubig den Kopf. Als sie mit Carsten und Klein-Hajo auf die Leiche zuging, hob Manninga den Kopf und rief: „Kommt hier jetzt gleich eine ganze Armee angerauscht und zertrampelt mir die Spuren?“ Meiners von der Spurensicherung verdrehte die Augen und winkte ab. Manninga war für seine ruppige Art an den Tatorten bekannt.
Tomke ging um den Schreibtisch herum und fragte: „Was ist hier passiert?“
Manninga schob seine Brille zurecht, deutete auf den kahlen Schädel des Toten und meinte: „Ich vermute, er wurde mit einem Hammer oder einem ähnlichen Gegenstand mit quadratischer Fläche erschlagen. Der Tod ist vor nicht einmal zwei Stunden eingetreten, also plus/minus 15 Uhr. Mehr morgen nach der …“
„Nach der Obduktion, Hajo, ich weiß. Trotzdem noch eine Frage: Hast du irgendwelche Fremdspuren gefunden, ich meine, so auf den ersten Blick?“
„Nein!“, kam die knappe Auskunft.
„Kann es sein, dass der Tote noch in der Lage war, einen Notruf abzusetzen?“, fragte Tomke vorsichtig.
Prompt kam die trockene Antwort: „Nein, der Tote sicher nicht, aber vielleicht der Schwerverletzte, jetzt Tote, kann sein. Ob er sofort tot war, kann ich dir nach der Obduktion sagen.“
Was frage ich auch so blöd, dachte Tomke. Meiners von der Spusi kam auf sie zu: „Auch bei uns bisher nichts von Bedeutung. Keine Einbruchspuren, kein Fremdmaterial und von der Mordwaffe auch keine Spur. Wenn wir etwas finden, melden wir uns sofort.“
„Danke, Meiners, ich weiß.“ Tomke schaute sich im Raum um. Der Schreibtisch, hinter dem der Tote saß, stand vor einer großen Fensterfront, die den Blick auf einen imposanten Garten im japanischen Stil freigab und in einen Wintergarten überging. Über die Terrasse war der Mörder sicher nicht gekommen, das hätte das Opfer bemerkt. Also musste er vom Wohnraum her gekommen sein oder er war Jannssen bekannt gewesen, überlegte sie. Der ganze Raum und sicher auch die anderen Zimmer waren nur mit − schon auf den ersten Blick − sündhaft teuren Möbeln ausgestattet. Nobel, dachte Tomke, hier hatte jemand aber richtig Kohle. Direktor einer Immobilienbank, hatte der Kollege bemerkt, als sie ankamen. Na dann, kein Wunder.
Carsten kam auf sie zu und zog sie zur Seite. „Also, um unseren Vermissten de Vries handelt es sich hier nicht, das ist klar. Aber hat seine Frau nicht gesagt, dass er bei einer Immobilienbank arbeitet? Zufall?“
„Kein Zufall“, schaltete sich Klein-Hajo ein. „Jojo de Vries war ein Mitarbeiter dieses Herrn.“ Er deutete auf den Toten.
„Woher weißt du das denn so schnell?“, fragte Carsten erstaunt.
„Recherche, einfach nur Recherche, Kollegen“, grinste Hajo und steckte sein Smartphone weg.
Tomke fuhr sich über die Stirn. „Okay, dann haben wir diesen Zusammenhang, was aber noch nichts heißen muss. Allerdings haben wir noch keine Verbindung zu unserer Leiche vom Strand.“
„Vermutest du da etwa eine?“ Carsten war skeptisch.
Tomke zuckte mit den Schultern und wandte sich an den jungen Kollegen. „Hajo, ich will alles wissen über diesen Herrn hier. Familie, Frau, Kinder, Beruf, Vorlieben, Schwächen. Alles, sage ich, und über den vermissten de Vries auch. Welche Zusammenhänge gibt es noch, außer den beruflichen? Wir müssen Verbindungen finden, Parallelen. Vielleicht führt uns das dann auch zu der Leiche vom Strand. Ich klammere mich gerade an jeden Strohhalm, wir haben ja sonst nix. Zwei Tote und einen Vermissten im Raum Wilhelmshaven. Mein Bauchgefühl sagt mir, da gibt es einen Zusammenhang. Ach so, noch etwas, Hajo: Erkundige dich gleich mal, ob das Bild des Toten vom Strand schon veröffentlicht wurde und ob es Neuigkeiten von diesem Jojo de Vries gibt. Nimm das Auto, fahr zurück und mach dich sofort an die Arbeit. Wir lassen uns später von den Kollegen nach Wittmund bringen. Ich hoffe, du konntest schon etwas finden, bis wir kommen. Ich glaube, heute wird es spät. Wir bringen Pizza mit.“
Klein-Hajo nickte, nahm den Autoschlüssel und machte sich auf den Weg zum Fahrzeug. Sein Kopf rauchte, da würde wohl einiges an Recherchearbeit auf ihn zukommen. Zwei Tote und ein Vermisster, das war ganz schön heftig. Plötzlich stutzte er. De Vries, dieser Name sagte ihm doch etwas. Gab es nicht auf dem Revier in Wittmund einen Kollegen mit diesem Namen? Klar, fiel ihm dann wieder ein, Thorsten, Thorsten de Vries. Sie waren doch zusammen beim letzten Schießtraining. Was für ein Zufall, wenn das ein Verwandter wäre. Er nahm sein Handy und wählte die Nummer des Reviers.
Mist. Thorsten de Vries hatte Urlaub, aber der Kollege in der Zentrale wusste seine Privatnummer. Hajo wählte. Nein, meinte Thorsten, er wisse nicht, wo sein Bruder sei, und davon, dass er vermisst wurde, wisse er auch nichts. Seit der mit Heike, dieser eingebildeten Kuh, verheiratet war, hätten sie so gut wie keinen Kontakt mehr. „Aber frag doch mal meine Mutter, die weiß sicher mehr. Oder er ist in dem kleinen Haus, das er von unserer Tante geerbt hat.“
„Welches Haus? Davon wissen wir ja gar nichts. Seine Frau hat davon nix erzählt.“
„Kein Wunder, das alte Haus ist ihr sicher zu popelig. Damit gibt sie sich nicht ab. Sie hat das Haus von außen gesehen und sich geweigert, es jemals zu betreten. Ich glaube, Jojo benutzt es als Rückzugsort, wenn sie ihm mal wieder auf den Geist geht. Es ist am Mittelweg. Warte, ich suche dir die genaue Adresse raus.“
Hajo fuhr zufrieden nach Wittmund, schließlich hatte er den ersten Informationsvorsprung vor seinen Chefs.
Inzwischen war eine Stunde vergangen. Tomke und Carsten hatten genug gesehen. Weder die Kollegen von der Spurensicherung noch Hajo Manninga konnten ihnen weitere Informationen geben; sie hatten die Auswertungen und die Untersuchung der Leiche abzuwarten. Die Überwachungskamera vor dem Haus und die Bewegungsmelder rund um das Haus waren ausgeschaltet − sicher weil der Hausherr anwesend war. Tomke konnte es nicht fassen: Da hatten die schon all dieses Zeug und schalteten es nicht ein ...
Zwei Kollegen von der Streife waren damit befasst, die Nachbarn zu befragen. Wer hatte etwas gesehen oder gehört? Wem war etwas aufgefallen in diesem ruhigen Wohngebiet? Als Tomke und Carsten die Villa verließen, kamen die beiden zurück und schüttelten die Köpfe. „Nichts“, meinte der eine resignierend, „diese alten Villen hier stehen so weit auseinander, da sieht und hört keiner etwas von seinem Nachbarn. Wenn man betrachtet wie hoch die Hecken, Bäume und Büsche gewachsen sind, wundert mich das auch nicht. Manche Häuser sind auch gar nicht bewohnt.“ Er deutete auf das Nachbargrundstück der Jannssenschen Villa.
Tomke sah sich um. „Okay, vielen Dank. Haltet aber weiter die Augen offen, vielleicht trefft ihr ja doch noch auf jemanden, der etwas bemerkt hat. Lass uns fahren, Carsten. Ich will mal fragen, welcher Kollege uns nach Wittmund bringen kann. Allerdings sollten wir einen Abstecher über meine Wohnung machen. Ich bin klamottenmäßig nur für eine Woche eingerichtet, obwohl ich mir vorstellen kann, dass meine Sachen gewaschen und gebügelt auf meinem Bett liegen. Oma und Tant‘ Fienchen hatten schließlich Waschtag. Trotzdem, ich brauch noch ein paar Sachen. Außerdem muss ich meine Blumen gießen.“
Der junge Wilhelmshavener Polizist, der seinen Kollegen bei der Befragung der Nachbarschaft begleitet hatte, bot Tomke und Carsten an, sie nach Wittmund zu fahren. Er war begeistert. Er war erst seit kurzem bei der Truppe. Die Abwechslung von der Routinearbeit, zwei Kriminaler durch die Gegend zu fahren, fand er toll. Ein Abstecher zu Tomkes Wohnung? Kein Problem. Carsten, so erfuhr Tomke, hatte den größten Teil seiner Sachen schon bei Michaela, und Blumen, die versorgt werden mussten, besaß er nicht. Während der Fahrt erfuhren sie von dem jungen Kollegen, dass die alarmierte Streife − und er war dabei gewesen − nach Eingang des Notrufes sofort zur Villa gefahren sei. Als auf das Klingeln niemand geöffnet habe, habe man das Grundstück abgeschritten und dabei die offene Wintergartentür und daraufhin dann auch die Leiche entdeckt.
Als sie auf dem Revier in Wittmund ankamen, strahlte Klein-Hajo. Er war einen großen Schritt weitergekommen. Die Aufzeichnungen vom Nachmittag auf der Fensterscheibe hatte er ergänzt durch weitere Fakten: Jan Jannssen, 65 Jahre, verwitwet, eine Tochter, Direktor der Tourist-Immo-Invest-Bank. − Jojo de Vries ist weiterhin nicht aufzufinden, arbeitet bei dieser Tourist-Immo-Invest-Bank. Er besitzt ein Haus im Mittelweg, nicht vermietet! Name des Toten am Strand: Henry van Hook, 36 Jahre, ledig, vorbestraft.
Tomke und Carsten lasen und nickten anerkennend. „Saubere Arbeit, kann ich nur sagen. Wie hast du das denn so schnell erfahren?“, erkundigte sich Tomke.
Hajo wies auf den Computer, nahm einen dünnen Zeigestock zur Hand und ergänzte: „Das sind nur Stichpunkte, ich kann das Ganze noch ausführen. Also: Dieser Direktor Jannssen, unsere zweite Leiche, war ein hohes Tier in der Gegend hier. Er hat schon viele umstrittene Immobilienprojekte finanziert und durchgesetzt. Bekannt und berüchtigt ist, nein, war er als rücksichtsloser ‚Entmieter’. Wenn der ein Projekt durchsetzen wollte, ging er über Leichen, heißt es. Er soll sehr skrupellose Mitarbeiter und einen brutalen Helfershelfer für die Drecksarbeit gehabt haben. Jannssen war verwitwet; er hat eine Tochter, Bella Jannssen, 28 Jahre alt, nicht verheiratet und ebenfalls wohnhaft in Wilhelmshaven. Studiert wohl Kunstgeschichte. Unsere Leiche vom Strand, Henry van Hook, arbeitete bis vor einigen Jahren auf der Werft in Papenburg. Vorbestraft wegen schwerer Körperverletzung, Möchtegern-Bodyguard, Kampfsportler. Und jetzt kommt es: Sein letzter Arbeitsplatz war die Tourist-Immo-Invest-Bank. Dort arbeitete er als Facility Manager, neudeutsch für Hausmeister. Dass ich nicht lache! Ich glaube eher, er hat die Drecksarbeit für den sauberen Herrn Jannssen geleistet. Vielleicht war er ja der brutale Helfershelfer. Wir wissen jetzt zwar, wer er ist, aber die Meldung an die Presse ist trotzdem rausgegangen. Vielleicht erfahren wir ja so mehr über ihn. Und außerdem haben wir hier nun unseren Zusammenhang.“
Tomke unterbrach ihn: „Wie bist du auf ihn gekommen?“
„Dr. Manninga hat seine Identität über den Zahnstatus herausgefunden. Die Nachricht hatte ich im Computer, als ich hier ankam. Ich habe euch das alles auch noch ausgedruckt, Unterlagen liegen auf dem Schreibtisch. Aber es geht noch weiter. Ein Kollege hier aus dem Revier ist der Bruder von Jojo de Vries, und der hat mir von einem kleinen Haus in Carolinensiel erzählt, das diesem Jojo gehören soll. Er weiß nichts davon, dass sein Bruder vermisst wird und vermutet, dass er sich vor seiner nervigen Ehefrau vielleicht dorthin zurückgezogen haben könnte. Also, Zusammenhänge gibt es viele und ein weiterer ist“, er machte eine kurze Pause und genoss die Spannung im Raum, „dass sich die Herren Jannssen und Hoffmann, also der schwerreiche Vater dieser Heike Hoffmann-de Vries, kannten. Ich habe nämlich im Internet Bilder gefunden, auf denen sie gemeinsam zu sehen sind“, verkündete er stolz und schaute in die Runde.
Tomke war sprachlos. Plötzlich fiel ihr ein: „Carsten, wir haben die Pizza vergessen!“ Sie ging zum Telefon und rief beim „Hausitaliener“ an.
Carsten klopfte Klein-Hajo auf die Schulter. „Du hast wirklich gute Arbeit geleistet, und wir sind in kürzester Zeit ein großes Stück vorangekommen. Lasst uns doch gleich mal zu diesem Haus in Carolinensiel fahren und nachschauen, ob der de Vries dort ist.“
„Braucht ihr nicht. Ich hab schon zwei Kollegen hingeschickt. Sie wollten sich gleich melden.“
Wie auf Bestellung klingelte das Telefon, und er bekam die Rückmeldung, dass das Haus im Mittelweg dunkel und anscheinend keiner anwesend sei. Man habe geklingelt und geklopft. „Bleibt noch eine halbe Stunde dort, vielleicht kommt ja noch jemand“, wies er die Kollegen an und legte auf. „Nix, niemand da.“
„Wir werden morgen mal hinfahren. Zur Not brechen wir die Tür auf. Warum hat uns seine Frau denn nichts von diesem Haus erzählt? So richtig ernst scheint es ihr mit der Vermisstenmeldung wohl nicht zu sein. Warten wir noch ab bis morgen, dann sehen wir weiter.“
Tomke saß, vertieft in die Papiere und Fotos, die Hajo ihnen ausgedruckt hatte und reichte Blatt für Blatt an Carsten weiter. Nun waren sie alle drei auf dem gleichen Stand. Pietro hatte drei Pizzen gebracht und für die, wie er meinte, fleißigen Polizisten eine Flasche Vino rosso. Jeder von ihnen trank nur ein Glas; sie waren alle müde und wollten eigentlich nur noch ins Bett. „Wir machen morgen weiter“, bestimmte Tomke mit einem Blick auf die Uhr. Das hat heute keinen Zweck mehr. Morgen ist auch noch ein Tag.“
Tomke fuhr Richtung Carolinensiel, müde und doch in Gedanken immer noch bei dem Fall. Carsten war, wie so oft, auf dem Beifahrersitz eingeschlafen. Sie weckte ihn erst, als sie vor dem kleinen Haus vorfuhren, in dem Michaela, deren kleine Tochter Marie und nun auch Carsten zur Miete wohnten. Er stieg aus, warf einen Blick auf das Haus und brummte: „Jetzt schläft Marie sicher schon; da bekomme ich morgen früh wieder was zu hören.“
„Ich fahre morgen früh Oma zum Frisör und hole dich kurz nach acht Uhr ab. Grüß bitte Michaela und Marie von mir.“
Als Tomke bei ihren Lieben in der Bahnhofstraße ankam, lag das Haus im Dunkeln. Oma und Tant‘ Fienchen schliefen schon. Gut so, dachte sie, zum Reden war ihr jetzt nicht zumute.