Zuvor. Weiter auf der Suche nach Bella
Das ganze Wochenende hatte er nach Bella gesucht. Wo konnte sie nur sein? Sie hatte kein Auto; wie war sie also von der Klinik weggekommen? Vielleicht hatte sie sich wirklich in einen Lieferwagen geschlichen oder war bei jemandem mitgefahren. Und er musste an das verlorene Kind denken. Ach Bella, mach bloß keinen Mist. Fehlgeburt, hatten die Pfleger gesagt. Sie hatte sich so sehr ein Kind gewünscht, und wie gerne hätte er mit Bella ein Kind gehabt. Heike wollte das ja nie. War er schuld an dieser Fehlgeburt? Er verdrängte sein schlechtes Gewissen. Nein, der Alte war schuld, er hatte zu verantworten, was passiert war, alles. Er hatte sie sicher zu einer Abtreibung gezwungen und er, Jojo, sollte beseitigt werden, das war ihm jetzt klar.
Jojo tastete nach seinem Handy; zum Glück hatte er es Henry wieder wegnehmen können. Wenn Bella nur anrufen würde … Er selbst konnte niemanden anrufen, weder jemanden in der Bank noch Freunde, ihren Vater schon gar nicht. Wo sollte er nach Bella suchen? Zwischenzeitlich fuhr er in seine alte Kate, um sich ein paar Stunden Schlaf zu gönnen und eine Tasse Tee zu trinken. Er konnte weiterhin nur beobachten − Häuser, zu denen sie eventuell gehen würde, beobachten. Mehrmals hatte er stundenlang vor dem Haus von Bella gewartet − in der Hoffnung, dass sie kommen würde. Er wurde immer unruhiger. War sie vielleicht doch zu ihrem Vater gefahren? Er musste zur Villa, überlegte er, er musste es riskieren. Er startete den Wagen, den er Henry abgenommen hatte, und fuhr zum Anwesen seines Chefs. Sein eigenes Fahrzeug stand noch immer vor Bellas Haus, doch er wagte nicht, es zu benutzen. Henrys Wagen war sicherer, beruhigte er sich selbst; das Schwein schwamm weit draußen in der Nordsee.
Es war dunkel, als er vor der Villa ankam. Jojo wagte nicht auszusteigen, denn die Kamera, die an Bewegungsmelder gekoppelt war, würde ihn sofort erfassen. Er parkte den Wagen in sicherer Entfernung, schaltete den Motor ab, wartete im Dunkeln und schlief ein. Nach tagelangem Schlafentzug forderte der Körper sein Recht.
Jojo wusste nicht gleich, wo er war. Sein Rücken schmerzte, den Nacken konnte er kaum bewegen. Als er auf seine Uhr blickte, erschrak er. 11.45 Uhr. Mein Gott, er hatte hier fast zwölf Stunden geschlafen. Die Straße in dem noblen Villenviertel war kaum befahren, keiner hatte ihn bemerkt oder sich an ihm gestört. Mühsam richtete er sich in seinem Sitz auf und blickte zum Haus des Alten. Dort bewegte sich etwas. Eine sehr schlanke Person im dünnen Sommertrenchcoat und mit einem Schal um den Kopf verließ das Grundstück. Bella? Jojo war blitzschnell hellwach. War das Bella? Das musste sie gewesen sein. Er öffnete die Wagentüre, und wollte aus dem Fahrzeug springen, was jedoch nicht funktionierte, da er noch angeschnallt war. Hastig versuchte er den Gurt zu lösen, was ihm in der Hektik erst beim zweiten Versuch gelang. Als er das Fahrzeug verließ, war Bella weg. Bella? War das wirklich Bella gewesen?
Er rannte quer über die Straße, blickte den Fußweg entlang. Nichts, sie war weg. Sie konnte sich nicht in Luft aufgelöst haben, das war klar. Autos, hinter denen sie verschwunden sein konnte, parkten hier nicht. Wo also war sie? Hatte sie ihn entdeckt und war vor ihm geflohen? Das konnte nicht sein. Langsam ging Jojo die Grundstücksfront des Nachbarhauses ab. Hier gab es, im Gegensatz zu den anderen Villen, keine Gartenmauer, sondern eine dichte, sehr hohe Hecke, die den Blick in den Garten versperrte. Buchsbaum, Kirschlorbeer und andere Grüngehölze wechselten sich ab. Nach einigen Metern fand er eine Lücke in dieser Hecke und schlüpfte hindurch. Hierdurch könnte sie verschwunden sein, obwohl Jojo bezweifelte, dass seine unselbstständige, immer etwas ängstliche Bella den Mut aufbringen würde, sich auf dieses ungepflegte Grundstück zu wagen. Auf den ersten Blick war zu erkennen, dass die Villa auf dem riesigen Grundstück nicht bewohnt war. Das Mauerwerk verfiel, die Fenster waren teilweise mit Brettern vernagelt und der Garten verwilderte. Wo sollte er hier nach ihr suchen? Auf diesem riesigen Areal war das ein mühseliges Unterfangen.
Auch die Grenze zur Jannssenschen Nachbarvilla war begrünt. Eine mannshohe, völlig verwilderte Buchenhecke hatte sich hier breitgemacht, ließ aber an manchen Stellen den Blick auf das gepflegte Nachbaranwesen zu. Jojo zwängte sich durch das Grünzeug auf das Grundstück von Bellas Vater. Es war, als käme er in eine andere Welt. Nagelscherengepflegt nannte man das wohl. Wenn das eben Bella gewesen war, was wollte sie von ihrem Vater? Was hatte es zu bedeuten, dass Bella das Anwesen ihres Vaters zur Straße hin verlassen hatte, um es dann durch die Hecke des Nachbargrundstücks wieder zu betreten? War sie vielleicht vor ihm, Jojo, weggelaufen? War es überhaupt Bella gewesen? Die Gedanken drehten sich in seinem Kopf.
Ob er wohl da war, der alte Jannssen? Jetzt hatte er die Gelegenheit, sich dem Haus zu nähern, ohne von den Bewegungsmeldern an der Vorderfront erfasst zu werden. Ob es seitlich und hinten auch welche gab? Jojo wagte es. Nach mehr als 20 Metern hatte er das Haus erreicht. Seitlich gab es nur vergitterte Fenster, also versuchte er es auf der Rückseite des Hauses. Eine gigantische Gartenanlage im japanischen Stil, die einem Park glich, rückte ins Blickfeld. Direkt am Haus befanden sich eine Terrasse sowie ein Wintergarten, dessen Tür offen stand. Jojo näherte sich vorsichtig und überlegte, ob er es wagen konnte, das Haus zu betreten. Es war niemand zu sehen. Über die Terrasse, durch die offene Wintergartentür, vorsichtig rechts und links schauend, schlich er sich ins Haus. Beim Blick in den nächsten Raum zuckte er zusammen und sprang zur Seite. Am Schreibtisch saß der Alte. Hoffentlich hatte er ihn nicht gesehen.