Am nächsten Tag
Als der Wecker klingelte, schlug der Vorschlaghammer erneut zu. Tomke öffnete vorsichtig die Augen und zog sich sofort die Decke über den Kopf. Sie sortierte ihre Erinnerungen und ganz langsam wurde ihr klar, was am Vorabend passiert war. Oh Gott, sie hatte doch nicht? Vorsichtig drehte sie den Kopf zur Seite und stellte erleichtert fest, dass sie alleine im Bett lag. Wenigstens das, dachte sie und griff sich an den dröhnenden Kopf. Hatte sie wirklich so viel getrunken? Das war aber mal ein fetter Absturz gewesen, so etwas war ihr schon lange nicht mehr passiert. Mit einem Blick unter die Bettdecke stellte sie fest, dass sie ihr Schlafshirt trug. Sie erhob sich vorsichtig um zu prüfen, ob ihr noch immer schwindelig war. Es ging. Langsam setzte sie sich in ihrem Bett auf und lehnte sich an das Kopfteil. Wenigstens war ihr nicht schlecht. Mit einer oder zwei Kopfschmerztabletten müsste es gehen, wenn nur endlich das Dröhnen und Rauschen nachlassen würde.
Das Rauschen hörte plötzlich auf. Sie hörte eine Tür knarren und Schritte auf dem alten Dielenboden vor ihrem Zimmer. Mit einer Hand den Kopf haltend schlug sie mit der anderen die Bettdecke zurück und erhob sich stöhnend. Leise öffnete sie ihre Zimmertür und sah gerade noch das in ein Badetuch gewickelte Hinterteil von Klein-Hajo im Zimmer gegenüber verschwinden. Das träumte sie doch hoffentlich! Das war nicht wahr, oder? Schnell drückte Tomke die Tür wieder zu und lehnte sich entsetzt dagegen. Der hatte hier übernachtet? Ein erneuter Blick auf die unberührte Hälfte ihres Doppelbettes ließ sie aufatmen. Wenigstens hatte sie hier alleine geschlafen! Als ihr Blick auf den Wecker auf ihrem Nachttisch fiel, zuckte sie zusammen. Viertel nach sieben! Sie musste unter die Dusche, alles andere würde sie später klären.
Als sie 20 Minuten später nach unten zu Oma und Tant‘ Fienchen in die Küche kam, saß Hajo mit den beiden am Tisch, grinste Tomke an und zuckte mit den Schultern.
„Kind, wie kannst du nur“, wurde sie von Oma begrüßt.
„Oma, ich hab‘ nix gemacht“, verteidigte sie sich und hob zur Bekräftigung die Arme.
„Ja eben, das meine ich. Wie kannst du dem netten jungen Mann, der dich volltrunken nach Hause gebracht hat, zumuten, sich irgendwo ein Zimmer zu suchen? Zum Glück musste ich, als du kichernd an der Haustür gestanden hast, gerade zur Toilette, und wir haben dich gemeinsam nach oben verfrachtet.“
„Dann hast du mich ausgezogen und ins ...“
„Ja, natürlich, wer denn sonst? Und ich habe darauf bestanden, dass Herr Hajo im Gästezimmer übernachtet. Das ist doch wohl das Mindeste, wo er doch auch noch ein Kollege von dir ist und einer von …“ Sie winkte ab. „Ach, Kind, was du aber auch machst“, stöhnte Oma und schenkte ihr eine Tasse Kaffee ein. Das „Kind“ setzte sich an den Tisch und nahm einen kräftigen Schluck. Das angebotene Brot schlug sie aus. Klein-Hajo dagegen aß mit großem Appetit, als wäre nichts gewesen. Sie beobachtete ihn aus den Augenwinkeln und stellte fest, dass er sich hier wohl sehr heimisch fühlte. Tant‘ Fienchen saß auf der Küchenbank am Tisch, trank ihren Tee und schaute grimmig.
Als Tomke ihren Kaffee ausgetrunken hatte, drängte sie zum Aufbruch. Schließlich mussten sie beide noch zum Museumshafen laufen, wo ihre Autos standen. Tomke überlegte, ob sie wohl noch Restalkohol intus hatte und überhaupt fahren durfte. „Wo hast du dein Auto geparkt?“, fragte sie auf dem Weg.
„Auf dem Parkplatz am Siel.“
„Woher kennst du dich hier so gut aus? Ich denke, du bist aus Wittmund?“
„Ja, bin ich, aber ich war als Kind oft hier in Caro bei meinen Großeltern. Seit ich deren Haus geerbt habe, muss ich ab und zu nach dem Rechten schauen. Ich habe es nämlich vermietet.“
„Aha, und wo steht dieses Haus?“
„Nicht weit von deiner Oma entfernt, Richtung Ortsausgang.“
„Und du warst in den Ferien immer bei deinen Großeltern? Wieso kenne ich dich nicht?“
„Vielleicht weil du damals schon ein großes Mädchen warst und ich ein kleiner Junge?“
Tomke rechnete nach. Er war acht Jahre jünger als sie. Klar, dass sie einen so kleinen Kerl nicht wahrgenommen hatte. Als sie zu Oma und Tant‘ Fienchen kam, nachdem ihre Eltern bei einem Unfall ums Leben gekommen waren, war sie zwölf und er erst vier Jahre alt gewesen. Und als sie Abitur gemacht hatte, war er höchstens zehn Jahre alt. Danach war sie schon bald von hier fortgegangen.
Bei Tomkes Auto verabschiedeten sie sich und Hajo verstand den Blick von Tomke sofort. Er legte den Finger auf die Lippen und meinte nur: „Schön war’s trotzdem. Ich würde das so oder anders gerne wiederholen.“ Dann drehte er sich um und überquerte die Straße Richtung Parkplatz.
Als Tomke bei Carsten vorfuhr, wartete er noch nicht auf der Straße. Sie stieg aus, ließ den Autoschlüssel stecken, ging um das Fahrzeug und setzte sich auf den Beifahrersitz. Nach ein paar Minuten kam Carsten, setzte sich auf den Fahrersitz, schnüffelte und meinte lakonisch: „Das ist wohl auch besser so. Kann es sein, dass dein Restalkohol für zwei Promillesünder reicht?“ Tomke verdrehte die Augen und schwieg.
„Schönen Abend gehabt? Aber in Wittmund zum Bier mit Klein-Hajo warst du nicht, oder? Übrigens, im Handschuhfach findest du Pfefferminz.“ Tomke schüttelte nur den Kopf und öffnete die Klappe des Faches. „Na, das muss ja ein heftiger Absturz gewesen sein, so wie das hier riecht. Und wenn ich Dich ansehe ...“
„Riecht man das wirklich noch? Ich hab doch geduscht und sogar zweimal die Zähne geputzt.“ Tomke schüttelte sich und griff nach den Pfefferminzbonbons. Dabei fielen ihr die Tüten mit den Fruchtgummis in die Hand.
„Was ist denn das?“, fragte Carsten, während er um den Kreisel in Richtung Wittmund fuhr, und deutet auf die Tüten im Handschuhfach.
„Die habe ich gestern noch besorgt. Wir wollen Hajo doch einen Streich spielen, obwohl“, sie schob die Tüte wieder zurück, „vielleicht ist das auch albern.“
„Warum? Was hattest du denn vor?“
Als sie ihm von den Chili-Gummis erzählte, beschlossen sie, es doch durchzuziehen. Carstens Fragen nach dem gestrigen Abend ließ Tomke unbeantwortet.
Im Büro saßen Klein-Hajo und sein junger Helfer aus dem Revier schon zusammen und brüteten über Akten, die noch vom Vortag übriggeblieben waren.
„Ach, deshalb ,wir‘“, meinte Carsten und deutete auf den jungen Mann am Schreibtisch.
„Bitte?“ Hajo hob fragend den Kopf.
„Gestern haben wir uns gewundert, warum du am Telefon von ,wir‘ gesprochen hast“, erklärte er.
„Ach so, ja, das ist Ingo Fischer. Der Revierleiter war so freundlich, ihn uns für ein paar Tage zu überlassen, ihr seht ja ...“ Er deutete auf den Aktenberg auf dem Schreibtisch.
„Meine Rede“, meinte Tomke, ließ sich schwer auf ihren Schreibtischstuhl fallen und stützte den Kopf in die Hände, er brummte noch immer.
„Soll ich aus dem Lazarett einen Kaffee holen?“, fragte Klein-Hajo spöttisch in die Runde.
Tomke hob den Arm und stöhnte: „Gute Idee.“ Dann aber sprang sie von ihrem Stuhl auf und meinte: „Ich mach ihn“, was bei den Kollegen für Verwunderung sorgte. Ihr war trotz des brummenden Schädels eingefallen, dass das eine gute Gelegenheit war, Klein-Hajo die Fruchtgummis unterzujubeln. Der Übermut in ihr war stärker als der Kater. In der Kaffeeküche des Reviers fand sie eine Schale, in die sie eine Mischung der beiden Sorten füllte. Die Kanne mit dem frisch gebrühten Kaffee in der einen, die Glasschale in der anderen Hand kam sie zurück ins Büro. „Einer der Herren darf dann noch die Tassen holen“, unterbrach sie das Gespräch der Kollegen. „Ich geh schon“, bot sich Ingo Fischer an.
Carsten telefonierte inzwischen mit dem Sekretariat der Jade-Hochschule. Dort hatte er tatsächlich jemanden gefunden, der etwas über Bella Jannssen sagen konnte; viel war es allerdings nicht. Gerade als die Tassen, Milch und Zucker für den Kaffee gebracht wurden, klingelte Tomkes Handy.
„Ja, Tomke hier“, meldete sie sich in der ihr eigenen Art, aber heute mit gedämpfter Stimme und lauschte auf das Gespräch. Nach kurzer Zeit meinte sie knapp: „Wir kommen, lasst alles dort so liegen wie es ist, benachrichtigt die Spusi und vor allem bleibt vor Ort und passt auf, dass mir keiner an die Sachen geht.“ Sie drückte das Gespräch weg, strich mit dem Display über ihren Oberschenkel und steckte das Handy weg.
„Carsten, wir müssen los, der Kaffee muss warten.“
„Wie, gibt es etwa schon wieder eine Leiche?“, stöhnte Carsten.
„Nein. Ein aufmerksamer Mitarbeiter des Bauhofes hat während seiner … Ach was, komm, ich erkläre es dir unterwegs.“ Und zu Klein-Hajo gewandt: „Du bleibst bitte an den Akten und denke bitte auch an deinen Freund mit dem Boot im Museumshafen, du wolltest ihn nach dem Strömungsprofil fragen. Wir müssen wissen, ob und wie der Tote von der Wasserseite her an Land gekommen ist. Also ran!“
Tomke griff nach dem Autoschlüssel, doch Carsten war schneller. Er drohte ihr mit dem Zeigefinger und meinte nur: „Nix da, du hast noch genug Restalkohol.“
Sie zog eine Grimasse und trabte hinter ihm her. In der Bürotür drehte Tomke sich nochmals um und deutete auf die Glasschale mit den Süßigkeiten auf dem Schreibtisch. „Hajo, wir haben dir etwas mitgebracht, damit dir die Büroarbeit nicht zu langweilig wird. Lass es dir schmecken.“
„Danke, sehr nett, aber ...“ Doch Carsten und Tomke waren schon verschwunden. „Nimm du mal, nach dieser Nacht ist mir noch nicht nach Süßem, ich brauche zuerst viel schwarzen Kaffee und eine deftige Grundlage.“ Hajo goss sich von dem frisch gebrühten Kaffee ein und schob Ingo die Glasschale rüber. Der griff erfreut zu.
Auf dem Weg zum Fahrzeug erklärte Tomke ihrem Kollegen, was es mit dem Anruf auf sich hatte. „Ich glaube, Kommissar Zufall kommt mal wieder ins Spiel. Ein aufmerksamer Mitarbeiter des Bauhofes hat während einer Pinkelpause nahe der Goldenen Linie in einem Gebüsch einen Bootstrailer ohne Nummernschild entdeckt. Darauf fand er dann noch zerrissene Männerkleider und eine weiße Wolldecke. Das war ihm alles sehr suspekt, darum hat er die Polizei informiert.“
„Vermutest du da einen Zusammenhang mit unserem Toten vom Strand? Das kann doch alles reiner Zufall sein.“
„Mein Bauchgefühl sagt mir da etwas ganz anderes. Reiner Zufall? Nein, eher Kommissar Zufall, vermute ich. Glaube mir. Trotz Restalkohol: Auf mein Bauchgefühl kann ich mich verlassen.“
„Hast du die genaue Adresse?“
„Nein, nur so ungefähr. Zur Goldenen Linie jedenfalls. Fahr einfach mal durch Clinsiel durch und hinter der Tankstelle links rein. Tomke stutzte kurz und hatte das Gefühl, ein Déjà-vu zu erleben. Hatte sie eine solche Situation nicht so oder ähnlich vor einem Jahr erlebt? Mit diesen Worten waren sie damals durch Carolinensiel gefahren, zu der toten Frau im Siel. Nur dass Carsten damals Restalkohol im Blut gehabt hatte. Dass sie daran jetzt denken musste …
Sie bogen am ersten und auch am zweiten Kreisel nach rechts ab in die Bahnhofstraße und Tomke erkannte im Vorbeifahren, dass Tant‘ Fienchen an der Straße stand und sich mit ihrer Nachbarin Mariechen unterhielt. Direkt nach der Tankstelle beugte sie sich vor und rief: „Stopp, hier musst du links rein!“ Doch Carsten hatte schon den Blinker gesetzt und warf ihr einen genervten Blick zu. „Ich weiß, wo die Goldene Linie ist, schließlich lebe ich schon fast ein Jahr hier.“
„’Tschuldigung“, antwortete sie kleinlaut.
Sie fuhren an den überdimensionalen Silos vorbei, die nach Tomkes Dafürhalten nicht in die Landschaft passten, und über ein Stück freies Land, bis sie bei einer seitlichen Ausbuchtung zwei Fahrzeuge stehen sahen, ein orangefarbener Pritschenwagen des Bauhofes und das Fahrzeug der Kollegen. Als sie ausstiegen, deutete der Kollege auf das Gebüsch mit dem Wäldchen dahinter und winkte ihnen, ihm zu folgen. Tatsächlich stand in dem Gebüsch versteckt ein alter Bootstrailer.
„Ein Nummernschild wäre auch zu schön gewesen“, murmelte Carsten.
„Also glaubst du auch an einen Zusammenhang?“
„Nein, aber mit Nummernschild hätten wir die Angelegenheit schneller klären können.“ Er deutete auf das alte Teil: „Soll ich dir sagen, was ich denke?“
„Kann ich dich davon abhalten?“
„Nein. Ich glaube, da wollte einer seinen Schrott loswerden und hat gleichzeitig noch ein paar alte Klamotten dazu gepackt“, meinte er lakonisch.
„Nee, lass mal. Ich glaube, die Spusi macht da einen Fund. Irgendwie bringt uns das weiter, glaube mir.“ Sie klopfte sich auf die Brust.
Sie wandte sich an den Mitarbeiter des Bauhofes und meinte: „Das haben Sie gut gemacht. Vielen Dank, dass Sie uns informiert haben. Wofür eine schwache Blase so alles gut ist …“
Der Arbeiter winkte ab und meinte nur: „Kann ik nu weer los? De Arbeit maakt sük nich van alleen.“
„Jo, wenn Sie meinem netten Kollegen hier noch Ihren Namen und ihre Anschrift geben, gerne.“
Carsten machte sich die entsprechenden Notizen, Tomke zog sich Gummihandschuhe an und begann, die abgelegten Sachen zu inspizieren. Der Bootstrailer hatte wirklich schon bessere Tage gesehen. Er stand allerdings erst seit einigen Tagen hier, denn das Unkraut darunter war zerdrückt und noch nicht wieder hoch gewachsen. Das Bündel mit den Kleidungsstücken war achtlos daraufgeworfen worden. Mit spitzen Fingern zog Tomke ein Kleidungsstück hervor. Es war ein schwarzes Shirt. Sie schaute in den Kragen und konnte erkennen, dass es die Größe 3XL hatte. „Passt“, murmelte sie. Vorsichtig zog sie das zweite Kleidungsstück hervor, einen Blouson, ebenfalls in 3XL. „Passt auch.“
„Carsten, ich gehe jede Wette ein: Diese Klamotten gehörten unserem toten Henry. Und mit diesem Hänger ist ein Boot transportiert und dann irgendwo zu Wasser gelassen worden. Klein-Hajo muss sich dringend um das Strömungsprofil kümmern. Ich bin mir sicher, dass das Boot hier an der Küste ins Wasser gebracht wurde.“
„Tomke, das kann doch überall passiert sein“, wehrte Carsten ab.
„Unlogisch, vollkommen unlogisch. Wieso sollte der Täter dann den Aufleger hier abstellen? Der fährt doch nicht unendlich weit durch die Gegend, um das Ding loszuwerden. Nein.“ Sie schüttelte den Kopf und presste die Lippen zusammen. „Wenn ich, zum Beispiel vorne in Harlesiel, heimlich ein Boot ins Wasser lasse und belastende Gegenstände so schnell wie möglich loswerden will, suche ich mir das nächste unbewohnte Gebiet. Das ist entweder rechts der Schwerinsgroden oder links über die Brücke am Schöpfwerk vorbei die Gegend Richtung Goldene Linie − also genau hier.“
Tomke war in ihrem Element und niemand hätte sie in ihrem Gedankengang stoppen können. Carsten kannte das und versuchte es deshalb erst gar nicht.
„Genau“, sprach sie weiter, „der Täter ist vom Schöpfwerk kommend in die Deichstraße abgebogen, das Stück am Deich entlang und nach rechts ab hierher gefahren. Hat den Aufleger abgekuppelt und in diesem Gebüsch versteckt. Die Klamotten gleich mit dazu. Du darfst mich Tante Waltraud nennen, wenn ich falschliege“, endete sie und blinzelte ihn triumphierend an.
„Wieso ausgerechnet Waltraud?“
„Weil ich eine Tante hatte, die Waltraud hieß, und das war eine Zimtzicke. Egal, wenn dir der Name nicht schlimm genug erscheint, darfst du dir einen anderen aussuchen. Aber gib dir keine Mühe, denn ich habe sowieso recht.“ Sprach‘s und setzte sich in den Wagen. Carsten schüttelte den Kopf. Sie warteten noch, bis die Kollegen von der Spurensicherung aus Wilhelmshaven eintrafen, erklärten kurz die Zusammenhänge und ließen die Fachleute ihre Arbeit tun.
Als sie losfuhren, stöhnte Tomke: „Ich brauche jetzt einen Kaffee, sonst garantiere ich für nichts.“
„Bekommst du, bekommst du. Ich denke, den hast du dir verdient, nachdem du dein alkoholisiertes Hirn so arg strapaziert hast. Ich lade dich zu einem Cappuccino ein.“
„Oh ja, wo?“
„Bei uns zu Hause. Wir haben uns einen Kaffeeautomaten geleistet, mit allen Schnacken.“
„Mit was?“
„Mit allen ..., ach, das ist so ein Ausdruck aus der alten Heimat. Mit allem Drum und Dran eben. Mit Milchaufschäumer, Bohnenmahlwerk, du wirst schon sehen. Und Michaela freut sich sicher. Sie hat heute frei und ist zu Hause.“
„Na, denn man to, ich freue mich auch.“
„Dann kannst du mir auch erzählen, wo und mit wem du gestern Nacht so versackt bist.“
„Von wegen, das könnte dir so passen. Nix da!“
Carsten parkte das Auto vor dem Haus, schloss die Haustür auf und rief die Treppe hoch: „Michaela, ich bin es und ich habe Tante Waltraud mitgebracht!“ Tomke versetzte ihm einen Hieb in die Seite.
Michaela kam ihnen entgegen und fragte: „Welche Tante …? Ach, Mensch, das ist ja Tomke. Du immer mit deinen Späßen.“
„Wir haben eine Wette laufen, und wenn ich die gewinne …“
„Vergiss es“, unterbrach ihn Tomke. „Diese Wette habe ich schon gewonnen, glaube mir. So. Und wo gibt es denn nun den tollen Cappuccino?“
„Ach so, ihr wollt hier Pause machen. Wie finde ich das denn?“, scherzte Michaela. „Solltet ihr nicht Mörder fangen?“
„Michaela, sei bitte milde, Tomke ist noch nicht so ganz fit, sie hat eine anstrengende Nacht hinter sich“, grinste Carsten. „Gönnen wir ihr eine kleine Pause. Ich habe so sehr von unserem neuen Kaffeeautomaten geschwärmt, deshalb machen wir unsere Kaffeepause heute hier.“
„Gut, ihr zwei, dann werfe ich das gute Stück gleich mal an. Kommt mit in die Küche und setzt euch an den Küchentisch, da ist es am gemütlichsten. Tomke, darf ich vorstellen?“ Sie deutete auf die große silberne Maschine. „Das ist Swantje“, meinte sie und musste sich das Lachen verkneifen.
„Swantje? Wieso heißt eure Kaffeemaschine Swantje?“
„Frag mich nicht, das war Maries Idee. Sie fand, eine solch schöne Maschine müsste einen Namen haben und da könnte man mit Swantje ja schon mal üben, denn sie wünscht sich dringend eine Schwester, die dann Swantje heißen soll. Tut mir leid, das hat sie beschlossen“, meinte Michaela zu Carsten. „Aber keine Angst, wenn die Schwester dann da ist, wird die Maschine umgetauft, auch das hat sie schon beschlossen“, erzählte sie weiter und musste laut lachen. „Dieses Kind hat Fantasie, sage ich euch.“
„Ja, wie, ist denn schon …?“ Tomke deutete auf Michaelas Bauch.
„Ach was, wo denkst du hin. Aber wer weiß, was kommt. Und wenn Marie einmal etwas beschließt, kann Carsten ihr nichts, aber auch gar nichts abschlagen. Ich bin hier gewaltig in der Minderheit“, seufzte sie mit einem bekümmerten Augenaufschlag und schaltete den Kaffeeautomaten an.
„Von wegen du! Ich bin doch hier in der Einzahl. Was soll ich denn gegen euch ausrichten?“, tat Carsten bekümmert.
Michaela winkte ab. Sie hantierte mit Tassen, füllte Kaffeebohnen ein und holte die Milch aus dem Kühlschrank. Als sie sich wieder umwandte, waren Tomke und Carsten in eine Diskussion über ihr weiteres Vorgehen vertieft. Tomke beharrte darauf, dass man dringend dieses Strömungsprofil benötigte, sie wollte unbedingt die Möglichkeit beweisen, dass ein Boot mit der Leiche von Henry van Hook in Harlesiel ins Wasser gelassen wurde.
Michaela kümmerte sich weiter um den Cappuccino, schnitt für jeden ein Stück Rosinenstuten ab und brachte alles auf den Tisch. „So, nun ist aber mal Schluss mit Ermitteln und Diskutieren, genießt Kaffee und Rosinenbrot. Ich will von euren Mördern nichts hören. Was mich viel mehr interessiert, Tomke: Ich höre, du hast eine aufregende Nacht hinter dir?“, meinte sie augenzwinkernd.
„Aufregend? Von wegen. Aufgeregt habe ich mich erst heute Morgen, als ich merkte, welchen Brummschädel ich mir da eingefangen habe. Aber so langsam geht es wieder.“
„War er denn nett?“
„Wer? Der Brummschädel?“
„Nein, aber du warst doch sicher nicht alleine.“
„Wieso kommt ihr nur auf die Idee, dass ich mit einem Mann zusammen war? Man kann zum Beispiel auch mit einer Freundin versacken oder alleine!“
„Ich würde es dir jedenfalls wünschen − das mit dem Mann, meine ich“, entgegnete Michaela und stand auf, um die Zuckerdose zu holen.
„Lass mal, den brauche ich nicht. Der Cappuccino schmeckt wirklich fantastisch. War das Teil teuer?“ Sie deutete auf den Kaffeeautomaten.
„Geht so. Wir haben zusammengelegt, aber es hat sich gelohnt, denke ich.“
„Auf jeden Fall“, erwiderte Tomke und hielt Michaela ihre leere Tasse hin. „Einer geht noch, oder, Carsten?“
„Immer. Für mich auch bitte, Michaela.“
Sie diskutierten noch ein wenig über die Maschine, über Marie und ihre Fantasien und über den Gedanken an ein Baby. Michaela wollte sich noch nicht festlegen, wobei sie hervorhob, dass ihre biologische Uhr dann aber doch irgendwann ablaufen würde. Tomke stand auf, sie wollte das Thema beenden. Michaela warf Carsten einen Blick zu, doch er zuckte nur mit den Schultern. Sie gingen zusammen durch das Treppenhaus nach unten und Tomke überlegte, dass die kleine Dachwohnung für die drei sicher langsam zu klein werden würde. Und wenn dann vielleicht noch ein Baby käme?
Michaela küsste Carsten zum Abschied und umarmte Tomke herzlich. „Komm doch bald mal wieder, ich würde mich sehr freuen. Vielleicht treffen wir uns auch einmal zu einem Mädchenabend?“
„Gute Idee, das machen wir! Ich freue mich.“
Auf dem Weg zurück nach Wittmund nahm Tomke ihr Handy und rief bei Klein-Hajo an: „Hast du etwas über das Strömungsprofil erfahren?“
„Ja, aber das erzähle ich dir besser hier vor Ort, am Telefon ist das zu langwierig. Seid ihr auf dem Weg? Schöne Grüße von Ingo übrigens.“
„Wir sind in zehn Minuten da, dann müssen wir alle Fakten durchgehen, dann möchte ich etwas über das Strömungsprofil hören, und ich will wissen, wer weshalb welches Motiv hat. Bereite schon mal alles vor, bitte. Wir müssen so langsam in die Gänge kommen. Die Ereignisse überschlagen sich, und wir kommen nicht nach“, beklagte sich Tomke. „Der Chef wird sicher auch noch etwas hören wollen, der wird mir heute garantiert noch auf den Füßen stehen.“ Was das mit den Grüßen von Ingo auf sich hatte, verstand sie nicht und ging deshalb auch nicht darauf ein.
„Geht es dir besser?“, wollte Hajo noch wissen. Doch Tomke drückte das Gespräch weg, ohne seine Frage zu beantworten.
„Warum bist du so muffelig zu Hajo? Er macht doch einen guten Job.“
„Das weiß ich, aber er nimmt sich manchmal zu viel heraus.“
„Nun, er ist verliebt in dich. Und du? Dass es zwischen euch knistert, ist ja nicht zu übersehen.“
„Quatsch, das meinst du nur.“
Tomke drehte den Kopf zur Seite und blickte aus dem Fenster. Das Gespräch war beendet. Tomke wollte einfach nicht darüber reden. Vielleicht wollte sie es auch nicht wahrhaben. Weil nicht sein konnte, was nicht sein durfte. Und warum sollten sie nicht dürfen? Aber wollte sie das? Nochmal mit einem Kollegen? Und dann auch noch mit einem jüngeren? Einem so viel jüngeren? Was, wenn er auch ein Kind wollte? Mit ihr ging das nicht, selbst wenn sie wollte. Sie sprachen kein Wort mehr, bis sie auf dem Revier in Wittmund eintrafen.
Als sie das Büro betraten, warf Ingo Fischer ihnen einen bösen Blick zu und Klein-Hajo grinste. Was war hier los?
Hajo sah ihren fragenden Blick und meinte nur: „Danke für die Fruchtgummis. Sie waren wohl für mich bestimmt, aber es hat den Falschen getroffen.“ Er deutete auf Ingo, der noch immer grimmig in die Runde schaute.
„Oh, Entschuldigung, war‘s schlimm? Das war so nicht geplant. Wir wollten eigentlich Klein-Hajo wegen seines vorlauten Mundwerks treffen. Da müssen wir uns wohl eine Wiedergutmachung ausdenken und für Hajo einen neue kleine Bösartigkeit. Keine Sorge, mein Lieber, so kommst du uns nicht davon. Aber nun an die Arbeit. Habt ihr etwas Neues für uns?“
„Sagt ihr doch bitte erst einmal, was euer Ausflug gebracht hat. Waren das nun Gegenstände, die zu unserem Fall passen könnten?“
„Ich denke, ja, aber der Kollege Schmied ist da eher skeptisch. Wir haben eine Wette laufen, die er aber hundertprozentig verliert.“
„Echt? wie denn?“
„Später. Ich will hier jetzt erst einmal weiterkommen. Sag du uns lieber, was dein Freund aus dem Sielhafen erzählt hat.“
„Ja, Herbert. Gurken-Herbert, meine ich. Das war gar nicht so einfach, denn er wollte sich zuerst nicht festlegen. Ich habe aber dann doch so einiges aus ihm herauskitzeln können. Irgendwann hat er dann eine Theorie entwickelt, die sehr plausibel ist.“
„Schieß schon los.“ Tomke wurde ungeduldig. Carsten hatte sich neben Ingo Fischer gesetzt und in die Glasschale mit den Fruchtgummis gegriffen, zum Glück jedoch keine Niete gezogen.
„Also, Folgendes habe ich erfahren, und theoretisch könnte es so gewesen sein: Wenn ein Boot im Außenhafen von Harlesiel ins Wasser gesetzt wird, kann es durch das ablaufende Wasser entlang des Leitdammes nach draußen gezogen werden. Eigentlich treibt es dann Richtung Osten weg, weil der Leitdamm eine leichte Kurve nach Osten macht. Haben wir aber Ostwind, besteht die Möglichkeit, dass es um den Steindamm herum in Richtung Westen und ostfriesische Küste getrieben wird. Irgendwann fällt es dann mit Sicherheit trocken, weil die Ebbe kommt. Mit auflaufendem Wasser könnte das Boot gekentert und die Leiche an den Strand getrieben worden sein. Schließlich war sie in einen Plastiksack verpackt. Das ist zwar alles ,hätte‘, ,wenn‘ und ,aber‘, jedoch ganz sicher nicht außer Acht zu lassen. Eine andere Möglichkeit wäre natürlich, dass das Boot nicht gekentert, sondern leckgeschlagen und gesunken ist und dass die Leiche aus diesem Grund an den Strand kam. Wie auch immer, Herbert hält das inzwischen auch für möglich. Wir haben uns das auf seiner Seekarte angesehen und sagen: Warum nicht?“
„Plausibel, durchaus plausibel. Carsten, was sagst du?“, wandte sich Tomke an ihren Kollegen.
„Nichts sage ich dazu, ich bin ein Trockendockler und habe keine Ahnung. Wenn der Fachmann allerdings meint …“
„Ein Trockendockler! Der Ausdruck ist gut, den muss ich mir merken“, kicherte Tomke. „Ich schicke die Spusi an den Anleger am Außenhafen, die sollen dort jeden Millimeter nach Spuren absuchen.“
„Was ist denn mit dem Strand? Könnte man das Boot nicht auch über den Strand ins Wasser gebracht haben?“, wollte Carsten wissen, aber Hajo unterbrach ihn.
„Nein, das nicht, Herbert hält das für unwahrscheinlich.“
„Ich auch. Außerdem hätte man im Sand irgendwo Reifenspuren vom Trailer sehen müssen. Da war nichts, ich habe das überprüft. Also dann: auf ein Neues. Die Kollegen werden sich freuen.“ Sie griff zu ihrem Handy und wählte die Nummer der Spurensicherung in Wilhelmshaven. „Moin, Tomke hier, ihr müsst nochmal raus nach Caro kommen, wir haben da etwas für euch.“ Sie lauschte kurz auf die Antwort und meinte: „Stimmt, das passt, dann können sie direkt weiterfahren. Warte, ich erkläre dir, wohin.“ Sie gab kurz noch ein paar Anweisungen und drückte das Gespräch weg. „Die Kollegen sind noch an der Goldenen Linie und fahren dann gleich weiter zum Außenhafen“, erklärte sie.
Die Männer hatten sich in ein Gespräch vertieft. Tomke drängte sich dazwischen. „Darf ich mitspielen? Was gibt es hier?“
„Jede Menge Gründe, diesen Direktor Jannssen und auch seinen Mitarbeiter Bernd Köhler zu ermorden, würde ich sagen“, erklärte Ingo Fischer.
„Ach so, ja, Ingo. Von Hajo weiß ich, dass du ihn in den letzten Tagen sehr gut unterstützt hast. Dein Chef da draußen allerdings besteht darauf, dass du ab morgen wieder regulären Dienst in deiner Abteilung machst. Tut mir leid, er hat es mir gesagt, als wir eben angekommen sind. Aber für heute können wir noch auf dich zählen. Also, dann legt mal los. Was habt ihr herausgefunden?“
„Viel. Zu viel. So viel, dass einem schlecht werden könnte. Das ist wirklich eine rücksichtslose Bande, diese Leute von der Tourist-Immo-Invest-Bank. Ein ganz dicker Hund ist hier in der Nähe passiert. Ich hatte es gestern Abend schon angedeutet. Aber auch hier kann man ihnen nicht wirklich etwas nachweisen. Es sollte ein riesiges, ein überdimensionales Feriengebiet entstehen. Über 90 Prozent des Geländes gehört der Bank bereits, aber zwei Bauern, Brüder übrigens, wollten ihre Äcker und Grundstücke nicht verkaufen. Man hat wohl lange mit ihnen verhandelt, immer neue Angebote gemacht, aber sie haben abgelehnt. Irgendwann ist dann der Hof des einen abgebrannt“, endete Ingo Fischer.
„Ich will die zwei hier haben, sofort!“ Tomke schnellte hoch.
„Wir sind schon dran, aber das ist nicht einfach: Die beiden sind wie vom Erdboden verschluckt“, schaltete sich Klein-Hajo ein. „Aber das sind nicht die einzigen, die ein Motiv haben. Wir müssen auch die Kinder des Mannes suchen, der seine Frau getötet und dann Selbstmord begangen hat, weil man ihm seine Villa abgeluchst hatte. Auch sie haben ein Motiv. Da bin ich jetzt dran, aber es kann dauern. In beiden Fällen sind die Leute verschwunden. Dann gab es vor einiger Zeit eine Leiche nach einem Brand in einem Haus, dessen Mieter auf die Straße gesetzt werden sollten. Die Frau des Mannes lebt allerdings inzwischen bei ihrer Tochter und ihren fünf Enkelkindern in Bayern. Ich bezweifle sehr, dass sie hier in den Norden kommt, um einen Rachefeldzug zu starten. Deshalb konzentriere ich mich jetzt auf die beiden ersten Fälle.“
„Gute Arbeit, ihr zwei. Danke, macht weiter so und bleibt da dran, auch an der bayerischen Großmutter. Man weiß ja nie. Versucht bitte außerdem auch etwas über die Sekretärin von Jan Jannssen, Inka Petersen, zu erfahren. Sie ist mir nicht geheuer − mein Bauchgefühl, wisst ihr …?“
Tomke wurde unterbrochen, denn ein Kollege von der Telefonzentrale kam in das Büro und reichte Carsten einen Zettel. Der warf einen Blick darauf und meinte: „Kannst du uns das erklären? Wer hat angerufen?“ Tomke schaute ihn fragend an.
Der Kollege zuckte die Schultern und grummelte nur: „Anonym, hat keinen Namen genannt, und eine Telefonnummer war auch nicht zu erkennen. Hat wohl von einem Prepaid-Handy aus angerufen. Steht alles da drauf.“ Er deutete auf den Zettel und wollte das Büro verlassen.
„Stopp! Mann oder Frau? Das wirst du doch wohl erkannt haben, oder?“, rief Tomke ihm nach.
„Een Wief was dat“, brummte er und zog die Tür hinter sich zu.
„Was war denn das für einer?“, erkundigte sich Carsten.
„Ach, das ist Hermann Becker. Der ist immer so, darf man sich nichts draus machen“, versuchte Ingo Fischer zu erklären.
Carsten reichte den Zettel an Tomke weiter und sie las laut vor: „Heike Hoffmann-de Vries hat ein Verhältnis mit Bernd Köhler. Die sollten Sie mal unter die Lupe nehmen …“
Diese Nachricht schlug im ersten Moment wie eine Bombe ein, doch die Euphorie legte sich schnell, denn man war sich einig, dass Heike Hoffmann-de Vries wohl kaum in der Lage war, ihren Liebhaber an einem Strick hinter die Stubentür des Hauses ihres Mannes zu hängen. Carsten und Tomke diskutierten lautstark, während Klein-Hajo zum Telefon griff und eine Nummer wählte.
„Das wird ja immer verrückter!“, rief Tomke. „Und mit wem telefonierst du denn jetzt?“
Hajo winkte ab und beendete das Gespräch. „Möwenweg, Carolinensiel“, rief er seinen Kollegen zu.
„Was ist dort?“, fragte Carsten.
„Eventuell das Liebesnest der beiden. Die werden ihre Schäferstündchen ja wohl nicht im Hause Hoffmann-de Vries abgehalten haben, dachte ich mir. Deshalb habe ich beim Einwohnermeldeamt nachgefragt, ob Köhler noch eine andere Wohnung als die in Wilhelmshaven hat. Und was soll ich sagen? Er besitzt einen Ferienwohnung in Caro!“
Carsten stand auf, zog einen imaginären Hut vor Hajo und meinte: „Ab sofort lassen wir das ,Klein‘ vor Hajo weg, damit das klar ist!“
Tomke war sprachlos. Als sie sich wieder gefangen hatte, winkte sie Carsten und meinte: „Möwenweg, da fahren wir jetzt hin und anschließend zu Heike Hoffmann-de Vries. Na, der werde ich etwas erzählen. Tut so, als kenne sie Bernd Köhler nur ganz beiläufig als Kollegen ihres Mannes. Das wird ja immer schöner. Na, komm schon, Carsten“.
„Nein.“
„Wie, nein?“
„Nimm Hajo mit, der hat es verdient, das Büro mal zu verlassen, und außerdem geht mir dein Kommandoton fürchterlich auf die Nerven. Ich bleibe hier und übernehme vorübergehend Hajos Job. Lass deine Übersprunghandlungen heute mal an Hajo aus. Anschließend könnt ihr dann ja auf ein Bier gehen.“
„Carsten …!“, brauste Tomke auf, aber der hatte sich schon den Akten zugewandt. Sie gab auf und verließ mit Hajo das Büro.
„Willst du mir nicht sagen, was ich alles zu tun habe?“, rief ihr Carsten noch nach.
Blödmann, dachte sie. Als sich die Tür hinter den beiden geschlossen hatte, erklärte Carsten dem Kollegen Fischer, dass Tomke das manchmal brauchte, um wieder in die Spur zu kommen; er solle sich nichts dabei denken. Im Übrigen entschuldige er sich nochmals für die „scharfen Gummis“, die seien nun wirklich nicht für ihn gedacht gewesen. Eigentlich konnte Ingo Fischer inzwischen über die Aktion schon wieder lachen. „Mein Gaumen hat sich beruhigt.“ Das war irgendwie eine tolle Truppe, die von Mord und Totschlag, fand er.
Tomke war sauer, am meisten allerdings auf sich selbst. Carsten hatte ja recht. Sie war manchmal einfach unausstehlich. Aber dieser Fall war so verwirrend und kein Ermittlungserfolg in Sicht. Drei tote Männer mit, aber auch gleichzeitig ohne Zusammenhang, dem Augenschein nach wenigstens. Auf dem Parkplatz der Polizeistation wollte Tomke das Fahrzeug aufschließen, aber Hajo nahm ihr den Schlüssel ab.
„Spinnst du?“, brauste Tomke auf.
„Du hast Restalkohol“, erklärte Hajo trocken.
„Du auch.“ Tomke nahm ihm den Schlüssel wieder ab. Die beiden schauten sich an und fingen laut an zu lachen. Die Situation war einfach zu albern.
„Okay, fahr du und ich denke. Schließlich kennst du dich in Clinsiel besser aus.“ Er schaute auf seine Armbanduhr. „Unser Restalkohol dürfte langsam verflogen sein.“
„Denke ich auch. Außerdem habe ich eine Idee“, grinste sie verschmitzt. „Komm, steig ein.“
Sie fuhren fast schweigend den Weg zurück nach Carolinensiel. Tomke war innerlich sehr aufgewühlt. Warum fühlte sie sich nur wie ein nervöser Teenager? Sie musste sich auf dieser fast geraden Strecke sehr konzentrieren, um nicht wieder zu schnell zu fahren. Hier hatte sie schon den einen oder anderen Strafzettel bekommen. Hajo genoss die Fahrt, so dicht und alleine neben der Frau, die er mehr als bewunderte. Kurz vor dem Kreisel fragte er: „Was ist das denn nun für eine Idee, von der du in Wittmund gesprochen hast?“
„Wir holen uns Fischbrötchen bei Ady − der steht heute beim Siel −, fahren raus zur Küste und vernichten unseren Restalkohol mit einem späten Katerfrühstück. Es ist auflaufendes Wasser, der Wind wird uns die letzten Nebel aus dem Kopf vertreiben.“
„Okay, du holst die Fischbrötchen, ich besorge Mineralwasser und bringe noch ein Glas Gurken mit.“
Tomke parkte auf dem kleinen Parkplatz an der Harle und musste beim Aussteigen an den Fall vom vergangenen Jahr denken, als sie gegenüber, im Fischhörn, die Leiche einer Altenpflegerin gefunden hatten. Damals hatte irgendwie alles angefangen, das mit Hajo. Obwohl sie ihn damals noch nicht wirklich als Mann wahrgenommen hatte. Und jetzt? Denk an etwas anderes, schalt sie sich selbst und marschierte zum Fischwagen von Ady, von wo ihr der Geruch von frischgebackenem Kibbeling entgegenwehte. Sonst liebte sie dieses Gericht, aber heute störte sie der Geruch gewaltig. Sie kaufte für jeden ein Brötchen mit Bismarckhering, verlangte extra viele rohe Zwiebeln und ging zurück zum Auto. Sie wusste genau, dass es an der Zeit war, die Gedanken nun endlich wieder auf den Fall zu konzentrieren. Eine kurze Pause am Strand, dann würde das Lotterleben ein Ende haben, sagte sie sich. Der Fall und auch der Umgang mit Hajo musste Professionalität annehmen.
Als Hajo mit zwei Flaschen Mineralwasser und tatsächlich einem Glas saurer Gurken zum Fahrzeug kam, musste sie lachen. „Kindskopf“, murmelte sie und fuhr los. Es war trübe und windig und deshalb am Strand recht leer. Die Schranke zum Wohnmobilstandplatz direkt an der Mole war geöffnet, so dass sie bis zum Wasser vorfahren konnten. Die Kollegen von der Spurensicherung waren noch immer am Außenhafen damit beschäftigt, den kompletten Anleger nach Spuren zu untersuchen. Die Strecke war zirka 100 Meter lang und sie hatten gut zu tun. In einem kurzen Gespräch versuchte sie dem leitenden Beamten zu erklären, worauf sie besonderes Augenmerk legen sollten. „Hab’s schon verstanden, Tomke. Keine Angst, wenn da etwas ist, finden wir es.“
Tomke ging zurück zum Fahrzeug, griff sich ein Fischbrötchen, die Mineralwasserflasche und schwang sich mit einem lockeren Satz auf die Motorhaube. Diese war allerdings heiß und sie war genauso schnell wieder unten. Hajo prustete laut los. Tomke warf ihm einen bösen Blick zu, denn sie fand es gar nicht witzig, und biss in ihr Fischbrötchen. Der Job hatte sie wieder.
„Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass hier, an dieser Mole, ein Boot mit der Leiche zu Wasser gelassen wurde. Vor allem − aber das will Carsten nicht einsehen −, weil wir diesen Bootstrailer, die Kleidung und diese Decke mit Blutspuren an der Goldenen Linie gefunden haben. Das passt zusammen; ich bin mir sicher.“
Hajo hörte ihr wortlos zu, während beide ihr Fischbrötchen aßen und immer wieder in das Gurkenglas griffen. Die Wasserflaschen waren leer und Tomke drängte zum Aufbruch.
„Da wir schon mal in Harlesiel sind, fahren wir jetzt zu meiner lieben Freundin Heike“, meinte sie mit süffisantem Lächeln, „darauf freue ich mich schon. Aber ich werde uns anmelden, damit wir nicht wieder eine Ewigkeit vor der Tür stehen.“ Hajo fing an, sich an Tomkes Methoden zu gewöhnen und stieg wortlos ein.
„Dann warten Sie eben diesen Moment noch ab, wir sind gleich da. Ja, es gibt Neuigkeiten, die wir mit Ihnen besprechen müssen.“ Ihr Tonfall wurde energisch. Als sie das Gespräch weggedrückt hatte, schüttelte sie den Kopf und stieg ein. „Sie hat nicht nach ihrem Mann gefragt, wollte nur wissen, ob es lange dauert. Sie habe einen Termin bei ihrer Kosmetikerin. Ich fasse es nicht! Ich glaube, den Termin versaue ich ihr jetzt mit Wonne!“
Das Gespräch mit Heike Hoffmann-de Vries verlief alles andere als harmonisch, und Hajo musste Tomke mehrmals am Ärmel zupfen, damit sie sich etwas mäßigte. Sie war auf Zweihundert. Als Heike Hoffmann-de Vries endlich zugab, ein Verhältnis mit Bernd Köhler gehabt zu haben, war sie sehr kleinlaut und trotzdem betonte sie am Ende, sie selbst habe es schon lange beendet und sie wisse gar nicht, wie es dazu hatte kommen können.
„Wo haben Sie sich getroffen und wann das letzte Mal?“, wollte Tomke wissen.
„Das war − warten sie mal …“ Heike Hoffmann-de Vries versuchte sich etwas Zeit zu verschaffen, denn sie hatte schon mehr zugegeben, als ihr recht war.
„Nein, ich warte nicht. Sie werden doch noch wissen, wann Sie das letzte Mal mit ihm zusammen waren. Also?“
„Donnerstag. Ja, genau. Donnerstag vor zwei Wochen in seinem Appartement“, nuschelte sie.
Tomke atmete tief durch. „Das glaubt Ihnen doch kein Mensch. Ich habe die Nase von Ihren Lügen und dieser Verzögerungstaktik, die Sie hier an den Tag legen, gestrichen voll. Bernd Köhler ist tot! Sie werden in der nächsten Zeit nicht verreisen, und ich möchte Sie morgen früh um acht Uhr auf dem Revier in Wittmund sehen. Dann nehmen wir ein Protokoll auf und entscheiden, wie es weitergeht. Ich rate Ihnen, kooperieren Sie mit uns und lassen Sie diese Mätzchen wie Drohungen und Beeinflussung durch Ihren Vater. Der Schuss kann gewaltig nach hinten losgehen. Haben wir uns verstanden?“
Heike Hoffmann-de Vries nickte. „Aber ich bringe morgen meinen Anwalt mit“, meinte sie trotzig.
„Das ist Ihr gutes Recht. Haben Sie einen Schlüssel von diesem Appartement?“, fragte Tomke.
Heike schüttelte den Kopf. Tomke drehte sich wortlos um, nickte Hajo zu, und sie verließen die Villa.
„Mein lieber Mann, mit dir möchte ich aber keinen Streit haben. Bist du bei Vernehmungen immer so drauf?“ Hajo schaute sie an.
„Nein, aber ich kann diese Zicke nicht leiden.“
„Okay. Was wäre passiert, wenn ich eine Frage an die Dame gehabt hätte? Kommt man da überhaupt zwischen? So langsam kann ich Carsten verstehen − leicht hat man es mit dir als Kollegin nicht.“
„Echt? Das ist mir noch gar nicht aufgefallen.“
„Dann hörst du es jetzt von mir. Ich soll zwar von euch lernen, aber meine Meinung darf ich schon sagen, oder?“ Jetzt wusste er auch, was Carsten heute mit „Übersprunghandlungen“ gemeint hatte.
Tomke schluckte. Carsten hatte zwar immer mal wieder Andeutungen gemacht, aber so direkt war er nie geworden. Was dieser Jungspund von Hajo sich da herausnahm!
Sie wechselte das Thema und schlug den Weg zu der Ferienwohnung von Bernd Köhler ein. Unterwegs überlegte Hajo, was wohl der Grund war, dass Tomke so eigensinnig arbeitete. War das die Routine? Erfahrung? Oder wirklich nur ihre eigenwillige Art? Kollegial fand er ihr Verhalten nicht immer. Nun, er würde sehen, wie es weiterging.
Tomke fuhr in den Möwenweg und suchte einen Parkplatz, was sich allerdings als ein schwieriges Unterfangen erwies. Dort gab es fast nur Plätze für Anwohner und Mieter; die wenigen Besucherparkplätze waren belegt, und so parkte Tomke auf einem Grünstreifen am Ende der Straße. Das kurze Stück zum Haus gingen sie zu Fuß. Die Haustür war verschlossen, und da sie keinen Schlüssel hatten, drückte Tomke auf alle Klingeln des Hauses. Am Klingelschild unten rechts stand „B. Köhler“. Ein Fenster im Obergeschoss öffnete sich und Tomke säuselte: „Ach, entschuldigen Sie bitte, ich habe meinen Haustürschlüssel vergessen. Würden Sie mir wohl bitte die ...“ Der Kopf war schon wieder verschwunden, und kurz darauf summte der Türöffner. „Danke“, rief Tomke durch den Hausflur.
„Nun haben wir nur noch das Problem mit der Wohnungstür, aber das dürfte nicht so schwierig sein.“ Bevor Tomke etwas erwidern konnte, hatte er sie mit einem kräftigen Ruck geöffnet.
„Wie − das ist doch sonst mein Part?“ Tomke schaute Hajo erstaunt an. Sie waren drinnen. Tomke zog zwei Paar Gummihandschuhe aus ihrer Jackentasche und reichte Hajo eines davon. Die Wohnung war mehr als aufgeräumt. Nichts lag herum, nichts deutete auf einen Kampf hin. Auf den ersten Blick war nicht zu erkennen, ob Bernd Köhler eventuell hier ermordet worden war. Doch Tomke stutzte. Sie deutete auf die weiße Wolldecke auf der linken Armlehne der Couch.
„Schau doch mal, diese Decke hier. Genauso eine haben wir bei dem Bootstrailer an der Goldenen Linie gefunden. Wenn mich nicht alles täuscht, ist sie das Gegenstück dazu.“
„Aber das passt doch hinten und vorne nicht. Ich denke, Carsten hat recht, du verrennst dich da. Du glaubst, dieser Tote vom Strand wurde mit einem Boot ins Wasser gebracht, von wo er dann irgendwie am Strand von Harlesiel gelandet ist. Das kann ich ja noch nachvollziehen, okay. Aber glaubst du wirklich, er ist hier in der Wohnung getötet worden und …“ Er unterbrach sich, griff nach einer Statue auf der Fensterbank und hielt sie gegen das Licht.
„Wenn mich nicht alles täuscht, ist das ein Haar, und das Dunkle daneben könnte getrocknetes Blut sein.“
„Yes!“, triumphierte Tomke.
„Langsam, Tomke, das kann auch das Blut von Bernd Köhler sein, was mir übrigens viel wahrscheinlicher erscheint.“
„Ist es ja auch. Wir haben es mit unterschiedlichen Todesfällen zu tun. Warum soll Bernd Köhler nicht hier ermordet worden sein? Spusi, die Spusi muss her. Mist − die sind ja noch am Außenhafen beschäftigt. Ich rufe trotzdem gleich an.“ Tomke war in ihrem Element. Sie zog ihr Handy gerade in dem Moment aus der Tasche, als es klingelte. „Tomke hier, was gibt’s?“
Hajo Manninga, der Rechtsmediziner, war dran. „Ich habe dich vermisst, Tomke“, begrüßte er sie. „Sonst stehst du mir alle paar Minuten auf den Füßen und jetzt? Was ist los? Willst du nicht wissen, was es Neues gibt?“
„Doch, aber hier brennt es in allen Ecken. Ich hatte keine Zeit, nach Wilhelmshaven zu kommen. Erzähl schon, was gibt’s?“
„So kenne ich dich − ganz die Alte. Also, ich will dich nicht auf die Folter spannen. Erstens: Die Wasserleiche wurde von hinten erschlagen und zwar mit einem sehr spitzen, metallenen Gegenstand. Die Spitze der Tatwaffe hat sich bis ins das Gehirn gebohrt. Der Mann war sofort tot. Die Mordwaffe haben wir übrigens, es ist ein Gartengerät. Der Tote wurde post mortem transportiert, was allerdings nicht so leicht gewesen sein dürfte. Ich habe Blessuren an der Leiche entdeckt, die ihr allesamt nachträglich zugefügt würden. Außer der Wunde am Hinterkopf, die, wie gesagt, tödlich war. Der Täter hatte bei der Entsorgung viel zu tun, denn der Tote war schwer. Dabei wurde ihm die Oberbekleidung entfernt, und ich denke, eher ungewollt. Man hat sehr an ihm herumgezerrt, wobei die Sachen zerrissen sein müssen. Außerdem habe ich Holzsplitter an der Leiche entdeckt. Der Mann wurde in einem Gegenstand aus Holz transportiert, was bei der Küstennähe auf ein Boot schließen lässt. Es handelt sich um altes, verwittertes Holz. Ob es ein Boot war, stelle ich bei der genaueren Untersuchung des Holzsplitters noch fest. So viel zu dem Toten vorab; den kompletten Bericht maile ich dir zu. Zweitens, kurz und bündig: Direktor Jannssen wurde ebenfalls erschlagen und zwar von hinten. Allerdings war er nicht sofort tot, was wiederum erklärt, warum von seinem Telefon aus eventuell ein Notruf abgesetzt wurde. Wie ich schon andeutete, befanden sich in der Kopfwunde Glassplitter. Der ausführliche Bericht kommt ebenfalls per Mail. Und nun drittens: Die erhängte Leiche … Tomke, bist du noch da?“
Tomke hatte das Handy auf laut gestellt und hörte gespannt zu. Hajo stand neben ihr und war ebenfalls gespannt auf das, was noch kommen würde. „Ja, ja, weiter, ich bin noch dran.“
„Dann also zur erhängten Leiche. Der Mann wurde nicht erhängt, sondern ebenfalls erschlagen. Also echt, ein wenig Abwechslung wäre nicht verkehrt!“
„Hajo, du bist unmöglich.“
„Unterbrich mich nicht! Aber etwas abwechslungsreicher könnten meine Kunden mir die Arbeit schon gestalten. Also: ebenfalls erschlagen. Soweit ich bisher sagen kann, mit einem metallenen Gegenstand, nicht glatt, eher rau. Vermutlich wurde der Tote in Material aus Wolle transportiert und dann hinter die Stubentür gehängt. Zwischenzeitlich hat man ihn des Öfteren grob fallen lassen, was ich an körperlichen Blessuren, ebenfalls post mortem, festmachen kann. Auch hierzu bekommst du meinen Bericht per Mail. Abschließend möchte ich festhalten, dass es für mich den Anschein hat, dass alle drei Männer vom gleichen Täter ermordet wurden. Ich habe hier zwar keine DNA als Gegenprobe oder Ähnliches vorliegen, aber die Umstände …“
„Danke, Hajo. Wenn das alles war, machen wir hier jetzt weiter. Und ob es sich wirklich um denselben Täter handelt, werden wir sehen.“
„Stopp, Frau Kommissarin, nicht so eilig, etwas habe ich noch. Im Garten des Hauses, in dem der Erhängte gefunden wurde, genauer gesagt in der Auffahrt, hat die Spusi die Tatwaffe und Blutspuren gefunden, und zwar Blutspuren von der Wasserleiche. Ich meine, wenn schon kompliziert, dann richtig. Nix für ungut, schönen Tag noch.“
„Woher weißt du ...“ Doch Hajo Manninga hatte schon aufgelegt.
„Das heißt“, wandte sie sich an Klein-Hajo, „im Haus von Jojo de Vries, besser gesagt in seinem Garten, wurde die Wasserleiche ermordet und gleichzeitig der tote Bernd Köhler hinter die Tür gehängt. Verrückt.“
Tomke schüttelte den Kopf. Wolldecke, Hajo erwähnte bei diesem Köhler eine Wolldecke. Sie hatten eine solche auf dem Trailer gefunden. Die gleiche lag in Köhlers Wohnung, das Puzzle setzte sich zusammen. Das musste sie sich gleich mal notieren, überlegte Tomke, wischte über das Display und wählte die Nummer der Spurensicherung. Der Kollege versprach, so schnell es ging, eine Mannschaft in den Möwenweg zu schicken, aber es könne etwas dauern, da man ja noch am Außenhafen zu tun habe. Tomke versprach vor Ort zu bleiben, bis eine Streife zur Sicherung der Wohnung eintraf. Sie selbst wollte dann mit Klein-Hajo schnellstens weiter. Als die Polizisten eintrafen, erklärte Hajo kurz die Situation und sie fuhren zurück zum Revier.
„Manninga hat recht“, unterbrach Hajo die nachdenkliche Stille während der Fahrt, „wenn schon kompliziert, dann aber richtig.“
Tomke wollte in ihrem Gedankengang nicht gestört werden. „Sorry, tu mir bitte den Gefallen und sei für den Rest der Fahrt still, ich muss meine Gedanken sortieren und das alles auf die Reihe bekommen. Im Büro besprechen wir es dann mit Carsten.“ So fuhren sie das letzte Stück schweigend zurück nach Wittmund.
Im Büro überflog Carsten die Mails aus der Rechtsmedizin, die gerade auf seinem Rechner eingegangen waren, als Hajo und Tomke eintrafen. „Ist das nicht verrückt? Das wird immer schöner. Einen solch skurrilen Fall hatte ich auch noch nicht.“
Tomke nahm sich einige Ausdrucke und reichte einen Teil an Hajo weiter. „Lasst uns gleich die Fakten sortieren, aber erst müssen wir die Berichte von Manninga genau durchlesen. Der große Hajo hat mich am Telefon nur stichpunktmäßig informiert. Dass uns da nur nichts durchrutscht. Wenn wir das gemacht haben, rufe ich den Chef an, wir brauchen seine Rückendeckung, damit wir weitermachen können.“ Alle drei vertieften sich in die Berichte der Rechtsmedizin.
Es war schon spät, als Tomke beschloss, für heute Schluss zu machen. Sie hatten, wie sie es immer nannten, die Fakten sortiert, und es war klar, dass Direktor Jannssen in seinem Haus, direkt an seinem Schreibtisch erschlagen wurde. Die Tatwaffe war noch nicht bekannt. Da es sich laut Manninga bei der Tatwaffe um einen kantigen Gegenstand aus Glas handelte, könnte es eventuell ein Pokal oder ähnliches sein, überlegte sie. Wie sie sich erinnerte, stand ja einiges an Pokalen und Trophäen in Jannssens Haus herum. Die Tatwaffe war allerdings nicht dabei. Henry van Hook wurde im Garten von Jojo de Vries‘ Kate erschlagen und dann, vermutlich mit einem Boot, über die Harle in die Nordsee verfrachtet. Tomke dachte, dass es ein Volltreffer wäre, wenn die Kollegen von der Spusi am Außenhafen die gleichen Holzpartikel fänden, wie Hajo Manninga am Körper des Toten. Man musste abwarten. Bernd Köhler wurde auch erschlagen, das war klar. Ob die Bronzefigur in seiner Ferienwohnung die Tatwaffe war, musste sich erst noch herausstellen. Dass diese drei Morde in einem engen Zusammenhang standen, war allen drei Ermittlern inzwischen klar, und auch Carsten gab seinen Widerstand auf. Wer aber war der Mörder? Gab es wirklich nur einen Täter oder doch mehrere?
Sie packten die Unterlagen zusammen und verschlossen sie in ihren Schreibtischen. Es war schon weit nach 22 Uhr und allen knurrte der Magen. Essen gehen oder gemeinsam ein Bier trinken war nun nicht mehr drin; alle wollten nur noch in ihr Bett. Tomke war natürlich nicht mehr dazu gekommen, den Chef in Wilhelmshaven anzurufen, nahm es sich aber gleich als erstes für den nächsten Tag vor.
Fast so schweigend wie am Nachmittag mit Hajo fuhr Tomke nun mit Carsten zurück nach Carolinensiel. Kurz bevor er sie bei Oma und Tant‘ Fienchen absetzte, meinte Carsten noch: „Wenn er dir gefällt, dann tu es. Lebe dein Leben und höre nicht auf das, was angeblich geht oder nicht geht. Auch wenn er acht Jahre jünger ist als du, und auch wenn es nur für eine kurze glückliche Zeit ist, wenn du es willst, dann tu es.“
Tomke schaute Carsten an, strich ihm über den Arm und küsste ihn auf die Wange. „Danke, und schlaf gut. Morgen um acht Uhr?“
„Ja, um acht bin ich da, schlaf du auch gut.“
Als sie in ihrem Bett lag, tobten die Gedanken wild durch ihren Kopf. Der Fall ließ ihr keine Ruhe. Gleichzeitig lenkten die Erinnerungen an die Sache mit Hajo sie immer wieder ab. Das Einschlafen fiel ihr schwer, obwohl sie todmüde war. Oma oder auch Tant‘ Fienchen, wahrscheinlich beide, hatten ihr einen Teller mit reichlich belegten Broten bereitgestellt, von dem sie sich mit Heißhunger bedient hatte. Das Bier, das sie sich aus dem Kühlschrank genommen hatte, war, wie ihr Magen nun signalisierte, für diese Uhrzeit zu kalt gewesen. Es dauerte sehr lange, bis Tomke eingeschlafen war.