Sonnabend. Früher Morgen
Peter Hagen, der diensthabende Klinikarzt im Nordwest-Krankenhaus Sanderbusch, hatte schon in der Nacht erkannt, dass es sich bei dem eigenartigen Pärchen um die beiden gesuchten Personen handelte. Die Klinik hatte von der Polizei eine Rundmail erhalten, die dann an alle Stationen weitergeleitet worden war. Warum sie gesucht wurden, stand nicht dabei. Es gab keine besonderen Hinweise darauf, dass es sich bei den beiden um Schwerverbrecher handelte, also beschloss der Arzt, sie für diese Nacht erst einmal zur Ruhe kommen zu lassen. Die Frau hatte ein schweres Schlafmittel bekommen und der Mann, nachdem er mit dem Gynäkologen gesprochen hatte, ebenfalls. Weglaufen würden die beiden mit Sicherheit nicht.
Am frühen Morgen kurz vor Dienstende öffnete er nochmals die E-Mail mit den Fotos und der Beschreibung der beiden Gesuchten. Es war ganz sicher, dass es sich um seine beiden Patienten handelte. „Nun muss ich wohl“, murmelte er und griff zum Hörer. Er wählte eine Handynummer, und es dauerte eine Weile, bis sich am anderen Ende jemand meldete.
„Ja, Tomke hier, was gibt’s?“, meldete sich eine verschlafene Frauenstimme. „Ich sagte doch zehn Uhr. Ich schlafe noch.“
„Ich würde auch gerne schlafen, aber mein Dienst ist noch nicht zu Ende.“
Tomke richtete sich in ihrem Bett auf und fragte erschrocken: „Wer ist da?“ Ein Blick auf das Display zeigte ihr, dass es sich bei dem Anrufer nicht um Carsten handelte, und der Wecker auf ihrem Nachtisch, dass es gerade mal sechs Uhr vorbei war.
„Doktor Peter Hagen, Nordwest-Krankenhaus Sanderbusch. Wenn Sie dann wach sind, würde ich Ihnen gerne erklären, warum ich anrufe“, hörte sie eine sehr muntere Männerstimme sagen.
Tomke setzte sich auf und meinte mürrisch: „Ich bin wach, einigermaßen jedenfalls. Was ist denn passiert?“
„Ich bin Arzt in Sanderbusch und habe eine Suchmeldung von Ihnen in meinem Computer; kann das sein?“
Tomke war sofort hellwach. „Ja. Entschuldigen Sie bitte. Ich bin Tomke Evers und die Suchmeldung ist von mir oder besser gesagt, von meinem Kommissariat. Wissen Sie denn, wo die beiden Personen sich aufhalten?“
„Darum rufe ich an, und entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie so früh aus den Federn werfe. Auf dem Revier wollte ich nicht anrufen, die Handynummer hatte eher einen persönlichen Touch. Es ist mir nämlich wichtig, dass hier nicht ein Polizeiaufgebot hereinstürmt und die beiden aus dem Bett weg verhaftet. Übrigens, was haben sie denn verbrochen?“
„Sie sind bei Ihnen in der Klinik? Beide?“
„Ja, Frau Bella Jannssen und Herr Johannes de Vries sind seit heute Nacht auf meiner Station“.
„Ich komme sofort! Lassen Sie die beiden bloß nicht vorher gehen.“
„Sie müssen sich nicht beeilen, die beiden schlafen tief und fest. Sie haben ein starkes Schlafmittel bekommen. Nun sagen Sie mir doch …“
„Sagen Sie mir erst, warum Frau Jannssen und Herr de Vries bei Ihnen sind. Hatten sie einen Unfall?“
„Nein, hatten Sie nicht, und warum Sie hier sind, kann ich Ihnen nicht sagen. Sie verstehen doch …, die ärztliche Schweigepflicht.“
„Aber andeuten könnten Sie …“
„Ja, ich kann andeuten, dass beide, wenn sie wach werden, in der Lage wären, unser Haus zu verlassen und dass es für Frau Jannssen besser wäre, wenn sie noch ein bis zwei Tage unsere Patientin bleiben würde.“
„Okay, ich bin schon unterwegs. Ach so, in welche Abteilung muss ich denn?“
„In die Innere. Mein Dienst ist zwar gleich zu Ende, aber ich warte auf Sie.“
„Das ist nett. Ich rufe meinen Kollegen an; wir kommen dann umgehend.“
Tomke drückte das Gespräch weg und wählte die Kurzwahl von Carsten. Nach zweimaligem Klingeln unterbrach sie die Verbindung. „Der hat ja heute Familienvormittag mit Marie, da will ich mal nicht so sein“, murmelte sie leise und wählte die Nummer von Hajo. Der meldete sich sofort.
„Bist du schon auf?“, fragte Tomke, ohne sich zu erkennen zu geben.
„Moin, Tomke. Ja, ich bin schon auf. Komme gerade aus der Dusche und bin nackt wie …“
„Das will ich gar nicht wissen. Moin“, unterbrach ihn Tomke lachend, „zieh dich an und hol mich in Caro ab; wir müssen nach Sanderbusch.“
„Hast du kein Auto? Und was ist mit Carsten?“, fragte Hajo.
„Das erzähle ich dir alles, wenn du hier bist. Also bitte, verpack deinen Revuekörper und mach hin. Ich springe auch schnell unter die Dusche. Bis du hier bist, bin ich fertig.“
Tomke war mit dem Telefon ins Bad geeilt, streifte ihr Schlafshirt ab und stellte sich unter die Dusche. Das warme Wasser prasselte auf ihren Körper, und sie seifte sich mit einem neuen Duschgel ein. Ein minzig-fruchtiger Geruch stieg ihr in die Nase und weckte ihre Lebensgeister. Warum die beiden wohl in der Klinik waren, fragte sie sich, während sie sich die Haare kämmte und hastig die Wimpern tuschte. Sie streckte ihrem Spiegelbild die Zunge heraus und verließ das Bad.
In der Küche war schon Leben. Oma und Tant‘ Fienchen waren wie immer sehr früh auf.
„Was macht ihr denn schon so früh auf den Beinen?“, fragte Tomke und gab jeder einen dicken Kuss auf die Wange. „Ich muss weg!“
„Das haben wir uns gedacht, ich habe nämlich dein Telefon gehört.“ Sie deutete auf eine grüne Plastikbox, „Hier, ich habe dir ein paar Brote gemacht. Für ein anständiges Frühstück hast du sicher wieder keine Zeit.“. Sie schenkte ihr eine Tasse Kaffee ein und meinte mit gespielter Strenge: „Der wird getrunken, sonst lassen wir dich nicht aus dem Haus.“ Tant‘ Fienchen stand mit verschränkten Armen vor der Küchentür.
„Okay, okay, ich gebe mich geschlagen. Ich muss sowieso auf meinen Kollegen aus Wittmund warten.“
„Ach, der nette junge Kollege von vor ein paar Tagen? Und was ist mit Carsten?“
„Carsten kommt erst heute Mittag zum Dienst und ...“
Draußen hupte es. Sie stellte ihre Kaffeetasse ab und sprang auf. „Ich muss weg, und danke für die Brote, die reichen ja für eine ganze Kompanie.“
Sie klopfte an die Autoscheibe und bat Hajo, ihr nachzufahren. Dann stieg sie in ihr Auto und fuhr vom Deich. Vor dem Haus, in dem Carsten mit Michaela und Marie wohnte, stellte sie das Fahrzeug ab, warf den Autoschlüssel in den Briefkasten und stieg bei Hajo ein.
„Moin! So, und nun ab nach Sanderbusch.“
„In die Klinik? Wer liegt denn da? Und was ist mit Carsten?“
„So viele Fragen auf einmal, und das am frühen Morgen. Carsten hat heute ,familienfrei‘ bis gegen 13 Uhr. Er hat Marie schon mehrmals einen Schwimmbadbesuch versprochen und das Kind immer wieder versetzt. Lass den mal sein neues Familienleben aufbauen, das hat er sich verdient. Offiziell besucht er heute Vormittag Freunde und Bekannte von Jojo de Vries, um sie zu befragen, wo dieser sein könnte. Ach, Scheiße, das geht ja nun nicht mehr, wir haben ihn ja. Da müssen wir uns …“
„Wie, wir haben ihn? Wo? Fahren wir seinetwegen nach Sanderbusch?“
„Ja, seinetwegen und wegen Bella Jannssen; die sind beide dort“, antwortete Tomke und erzählte von dem Anruf in der Frühe.
Da es Samstag und früher Morgen war, kamen sie schon nach 15 Minuten in der Klinik an, die Straßen waren frei. Hajo fand sofort einen Parkplatz. Der gläserne Eingangsbereich und auch der Empfang waren verwaist. Tomke suchte auf der großen Tafel neben der Treppe die Innere Abteilung und sie spurteten, immer zwei Stufen nehmend, die Treppen in den zweiten Stock hinauf.
Doktor Peter Hagen empfing sie an der Tür zur Station. „Ich habe ein Auto auf den Parkplatz fahren sehen und dachte mir, dass nur Sie das sein konnten. Heute ist es hier zum Glück sehr ruhig“, begrüßte er die beiden.
Schöner Mann mit müden Augen, dachte Tomke und reichte ihm die Hand. „Moin, Herr Doktor Hagen, ich bin Tomke Evers, und das ist mein Kollege Hajo Mertens. Wir kommen aus Carolinensiel. Deshalb hat es auch etwas gedauert. Wo sind die beiden denn?“
„Sie schlafen noch. Ich war gerade dort und ich bitte Sie, ihnen noch eine Stunde Ruhe zu gönnen. Beide sind, und Frau Jannssen besonders, vollkommen übermüdet und erschöpft. Bei Frau Jannssen kommt noch dazu, dass es ihr gesundheitlich nicht sehr gut geht. Sie hat einiges hinter sich.“
„Können Sie mir sagen, was das ist?“
„Nein, warten Sie bitte, bis sie es Ihnen selbst sagt. So lange es keinen wirklich dringenden Grund gibt, muss ich mich an meine ärztliche Schweigepflicht halten. Außerdem machen die zwei mir nicht den Eindruck, als seien sie Schwerverbrecher, oder?“
Tomke zuckte mit den Schultern. „Ich hoffe nicht. Wir wissen es aber nicht wirklich. Im Moment suchen wir sie hauptsächlich als Zeugen. Bei Herrn de Vries …, na wir werden sehen.“ Sie schaute auf die Stationsuhr und wurde unruhig. „Herr Doktor, seit Ihrem Anruf ist nun mehr als eine Stunde vergangen, diese sei den beiden gegönnt, aber länger können wir nicht warten. Wir haben noch etwas anderes zu tun. Also, wo finden wir sie?“
Der Arzt schaute auf seine Armbanduhr und seufzte: „Also gut, dann bringe ich Sie jetzt zu ihnen. Aber bitte ...“
„Ja, wir sind doch keine Unmenschen.“ Tomke wusste, was er sagen wollte.
Sie gingen über einen langen Flur, um dann in einen Nebenflügel abzubiegen. Vor einer Tür blieb der Arzt stehen und klopfte. „Liegen beide auf demselben Zimmer?“, fragte Tomke.
„Privatstation“, antwortete der Arzt und klopfte nochmals.
Tomke schob ihn zur Seite und öffnete die Tür. „Wir können nicht länger warten, nu is dat good.“
Im Krankenzimmer standen zwei Betten, die wohl jemand provisorisch zusammengeschoben hatte. In der Mitte war ein Spalt, trotzdem hielten sich die beiden schlafenden Patienten an den Händen. Als Tomke in das Zimmer stürzte, hob Jojo de Vries verschlafen den Kopf und schreckte beim Anblick der fremden Menschen augenblicklich hoch. Polizei, schoss es ihm durch den Kopf, und schon saß er aufrecht im Bett. Bella schlief noch. Die starken Beruhigungsmittel wirkten noch immer. Er legte den Zeigefinger auf die Lippen und deutete Tomke und Hajo an, dass er mit ihnen nach draußen kommen würde. Im Gehen warf er einen ängstlichen Blick auf Bella. „Gehen Sie nur, ich bleibe hier“, beruhigte ihn Doktor Hagen.
Tomke stellte sich und Hajo vor und zeigte ihm ihren Polizeiausweis. „Herr de Vries, wo waren Sie in den letzten Tagen? Wir haben Sie gesucht, und Ihre Freundin da drinnen ebenfalls.“ Tomke zeigte auf die Zimmertür.
Gerade erst aufgewacht und von dem Schlafmittel noch immer etwas benommen, wollte Jojo nicht spontan antworten, aber Tomke ließ nicht locker. „Herr de Vries, bitte. Sie wissen doch sicher ganz genau, warum wir hier sind.“
„Ja, ich kann es mir denken, im Radio war einiges zu hören …“
Tomke atmete tief ein und unterbrach ihn. „Seit Tagen waren Sie weder dort, wo Sie mit Ihrer Ehefrau wohnen, noch an Ihrem Arbeitsplatz und auch nicht in Ihrem Haus am Mittelweg. Auf die Suchmeldung im Radio haben Sie nicht reagiert, obwohl Sie diese gehört haben. Wir mussten davon ausgehen, dass Sie untergetaucht waren und fragen uns nun, warum?“
Sie schaute ihn an, ließ ihm aber keine Zeit zum Antworten. „Es hat in Ihrem Umfeld in den letzten Tagen drei Leichen gegeben“, hakte sie nach. „Sie kannten alle drei Männer. Herr de Vries, was haben Sie getan? Oder ist Ihre Freundin, Frau Jannssen, eine Mörderin?“
„Nein, weder ich noch Bella!“, rief er. „Lassen Sie Bella bitte in Ruhe, ihr geht es sehr schlecht, und sie hat vor ein paar Tagen eine Fehlgeburt erlitten, bitte …“ Jojo schaute flehend von Tomke zu Hajo. „Nehmen Sie mich fest, aber bitte lassen Sie Bella in Ruhe.“
Plötzlich wurde es hektisch auf dem Krankenhausflur. Ein Arzt und zwei Pflegerinnen hasteten an de Vries, Tomke und Hajo vorbei in das Zimmer, in welchem Bella lag. De Vries wollte hinterher, aber die Tür wurde sofort wieder geschlossen. „Was ist passiert?!“, schrie er, „Bella, was ist los?“
Nach einigen Minuten kam Doktor Hagen heraus. An ihm vorbei wurde Bella in ihrem Krankenbett aus dem Zimmer geschoben. „Frau Jannssen hat starke Blutungen, die Gynäkologen müssen operieren. Gut, dass ich gerade im Zimmer war und eingreifen konnte. Wo wurde die Abtreibung vorgenommen? Wir brauchen Unterlagen zur Vorgeschichte.“
„Abtreibung?“ Jojo de Vries zuckte zusammen. „Ich dachte, sie hatte eine Fehlgeburt?“
„Das ist vorerst einmal egal. Wo?“
„In der Sören-Klaas-Klinik, vermute ich. Aber genau weiß ich das nicht.“
„Wie bitte? Das darf ja nicht wahr sein, nicht schon wieder!“ Der Arzt war entsetzt; er schien die Klinik zu kennen.
„Kann ich zu Bella?“, fragte Jojo noch.
„Jetzt nicht“, meinte der Arzt, „sie wird sofort operiert. Bis sie wieder ansprechbar ist, kann es einige Stunden dauern.“ Er verabschiedete sich; sein Dienst wäre schon lange zu Ende gewesen.
„Ich bleibe hier“, rief Jojo dem Arzt noch nach.
„Nein, Herr de Vries, sie kommen mit uns. Wir müssen uns dringend auf dem Revier mit Ihnen unterhalten. Es gibt nun keinen Grund mehr, dass wir hier auf dem Krankenhausflur weiterreden. Kommen Sie bitte mit.“
„Okay, aber Sie müssen mir versprechen, dass ich später wieder zu Bella darf, sie braucht mich. Außerdem möchte ich mich kurz frisch machen und mir die Zähne putzen, Sie haben mich schließlich aus dem Bett geholt.“
„Gut, zehn Minuten“, meinte Tomke, „wir warten hier vor der Tür.“
„Ich laufe Ihnen schon nicht weg.“ Jojo verschwand im Krankenzimmer.