Sonnabend in der Cliner Quelle
Carsten hatte mit seinen beiden Mädels ausgiebig gefrühstückt und sich dann gegen zehn Uhr auf den Weg in die „Cliner Quelle“ gemacht. Marie war heute schon sehr früh wach gewesen und hatte voller Vorfreude ihre Badesachen gepackt. Sie konnte kaum abwarten, dass es endlich losging. Michaela versuchte, sie zu beruhigen: „Das Schwimmbad öffnet erst um zehn Uhr, Marie, eher könnt ihr nicht rein. Also lass uns in Ruhe frühstücken.“
Nun standen die beiden an der Kasse der „Cliner Quelle“ und Carsten kaufte zwei Tickets für das Bad. Draußen regnete es inzwischen. Es war ein richtig herbstlicher Tag. Kaum zu glauben, dass vor ein paar Tagen noch solch ein wunderbares Wetter gewesen war. Aber an der Nordsee waren extreme Wetterwechsel üblich. Carsten kannte das inzwischen. Vor einigen Tagen war die neue „Cliner Quelle“, ein richtiges kleines Schmuckstück, eröffnet worden. Marie hatte schon befürchtet, der Badetag würde wieder ins Wasser fallen, weil Carsten arbeiten musste. „Wie kann denn eigentlich ein Tag ins Wasser fallen?“, hatte sie auf dem Weg hierher gefragt, und Carsten hatte große Mühe, ihr dieses geflügelte Wort zu erklären. Solche Fragen hatte seine Tochter auch immer gestellt, dachte er wehmütig.
Carsten war heute das erste Mal in der neuen „Cliner Quelle. Vom Eingangsbereich aus konnte man durch eine große Glasscheibe die Schwimmer im Außenbereich beobachten. Da es draußen heute ziemlich kalt war, sah das Wasser aus, als würde es dampfen. Marie kannte sich schon aus, denn sie war am Eröffnungstag mit Michaela hier und sofort hellauf begeistert gewesen. Als Carsten aus der Umkleidekabine kam, tobte sie schon über die große gelbe Rutsche. So eine Wasserratte! Sorgen musste er sich keine um sie machen, denn sie war mit ihren sieben Jahren schon eine hervorragende Schwimmerin. Er signalisierte ihr, dass er in das Schwimmerbecken gehen würde.
„Ich bin fünfmal durch die Tunnelrutsche gesaust“, erzählte sie ihm wenig später völlig außer Atem. Sie schwammen und tobten eine Weile im Schwimmerbecken, was heute, da noch nicht viele Gäste da waren, ohne Ärger mit dem Bademeister möglich war. Marie tauchte gerade nach einem Gummiring, als Carsten plötzlich stutzte. Auf einer der Liegen am Beckenrand rekelte sich eine Frau, die ihm schon vor ein paar Minuten aufgefallen war, da sie ein Handy ans Ohr hielt, das sie mit der Hand abdeckte. Sollte niemand zuhören? Jetzt bemerkte er, dass sie ihm bekannt vorkam. Woher bloß? Natürlich, das war die Sekretärin des ermordeten Bankdirektors aus Wilhelmshaven! Ohne schickes Kostüm und Schminke sah sie ganz anders aus. Was machte sie in Carolinensiel, und warum telefonierte sie hier im Bad so geheimnisvoll? Er würde schon gerne hören, was sie die ganze Zeit zu quatschen hatte. Wenn das nur ein Freundinnentratsch war, konnte sie von ihm aus noch stundenlang ... Aber vielleicht …? So ganz sauber war sie ihm − und Tomke erst recht − von Anfang an nicht vorgekommen. Er müsste irgendwie näher an sie herankommen.
„Marie“, rief er, als das Mädchen wieder aufgetaucht war, „ich brauche mal deine Hilfe. Ich müsste dringend wissen, worüber die Frau mit dem Handy dort drüben redet. Kannst du ...“
„Gefällt sie dir etwa besser als meine Mama?“, fragte Marie mit zusammengekniffenen Augen.
„Ach was, meine Maus, das hat etwas mit unserem Fall zu tun. Vielleicht auch nicht, aber das möchte ich schon gerne wissen. Wenn ich mich einfach auf die Liege daneben lege, erkennt sie mich vielleicht; das wäre blöd, weißt du.“
Marie wischte sich eine nasse Haarsträhne aus den Augen und betrachtete Carsten mit strengem Blick. „Wenn das so ist, dann muss ich dir ja helfen. Frauen sind nämlich cleverer als Männer, wusstest du das?“, meinte sie altklug und war auch schon weg. Mit ein paar Schwimmstößen gelangte sie an den Beckenrand, stemmte sich hoch und stieg aus dem Wasser. Aus der großen Regalwand mit den Ablagefächern griff sie sich ihr Handtuch, wühlte in Carstens Badetasche und legte sich auf die Liege neben Inka Petersen. Die blickte genervt auf, lehnte sich aber wieder zurück, als sie sah, dass es sich um ein kleines Mädchen handelte. Carsten konnte von weitem erkennen, dass Marie irgendetwas in den Händen hielt, aber nicht, was es war. Er sah nur, dass ihre kleinen Finger mit etwas spielten. Okay, dachte er, sie tat wohl beschäftigt und hörte zu, was auf der Liege nebenan gesprochen wurde. Sein Gewissen meldete sich. Wie konnte er Marie nur für so etwas missbrauchen, schalt er sich. Aber zum Nachdenken war keine Zeit, so schnell hatte die Kleine die Initiative ergriffen. Er ließ sich rücklings auf dem Wasser treiben und beobachtete die beiden. Inka Petersen telefonierte noch immer, und Marie streckte sich weiterhin auf der großen Liege aus. Nach ein paar Minuten legte die Petersen ihr Handy weg und Marie schlenderte zum Beckenrand. Als sie näher kam, erkannte Carsten, dass sie sein Smartphone in der Hand hielt. Er schwamm zum Rand und schaute sie fragend an. „Was hast du mit meinem Smartphone vor?“
„Ich sagte doch: Frauen sind cleverer als Männer, nur die da nicht.“ Sie zeigte auf Jannssens Sekretärin. „Die hat nämlich nicht gemerkt, dass ich ihr Gespräch mit deinem Smarty aufgenommen habe!“
„Marie, das darf man nicht! Du kannst doch nicht einfach …“
„Du wolltest doch wissen, was sie spricht! Wie hätte ich mir das denn alles merken sollen, bitteschön?“ Sie tat beleidigt und hielt ihm das Gerät entgegen.
„Bring es schnell wieder in meine Badetasche und komm ins Wasser, du Schlingel“, schimpfte er sie scherzhaft. Er überlegte, ob er Marie einen Vortrag über das Für und Wider von Abhörtechniken und deren Verbot halten sollte, ließ es dann aber bleiben. Clevere kleine Maus, dachte er, und wenn es ihnen half … Vielleicht hatte die Chefsekretärin ja auch nur Privatkram geredet; dann würde er die Aufnahme löschen und keiner würde etwas davon erfahren.
Marie kam angerannt und schrie „Arschbombe!!“ Noch bevor Carsten „nein“ rufen konnte, klatschte sie schon ins Wasser. Der Bademeister in seiner Kabine hob den Kopf und statt eines tadelnden Zeigefingers streckte er lachend den Daumen in die Luft. Ihn hatte sie also auch schon um den Finger gewickelt, dachte Carsten. Er hatte versucht, Marie vorsichtig klarzumachen, dass man Gespräche von anderen nicht einfach aufnehmen dürfe. Ihre Frage, warum denn „einfach nur so“ lauschen erlaubt sei, ließ ihn das Gespräch beenden. Sie tobten noch eine Weile durch das Becken und stiegen dann schweren Herzens aus dem Wasser. Ein Blick auf die Uhr zeigte Carsten, dass sie nur noch 15 Minuten hatten, um zu duschen und sich umzuziehen.
„Bleib cool, Carsten“, meinte Marie auf dem Weg zur Dusche. „Die Frau an der Kasse hat zu Mama gesagt, es gibt fünf Minuten …“ Sie stockte, legte den Finger an die Nase und schaute nachdenklich zur Decke. „Ach, ich weiß es wieder“, fuhr sie fort, „es gibt fünf Minuten Katunzzeit, bevor man nachbezahlen muss.“
„Was gibt es? Ach, du meinst sicher Karenzzeit, mein Schatz!“
„Kann sein“, rief sie, flitzte an ihm vorbei und bog in Richtung ‚Damen‘ ab.
„Langsam, Marie, auf den Fliesen kann man ganz schnell ausrutschen! Und beeil dich!
Carsten hatte es plötzlich sehr eilig. Nicht nur, weil die Badezeit gleich ablief, sondern weil er unbedingt hören wollte, was Inka Petersen am Handy erzählt hatte. In der Umkleidekabine war er versucht, sofort in das Gespräch hineinzuhören, ließ es aber bleiben, da sich in den Kabinen rechts und links Badbesucher befanden. Als er die Umkleidekabine verließ, sah er, dass Marie sich schon die Haare föhnte. Die Uhr am Drehkreuz zeigte zwölf Uhr und vier Minuten − sie hatten also noch genau eine Minute. „Geschafft“, rief Marie, und zu der Mitarbeiterin am Tresen: „Tschüss, Ann-Christin, bis bald!“
„Tschüss, Marie, und liebe Grüße an deine Mama!“
„Carsten, hast du Ann-Christins Haare gesehen?“, seufzte Marie. „Sooo viele Locken! Die will ich auch haben …“
„Also, deine Haare finde ich aber auch ganz besonders schön, Marie.“ Carsten zupfte kurz an einer kleinen Strähne.
Marie quiekte „aua“ und lief über den Parkplatz zum Auto. Als sie sich auf der Rückbank angeschnallt hatte, meinte sie: „Das ist ein Widerspruch in sich.“
Carsten drehte sich langsam um und schaute sie an. „Wie bitte? Was ist ein Widerspruch in sich? Und woher hast du diesen Ausdruck?“
„Du hast im Bad zu mir gesagt: ‚Langsam, Marie, und beeil dich‘. Das ist ein Widerspruch in sich“, triumphierte sie.
Carsten beugte sich nach vorne und schlug mit dem Kopf mehrmals gegen das Lenkrad. Er musste lachen. „Warte nur, du kleiner Naseweis, gleich komme ich nach hinten und kitzele dich ordentlich durch.“
„Komm doch!“
„Sei froh, dass ich es eilig habe und zur Arbeit muss“, drohte er ihr scherzhaft. „Du hast mir aber noch immer nicht gesagt, woher du diesen Ausdruck kennst.“
„Das sagt Frau Klein, meine Klassenlehrerin, immer zu mir. ,Marie, das ist ein Widerspruch in sich‘“, äffte sie ihre Lehrerin mit spitzen Lippen nach.
„Na, darüber müssen wir uns mal in Ruhe unterhalten. Jetzt geht es ab nach Hause.“ Carsten hatte inzwischen den Wagen gestartet und fuhr vom Parkplatz. Ein Blick in den Rückspiegel zeigte ihm, dass Marie ganz kleine Augen hatte; sie war müde.
Als er sie bei Michaela ablieferte, meinte er: „Hier bringe ich dir deinen Widerspruch in sich zurück.“
Michaela schaute ihn fragend an: „Was hat sie denn nun wieder losgelassen?“
„Später“, lachte er, „ich muss los, mein Schatz!“ Er reichte ihr die Badetasche, küsste Michaela auf den Mund, Marie auf die Stirn und stieg wieder ins Auto.
Michaela schob Marie die Treppe zur Wohnung hoch und schüttelte den Kopf. „Ich glaube, nach dem Essen ist ein kleiner Mittagsschlaf angesagt, schließlich willst du heute noch zu einer Geburtstagsfeier.“