Samstag, 7. Juni 2014 18:25 Uhr
In der Bar des Rainsford House Hotels Rainsford, County Meath, Irland
Liegt es an mir, oder sind die Barhocker hier inzwischen niedriger? Vielleicht bin ich auch geschrumpft. Das kann einem passieren, wenn man vierundachtzig Jahre alt ist, das und haarige Ohren.
Wie spät ist es jetzt in den Staaten, mein Junge? Eins? Zwei? Ich vermute, du klebst wieder an deinem Laptop und hämmerst in deinem klimatisierten Büro auf die Tastatur ein. Natürlich könntest du auch zu Hause sein, auf der Veranda, in dem Lehnstuhl mit der wackeligen Lehne, und deinen jüngsten Artikel in diesem Blatt lesen, für das du arbeitest, wie heißt es noch …? Gott, jetzt fällt es mir nicht ein. Aber ich sehe dich vor mir mit deinen Sorgenfalten, während Adam und Caitríona wild tobend versuchen, deine Aufmerksamkeit zu erlangen.
Hier ist es ganz ruhig. Keine Menschenseele. Nur ich ganz allein, mit mir selbst redend, in Vorfreude auf den ersten Schluck mit den Fingern auf den Tresen trommelnd, als hinge mein Leben davon ab. Wenn ich hier denn mal einen Drink serviert bekomme. Hab ich dir je erzählt, Kevin, dass mein Vater ein großer Fingertrommler war? Trommelte auf der Tischplatte herum, auf meiner Schulter, auf allem, was sein Zeigefinger erreichen konnte, um seine Meinung zu unterstreichen und die verdiente Aufmerksamkeit zu erlangen. Mein eigener Finger scheint nicht so talentiert zu sein. Keiner beachtet mich. Nicht, dass irgendjemand hier wäre, dessen Aufmerksamkeit ich erlangen könnte, bloß die da vorn an der Rezeption. Sie weiß sehr wohl, dass ich hier bin, und gibt sich alle Mühe, mich zu ignorieren. Die bringen es noch fertig, mich ungerührt verdursten zu lassen.
Soll wohl daran liegen, dass sie heute alle Hände voll zu tun haben mit der Verleihung der County Sports Awards, die dieses Jahr hier im Hotel stattfindet, drüben im Saal. Ein ziemlicher Coup für so ein Kaff wie Rainsford, diesen Rummel aus Duncashel mit seinen beiden Hotels hierherzulocken. Emily hat das eingefädelt, die Geschäftsführerin – oder Hotelbesitzerin, sollte ich wohl besser sagen, eine Frau, die in der Lage ist, jedem die Vorzüge dieses Ortes überzeugend nahezubringen. Nicht dass ich selbst allzu viel davon in all den Jahren mitbekommen hätte.
Aber trotzdem sitze ich hier. Ich habe meine Gründe, mein Junge, ich habe meine Gründe.
Du solltest mal diesen gigantischen Spiegel hier vor mir sehen. Mächtiges Teil. Ist so breit wie der ganze Tresen, über der Reihe mit den Schnapsflaschen. Keine Ahnung, ob der aus dem ursprünglichen Haus stammt. Zehn Männer muss es gebraucht haben, um den hier aufzuhängen. Zeigt die Sofas und Stühle hinter mir, die so begierig auf all die Ärsche sind, die sich in diesem Moment in ihre schicke Kleidung quetschen. Und dann bin da noch ich, in der Ecke, wie der bekloppte Idiot, der seinen Kopf nicht rechtzeitig außer Schussweite kriegt. Und was für einen Kopf. In letzter Zeit gucke ich nicht allzu oft in den Spiegel. Als deine Mutter noch lebte, habe ich mir wohl noch ein bisschen Mühe gegeben, aber was soll das jetzt noch bringen? Es fällt mir schwer, mich anzusehen. Kann das nicht ertragen – diese immer höher werdende Stirn – das hast du ja auch lange genug mit ansehen müssen im Lauf der Jahre.
Immerhin: sauberes, weißes Hemd, steifer Kragen, blaue Krawatte, ordentlich gebunden. Der grüne Pullover, den mir deine Mutter zu dem Weihnachten vor ihrem Tod geschenkt hat, Anzug, meine Schuhe auf Hochglanz geputzt. Putzen die Leute ihre Schuhe überhaupt noch, oder bin ich der Letzte, der diese Kunst praktiziert? Sadie wäre stolz auf mich. Ein gut geratenes Exemplar von einem Mann. Vierundachtzig und ich kann immer noch mit einem Schopf Haaren und Stoppeln am Kinn dienen. Fühlt sich allerdings rau an – sehr rau. Ich weiß nicht, warum ich mir überhaupt noch die Mühe mache, mich jeden Morgen zu rasieren, wenn es mittags schon wieder eine Drahtbürste ist.
Ich weiß, ich war zu meiner Zeit nicht gerade das, was man gut aussehend nennt, aber alles, was überhaupt für mich gesprochen hat, hat sich schon seit langem verdünnisiert. Meine Haut sieht so aus, als befände sie sich auf einem Marathonlauf in Richtung Süden. Aber weißt du, was? Meine Stimme ist immer noch die alte.
«Maurice», hat deine Großmutter immer gesagt, «mit deiner Stimme könntest du Eisberge zum Schmelzen bringen.»
Bis zum heutigen Tage klingt sie wie ein Cello – tief und weich. Macht die Leute auf mich aufmerksam. Ein Ruf zu der da vorn an der Rezeption, die so beschäftigt tut, und sie würde mir ganz schnell mein Glas einschenken. Aber ich sollte nicht für mehr Aufsehen sorgen, als unbedingt nötig ist. Ich muss später noch was erledigen, und vor mir liegt eine lange Nacht.
Da ist wieder dieser Geruch. Ich wünschte, du wärst hier und könntest ihn auch riechen: Meister Proper. Weißt du noch? Jeden Samstag roch unser ganzes Haus danach. Am Putztag deiner Mutter. Dieser beißende Gestank traf mich, sobald ich durch die Hintertür ins Haus trat. Ich musste den ganzen Abend dauernd wie ein Verrückter niesen. Freitags war der Tag zum Wischen und Bohnern. Der Duft von Wachs, selbst gemachten Pommes und geräuchertem Kabeljau wärmte mir das Herz und zauberte mir ein Lächeln aufs Gesicht. Harte Arbeit und gutes Essen sind doch eine dankbare Verbindung. Allerdings hört man nicht mehr oft von Leuten, die ihre Böden bohnern. Was ist bloß los?, frage ich mich.
Schließlich kommt doch jemand aus der Tür hinter der Bar, um mich von meinem durstigen Elend zu erlösen.
«Na, da sind Sie ja endlich», sage ich zu Emily, dem Inbegriff von Schönheit und Effizienz. «Sind Sie gekommen, um mir die Peinlichkeit zu ersparen, mir selbst einen Drink einzugießen? Ich habe sogar schon überlegt, ob ich Miss Hilfsbereit da draußen bitten soll.»
«Dann bin ich ja gerade noch mal rechtzeitig gekommen, Mr. Hannigan», sagt sie mit der Andeutung eines Lächelns, legt einen Stapel Unterlagen auf den Tresen und schaut auf ihr Handy, das obendrauf liegt. «Wir wollen doch nicht, dass Sie die Mitarbeiter mit Ihrem besonderen Charme aufschrecken.» Sie hebt den Kopf, schaut mich an, und da ist für einen Moment ein Funkeln in ihren Augen, bevor sie wieder auf das Display schaut.
«Das ist ja reizend. Da kommt man her, um in Ruhe etwas zu trinken, und kriegt so etwas zur Antwort.»
«Swetlana ist gleich da. Wir hatten nur noch eine kurze Besprechung wegen heute Abend.»
«Na, Sie sind ja wieder großzügig wie die Ryanair.»
«Ich sehe, Sie sind bester Laune», sagt sie, baut sich direkt vor mir auf und schenkt mir jetzt ihre volle Aufmerksamkeit. «Ich wusste ja nicht, dass Sie vorbeikommen. Was beschert uns denn dieses besondere Vergnügen?»
«Ich rufe doch nicht jedes Mal vorher an.»
«Nein, aber es wäre vielleicht eine gute Idee. Dann kann ich die Mitarbeiter in Alarmbereitschaft versetzen.»
Da ist es wieder – dieses Lächeln, dieses Lippenkräuseln, so köstlich wie ein großer Schlag Sahne auf einem warmen Apfeltörtchen. Und diese vor Neugier funkelnden Augen.
«Einen Bushmills?», fragt sie und greift nach einem Whiskyglas.
«Lieber erstmal eine Flasche Stout für den Anfang. Aber nicht aus dem Kühlschrank.»
«Für den Anfang?»
Ich beachte die Sorge, die in ihrer Stimme mitklingt, einfach nicht.
«Würden Sie nachher eins mittrinken?», frage ich stattdessen.
Sie hält inne und wirft mir einen langen Blick zu.
«Ist alles in Ordnung?»
«Nur ein Drink, Emily, das ist alles.»
«Sie wissen aber schon, dass ich die County Awards an der Backe habe?», sagt sie, die Hand auf der Hüfte. «Ganz zu schweigen von einem mysteriösen VIP, der sich entschlossen hat, heute Nacht hier zu logieren. Muss alles perfekt sein. Ich habe zu viel Arbeit reingesteckt, als dass dies jetzt –»
«Emily, Emily. Heute Abend wird’s keine Überraschungen geben. Ich möchte bloß hier sitzen und ein Bier mit Ihnen trinken. Diesmal keine Bekenntnisse, ich verspreche es.»
Ich schiebe die Hand über den Tresen, als Geste, dass sie sich auf mich verlassen kann. Kann ihr das Misstrauen allerdings nicht verdenken, bei allem, was gewesen ist. Ich sehe, wie ihr Lächeln verblasst. Deiner Mutter und dir habe ich diese ganze Sache mit den Dollards nie wirklich erklärt, oder? Ich denke, heute Abend wird es zum Teil eben darum gehen.
«Ich bezweifle, dass ich Zeit dafür habe», sagt Emily, jetzt wieder vor mir stehend und mich immer noch misstrauisch musternd, «aber ich werde versuchen, noch mal zu Ihnen zu stoßen.»
Sie bückt sich leicht und holt mit ihrem erfahrenen Griff eine Flasche Guinness aus dem vollen Regal unten – man kann diese makellose Ordnung der Flaschen nur bewundern, deren Etiketten mit der Harfe alle stolz nach außen gedreht sind. Emilys Werk. Sie sorgt für einen gut geordneten Auftritt.
Durch die Tür schlüpft ein junges Ding und gesellt sich zu ihr.
«Wunderbar», sagt Emily zu ihr. «Jetzt gehört die Bar ganz Ihnen. Hier, geben Sie das mal Mr Hannigan dort drüben, bevor er ohnmächtig wird. Und Sie», fährt sie fort und zeigt mit einem ihrer langen, wunderbaren Fingernägel auf mich, «seien Sie nett zu ihr. Swetlana ist neu hier.» Mit dieser Mahnung packt sie ihren Stapel Unterlagen und verschwindet.
Swetlana nimmt die Flasche und findet den Öffner mit ein wenig Unterstützung durch meinen Zeigefinger unter dem Tresen, stellt die Flasche und ein Glas vor mir ab und eilt dann ans entfernte Ende des Tresens. Ich gieße mir ein bisschen was ein, bis die schaumige Krone die Kante des gewölbten Glases erreicht, und dann warte ich, dass der Schaum sich setzt. Ich sehe mich um und bedenke diesen Tag, dieses Jahr, die zwei Jahre in der Tat, ohne deine Mutter, und ich bin müde, und ehrlich gesagt habe ich auch Angst. Ich streiche mir über die Stoppeln an meinem Kinn, während ich zusehe, wie die Schaumkrone sinkt. Dann huste ich und räuspere meine Sorgen heraus, jetzt führt kein Weg mehr zurück, mein Junge. Kein Weg mehr zurück.
Durch die großen Fenster zu meiner Linken, die bis zum Boden reichen, sehe ich die Wagen vorbeifahren. Ein paar erkenne ich: Der Audi A8, das ist Brennan aus Duncashel, dem die Zementfabrik gehört; der Škoda Octavia mit der fehlenden linken Radkappe ist von Mick Moran. Da ist Lavins Schrottkiste, die direkt vor seinem Zeitungsgeschäft parkt. Ein alter, roter Ford Fiesta. Macht mir mächtig Spaß, dort zu parken, wann immer ich den Platz leer vorfinde.
«Du kannst hier nicht parken, Hannigan», keift er dann und beugt sich aus dem Fahrerfenster, sobald er von da, wo er gewesen ist, wieder zurückkehrt. «Wie soll ich so meine Lieferungen einladen, hm?» Sein Kopf mit diesem wilden Haarschopf wackelt dabei wie verrückt, der Wagen steht in der zweiten Reihe und hält den ganzen Verkehr auf. «Hast du nicht das Schild gesehen? Parken verboten, Tag und Nacht.»
Ich lehne an seiner Mauer und lese die Zeitung.
«Jetzt bleib mal auf dem Teppich, Lavin», sage ich dann und raschele ordentlich mit der Zeitung. «Es war ein Notfall.»
«Ist das jetzt schon ein Notfall, wenn man sich morgens die Zeitung holt?»
«Ich kann meine Besorgungen auch woanders erledigen.»
«Oh ja, das kannst du natürlich, Hannigan. Das kannst du.»
«Der Zeitungsladen in Duncashel hat jetzt auch eine Kaffeemaschine, hab ich gehört.»
«Dann kannst du deinen Scheißjeep auf dem Weg dahin ja wegfahren.»
«Ich trinke gar keinen Kaffee», sage ich, öffne die Wagentür, steige ein und schalte den Rückwärtsgang ein.
Es sind die kleinen Freuden, mein Junge, die das Leben versüßen.
Ein weiterer Arbeitstag ist vorüber. Hände winken, Hupen dröhnen. Autofenster sind runtergelassen, die Ellbogen ragen heraus, und alle plaudern noch mal miteinander, bevor es mit Bleifuß nach Hause geht für einen Abend vor der Glotze. Ein paar werden später natürlich wieder auftauchen, in etwas Glänzendes verwandelt. Die neue Kleidung und den neuen Haarschnitt vorführen.
Ich hebe das Glas und gieße nach, bis es voll ist und die Flüssigkeit sich setzen kann. Meine Finger mit ihren dunklen, verkrusteten Schrunden klopfen an das Glas, um die Sache ein bisschen zu beschleunigen. Ich werfe noch mal einen Blick in den Spiegel und proste mir selbst zu, bevor ich den ersten, gesegneten Schluck nehme.
Die cremige Dichte eines Glases Stout ist einfach unschlagbar. Gibt dem Körper Halt und massiert die Stimmbänder auf dem Weg nach unten. Das ist noch so etwas im Zusammenhang mit meiner Stimme: Sie lässt mich jünger erscheinen. Oh ja, am Telefon verrät sie nicht, dass ich hundert verhärmte Falten habe und dritte Zähne, die gern mal tun, was sie wollen. Sie erweckt den Eindruck, als wäre ich total auf der Höhe, distinguiert und gut aussehend. Ein Mann, mit dem man rechnen muss. Wobei Letzteres ja auch stimmt. Weiß gar nicht, wo ich das herhabe – bin der Einzige in der Familie, der mit dieser Gabe gesegnet ist. Damit habe ich auch diese ganzen Immobilienmakler eingewickelt; nicht dass sie allzu viel Überredung gebraucht hätten, reichte schon, dass unsere Farm auf der Schokoladenseite der Bezirksgrenze zwischen Meath und Dublin liegt, allseits beneidet in der Gegend.
Aber diese Jungs mit ihren protzigen Krawatten und blank geputzten Schuhen konnten sich gar nicht mehr einkriegen, als ich ihnen erzählte, wie ausgedehnt unser Landbesitz war; nickten wie diese Wackeldackel hinten auf den Hutablagen in den Autos. Sei versichert, ich habe sie auf Herz und Nieren geprüft. Ich lasse niemanden an mein Geld, der sich nicht jeden Penny hart verdient hat. Spazierte mit denen jeden Quadratzentimeter meines Landes auf und ab, bis sie die Farbe ihrer Schuhe nicht mehr erkennen konnten. Und einer wollte das Geschäft so dringend abschließen wie der nächste. Auf meinen Ställen lässt sich keine Fliege nieder, wie mein Vater immer zu sagen pflegte. Am Ende habe ich mich entschlossen, mein kleines Reich an den Höchstbietenden zu verkaufen, einen gewissen Anthony Farrell. Musste einfach der sein – nicht weil er mich mit seinen Sprüchen beeindruckt hätte, in der Hinsicht waren sie alle gleich. Es war schlicht die Tatsache, dass er den gleichen Vornamen trug wie dein Onkel. Ist seit siebzig Jahren tot, und ich vergöttere den Mann noch immer. Anthony, der Jüngere, hat mich in meiner Wahl bestätigt, hat nicht haltgemacht, bis er das Haus und das Geschäft für eine stolze Summe verkauft hatte. Hab es gestern Abend endgültig geräumt, das Haus.
Im Verlauf des letzten Jahres habe ich Zimmer für Zimmer ausgeräumt und den Inhalt verpackt. Jeden Tag ein bisschen. Ich habe auf jede Kiste einen Namen geschrieben, damit du weißt, was zu wem gehört: Maurice, Sadie, Kevin, Noreen, Molly – ihre war die kleinste. All das Einpacken und Herumschleppen hat mich allerdings beinahe umgebracht. Ohne die jungen Männer, die Anthony mir vorbeigeschickt hat, hätte ich es nie geschafft. Ihre Namen wollen mir jetzt nicht einfallen, Derek oder Des … aber was soll’s, oder? Meist habe ich nur so getan, als würde ich helfen; mehr der Chefaufseher. Sie waren wirklich fähig; von jungen Leuten erwartet man das heutzutage ja eher selten.
Ich habe die lebensnotwendigen Dinge aufgehoben, bis heute Morgen, als Anthony dann die letzte Kiste in seinen Wagen geladen hat. Es hat sich komisch angefühlt, Kevin, alles ziehen zu lassen. Wie klein diese letzte Kiste auf seinem Beifahrersitz war, das hat mich richtig mitgenommen. Nicht, dass da irgendetwas Wertvolles drin gewesen wäre, nur der Wasserkessel, das Radio, meine paar Kleidungsstücke, Rasierzeug, was man eben so braucht. Den ganzen Rest habe ich in den Müllcontainer geschmissen, den ich angemietet hatte. Die Meath Chronicles wurden als Letztes weggeworfen. Nie ohne die Meath Chronicles wegen der lokalen Wirtschaftsseiten und der Sportergebnisse, obwohl ich die Spiele am Sonntag immer schon gesehen hatte. Am meisten haben mich immer die lokalen Spiele und die in der Bezirksliga interessiert. Ich muss die Ausgaben von sechs Monaten neben mir auf dem Sofa gestapelt haben, am Ende in einem einzigen, lawinenartigen Chaos. Wenn Sadie noch da gewesen wäre, hätte ich mir das natürlich niemals erlauben können. Aber wenn ich den Stapel richtig ausbalanciert hatte, stand mein Tee immer genau auf der richtigen Höhe. Falls es keine plötzlichen Bewegungen gab, aber das war auch nicht der Fall, so flink komme ich in letzter Zeit nicht mehr vom Sofa hoch.
Anthony wird die Kisten irgendwo in der Nähe seines Büros lagern. Unsere Leben in Dublin verwahrt – kaum zu glauben. Die entscheidenden Überbleibsel habe ich bei mir. In meiner Innentasche habe ich mein Portemonnaie, einen Kugelschreiber und etwas Papier für ein paar Notizen, da ich immer vergesslicher werde. In den anderen Taschen habe ich den Hotelzimmerschlüssel, schwer und griffig; die braun-schwarze Pfeife meines Vaters, die ich selbst nie geraucht habe, die aber glänzt und glatt gerieben ist, weil er dauernd mit seinem Daumen darübergestrichen hat; ein paar Fotos; eine Handvoll Quittungen; meine Brille; das Täschchen deiner Mutter für ihre Haarnadeln; mein Handy; und ein paar Gummibänder, Büroklammern und Sicherheitsnadeln – na ja, man weiß ja nie, wann man die mal brauchen kann. Und natürlich hab ich deinen Whisky bei mir, außer Sicht, eingepackt in eine Dunnes-Store-Tüte zu meinen Füßen.
Du wirst dich fragen, was mit Gearstick, dem Hund, ist. Bess, die Putzfrau, hat ihn genommen. Adam und Caitríona wären vielleicht ein wenig sauer darüber. Ich weiß, wie gern sie mit ihm gespielt haben, wenn sie hier waren. Sie mit ihren Hundeleinen und er, der in seinem ganzen Leben noch nie auch nur in die Nähe einer Leine gekommen war. Dennoch nahm er es würdevoll und ließ sich die ganze Woche lang von ihnen führen, wenn ihr da wart. Eine sanftere Seele findest du nirgends, das sage ich dir.
Weißt du noch, was deine Mutter gesagt hat, als ich ihn frisch bekommen habe? Nein, da warst du natürlich schon lange fort. Sie sagte die ganze Zeit: «Du kannst den kleinen Kerl doch nicht Gearstick nennen», obwohl er doch auf dem Nachhauseweg im Auto die ganze Zeit an der Gangschaltung herumgekaut hat. Und ich sagte: «Aber klar doch, das stört den doch nicht.»
An dem Tag ist er das erste und einzige Mal im Haus gewesen. In den letzten Monaten habe ich die Hintertür offen gelassen und versucht, ihn hereinzulocken. Widerstrebend trat er über die Schwelle in die Diele hinten und steckte den Kopf in die Küchentür, aber bloß, um mich wissen zu lassen, dass er da war. Keuchend und erwartungsvoll stand er da, rechnete mit einem Ausflug oder so etwas. Kein noch so intensives Locken mit einer von Carols Schinkenscheiben oder gar etwas Speck konnte ihn dazu bewegen, auch nur einen Schritt weiter zu tun. Ich hätte es ja gern gehabt, wenn er sich beim Fernsehschauen zu mir gesetzt hätte oder sich einfach nur unter den Tisch gelegt hätte, wenn ich zu Abend aß. Aber er war nicht dazu zu bewegen. Ich vermute, ich habe ihm im Laufe der Jahre öfter mal mit einem Stock gedroht, und so wollte er es nicht riskieren. Am Ende legte er sich einfach hin und schlief auf der schmuddeligen Fußmatte, schlummerte ein beim Lauschen auf die gedämpften Geräusche meines Lebens.
Am Tag, an dem Bess kam, um ihn abzuholen, brachte sie die ganze Familie mit, ihren Mann und die drei Kinder. Alle standen herum und lächelten einander an, und ich bemühte mich, den allerbesten Eindruck abzugeben. Wir nickten und taten so, als verstünden wir, was der andere sagte. Sie kommen von den Philippinen, glaube ich zumindest, irgendwo da draußen jedenfalls. Die Kinder sprangen eine Weile lang mit Gearstick im Garten herum. Er gehorchte gut und spielte mit ihnen.
«Was isst er?», fragte Bess.
«Alles, was Sie übrig haben.»
«Übrig haben?»
«Vom Abendessen.»
«Sie geben ihm das Abendessen?»
«Die Reste, wissen Sie. Ein Stück Brot tut es auch, in Milch eingelegt.»
Sie sah mich an und runzelte die Stirn, als hätte ich gerade gefurzt. Ich merkte, wie mir allmählich die Willenskraft abhandenkam.
«Der isst alles. Geben Sie ihm irgendwas.» Ich hatte genug. Ich streichelte Gearsticks Ohr und sah das letzte Mal zu, wie er den Kopf neigte und die Augen schloss.
«Guter Junge. Und jetzt geh», sagte ich und schob ihn auf sie zu, aber er rührte sich nicht. Ich tätschelte ihm den seidigen Kopf, hielt ihm dann die Hand unters Kinn, während er aufsah, keuchend und eifrig, die Zunge an der Seite aus dem Maul hängend. In diesem Augenblick sah ich euch alle nacheinander vor mir: dich, Adam, Caitríona, Sadie. Kleine Erinnerungsfetzen der Momente, die du mit ihm verbracht hattest. Und mich sah ich auch – wie er mir auf dem Fuß folgte, während wir in diesen letzten Jahren über meine Felder spazierten. Und beinahe hätte ich nein gesagt. Hätte beinahe Bess wieder weggeschickt. Ich flehte Gearstick mit meinen Blicken an, es nicht noch schlimmer zu machen, aber jedes Mal, wenn ich ein paar Zentimeter zurückwich, folgte er mir. Was hatte ich denn von dieser treuen Seele erwartet, dass er mich einfach so verlassen würde, so wie ich es jetzt mit ihm tat? Mein Verrat saß mir wie ein Kloß in der Kehle, den ich weder herunterschlucken noch wegräuspern konnte. Am Ende konnte ich nichts anderes mehr tun, als ins Haus zu gehen und die Tür hinter mir zu schließen. Ich lehnte mit dem Rücken dagegen, wissend, dass auf der anderen Seite Gearstick stand, hochsah, aufpasste und darauf wartete, dass sich der Türgriff drehte. Ich zwang mich weiterzugehen, in die Küche, und der Verlockung zu widerstehen, aus dem Fenster zu schauen, während ich das Getümmel hörte, als sie Anlauf nahmen, um ihn in ihren Kombi zu kriegen. Stattdessen bewegte ich mich weiter ins Haus hinein, murmelte vor mich hin und versuchte, die Last eines weiteren Endes auszublenden, eines weiteren Verlustes in diesem verschlissenen Leben.
Ich habe nie gefragt, wo sie wohnen. Ich weiß bloß, dass es irgendwo in der Stadt ist. Vielleicht in einem Reihenhaus mit Handtuchgarten oder, noch schlimmer, in einer Wohnung. Ich bin mir nicht sicher, ob Bess weiß, worauf sie sich eingelassen hat mit einem Hund wie diesem, der bloß draußen gelebt hat. Es hieß entweder sie oder das Tierheim; vielleicht wäre Letzteres gütiger gewesen. Ich weiß, ich hätte ihn jedem von uns hier um mich herum geben können. Die wären doch alle froh gewesen, so einen guten Hund wie Gearstick zu haben, aber dann hätten sie gleich gewusst, dass etwas im Busch war. Als Bess schließlich wegfuhr, saß ich im Wohnzimmer und schloss die Augen, lauschte darauf, wie sich das Motorengeräusch in der Ferne verlor, und stellte mir Gearsticks Verwirrung vor. Ich strich mir mit der Hand übers Gesicht, kriegte den Mund nicht mehr zu, schob mit aller Macht das Brennen in den Augen weg.
Ich weiß schon. Das ist das erste Mal, dass du von all dem hörst – dem Verkauf des Hauses, des Grundstücks, des Lands. Aber ich konnte, tja … ich konnte es einfach nicht riskieren, dass du mich dabei aufhältst. Ich konnte das nicht zulassen, mein Sohn.
Swetlana inspiziert die Bar. Schaut sich eine Flasche nach der anderen an, guckt in die Kühlschränke, berührt mit dem Finger die Etiketten, während sie mit der Hand über jede Flasche streicht. Sie nickt mit dem Kopf, und ihre Lippen formen lautlos die Namen der Getränke, während sie sie sich einprägt. Hin und wieder sieht sie mich an, während ihre Blicke durch den Raum schweifen. Sie lächelt mich mit zusammengekniffenen Lippen an, und ich hebe mein Glas ein wenig in ihre Richtung. Dann kommt sie mit einem Tuch in der Hand hinter dem Tresen hervor, marschiert zu jedem Tisch und staubt ihn noch mal ordentlich ab. Kann sie den Meister Proper nicht riechen? Im Spiegel sehe ich die kreisenden Bewegungen ihrer Hände, die das polieren, was schon poliert ist. Sie rückt die Barstühle einen Zentimeter ab, dann wieder zurück. Eine echte Arbeitsbiene.
Nachdem Anthony heute Morgen weggefahren war, habe ich mich auf den Weg zu Robert Timoneys Büro gemacht. Ich habe immer gesagt, er ist ein Anwalt, dem man trauen kann. Keiner, der an der Bar sitzt und Gerüchte verbreitet. Ganz der Vater. Robert senior wusste, dass die Angelegenheiten eines Mannes nur ihn selbst etwas angehen. Nicht, dass ich ihn in alles eingeweiht hätte. Anthony hat mir einen Anwalt in Dublin besorgt, damit ich diesmal nicht Robert bemühen musste, ich wollte schließlich nicht, dass er wegen des Hausverkaufs misstrauisch werden und nach dem Hörer greifen würde, um dich anzurufen. Bis jetzt habe ich ihn lediglich darum gebeten, das Hotelzimmer für mich zu buchen.
«Ist er da?», fragte ich die Frau am Empfang, als ich in seiner Kanzlei eintraf. Sie ist eine Heaney. Du kennst sie; du warst immer mit ihrem Bruder Donal unterwegs.
«Er kommt gleich. Sie können dort schon mal Platz nehmen.»
Ich sah auf die Reihe schwarz gepolsterter Stühle, die direkt am Fenster stand, mit Blick auf die Hauptstraße.
«Damit die ganze Welt weiß, dass ich hier zu tun habe? Nein, danke. Ich warte in seinem Büro auf ihn.» Und schon war ich auf der Treppe.
«Das geht nicht, Mr Hannigan!», sagte sie und folgte mir. Eine schmale Treppe, kein Platz zum Überholen, ich stieg die Stufen mit gleichmäßigen, ruhigen Schritten hoch.
«Es ist abgeschlossen», fügte sie ziemlich blasiert hinzu, als wir oben waren.
«Kein Problem.» Ich langte mit der Hand oben über den Türrahmen, fand den Schlüssel und zeigte ihn ihr. «Alles geregelt», sagte ich.
Ihr entrüstetes Gesicht verschwand langsam aus meinem Blickfeld, als ich die Tür schloss, wobei ich ihr noch ein breites Lächeln schenkte.
«Sie wissen, dass das Einbruch ist! Ich rufe die Polizei», rief sie durch die Tür.
«Sehr gut», antwortete ich, schon von Roberts Sessel aus, «ich habe sowieso noch was mit Higgins zu besprechen, da schlagen wir gleich zwei Fliegen mit einer Klappe.»
Als sie nichts mehr hinzuzufügen hatte, ließ ich meinen Kopf nach hinten sinken und verfiel in einen willkommenen Halbschlaf, während ich darauf lauschte, wie sie die Treppe hinuntertrampelte.
«Freut mich, dass du es dir schon mal bequem gemacht hast, Maurice», sagte Robert, als er keine fünf Minuten später durch die Tür kam und grinsend nach meiner Hand griff. «Natürlich werd ich jetzt den ganzen Tag brauchen, um Linda wieder zu beruhigen.»
Ich bin sicher, die kleine Linda sitzt in diesem Moment zu Hause beim Abendessen und erzählt ihrem Vater die ganze Geschichte. Und ihrem alten Herrn wird es einen Heidenspaß machen, wie sie sich über mich das Maul zerreißt.
«Robert, schön, dich zu sehen!»
Ich erhob mich und begann, den Tisch zu umrunden, um zu dem nicht ganz so bequemen Besucherstuhl zu gelangen.
«Nein, bleib sitzen, bleib sitzen», sagte Robert und nahm selbst die billigere Ausführung. «Du hältst eisern dein Wort, was? Keinen Tag zu spät. Ich hab den Schlüssel, hier.»
Er legte seine Aktentasche auf den Tisch, öffnete sie und reichte mir einen altmodischen, schweren Schlüssel, den ich mir in die Tasche steckte.
«Wissen sie, dass ich es bin, der das Zimmer möchte?»
«Ein VIP, hab ich gesagt – der akzeptiert nichts als die Hochzeits-Suite», sagte er lachend. «Emily hat alles versucht, um es aus mir rauszukriegen.»
«Gut, das ist gut. Danke. Hör mal, Robert», sagte ich zögerlicher, als das sonst so meine Art ist. «Ich, äh, also, ich ziehe in ein Altersheim drüben in Richtung Kilboy. Ich hab das Haus und den Hof verkauft, um die Kosten zu decken. Kevin hat mir dabei geholfen. Hat drüben in den Staaten einen Käufer gefunden.»
Du wirst mir verzeihen, mein Junge, dass ich dich da mit reingezogen habe.
«Was?», fragte Robert, und seine Stimme erreichte eine Höhe, die ich gerade noch hören konnte. «Und wann ist das alles passiert?»
«Kevin hat es vorgeschlagen, als er das letzte Mal hier gewesen ist. Ich habe mir nichts dabei gedacht, bin davon ausgegangen, dass er das Ganze eh wieder vergisst, sobald er wieder drüben ist, aber dann, vor sechs Monaten so ungefähr, ruft er mich an und sagt, er habe einen Käufer gefunden. Irgendein Yankee, der ein bisschen Heimaterde schnuppern möchte. Und da bin ich nun, das Bankkonto platzt aus allen Nähten, und meine Koffer sind gepackt. Ich bin eigentlich überrascht, dass er dich nicht angerufen hat. Er hat gesagt, das würde er tun; aber gut, er hat bis über beide Ohren in der Zeitung gesteckt, irgendwas mit Obamacare. Aber er meldet sich bestimmt noch.»
«Tja, nun», antwortete Robert, der mich etwas verärgert anblickte, weil wir ihn nicht mit ins Boot geholt hatten. «Geht mich dann wohl nichts mehr an, schätze ich, wenn alles unterschrieben und einwandfrei ist und niemand dich übers Ohr gehauen hat.»
«Richtig. Es ist alles unter Dach und Fach.»
«Ich hab dich nie für einen Mann fürs Altersheim gehalten, Maurice», sagte er. So schnell ließ er mich nicht vom Haken.
«Bin ich auch nicht. Konnte bloß Kevins Gezeter nicht mehr hören. Ein unbeschwertes Leben, das ist alles, was ich jetzt noch will. Es ist schlimm genug, dass Sadie nicht mehr da ist.» Man muss bloß auf die Tränendrüsen drücken, mein Sohn, das funktioniert immer.
«Natürlich, natürlich. Das ist bestimmt nicht leicht, Maurice. Wie lang ist sie, äh, jetzt schon nicht mehr?»
«Auf den Tag genau seit zwei Jahren.»
«Tatsächlich?», sagte er und sah tief betroffen aus. «So lang kam mir das gar nicht vor.»
«Mir kommt es vor wie ein ganzes Leben.»
Sein Blick wandte sich von mir ab, als er seinen Laptop hochfuhr.
«Ich dagegen bin natürlich genau der Typ für Altersheime», sagte er. «Melde mich doch schon mal an, hab ich zu Yvonne gesagt. Wirklich, ich kann’s gar nicht erwarten, rundum betreut zu werden.»
Mit vierzig kann ein Mann das sagen, wenn er zu Hause eine Frau und zwei Kinder hat.
«Dann ist diese Hochzeits-Suite wohl dein endgültiger Abschied von Rainsford, stimmt’s?»
«So könnte man das sagen», antwortete ich und warf einen Blick auf das Hotel, das auf der anderen Straßenseite in all seinem sonnenbeschienenen Glanz stand.
Weißt du, Kevin, ich bin 1940 das erste Mal hierhergekommen, um zu arbeiten, bevor auch nur die Rede davon war, dass das ein Hotel werden könnte. Damals war es noch das Haus der Dollards. Dafür, dass es als Herrenhaus galt, sah es sehr merkwürdig aus. Die Eingangstür führte direkt auf die Hauptstraße des Dorfes, so wie man es vielleicht an einem Platz in Dublin sehen kann. Den ursprünglichen Besitzern muss die Vorstellung gefallen haben, dass direkt vor ihrer Türschwelle ein ganzes Dorf buchstäblich auf ihre Anweisungen wartete. Kein großes Tor, keine ellenlange Einfahrt – das lag alles auf der Rückseite. Baumreihen gingen jeweils von den Seiten des Hauses ab wie Bühnenvorhänge und markierten die Grenzen des Gutes, das sich hinterm Haus weit und ausgedehnt erstreckte. Die meisten Bäume stehen jetzt nicht mehr, und die Hauptstraße hat sich ausgedehnt und führt inzwischen rechts um das Hotel herum, während auf der linken Seite eine Ladenreihe ist. Der Rest des zum Gut gehörenden Lands, den die Stadt nicht für die Erweiterung des Ortes erworben hat, ist immer noch da, aber er gehört nicht mehr den Dollards, wie wir alle wissen.
Ich war gerade erst zehn geworden, als ich anfing, auf dem Gut als Landarbeiter zu arbeiten. Unser Land, also, das Land meines Vaters, so klein es damals war, grenzte an ihres. Meine Zeit als ihr Angestellter war nicht gerade die glücklichste in meinem Leben. Genau genommen war sie so unglücklich, dass ich mir, als ich sechs Jahre später ging, schwor, nie wieder einen Schatten auf ihre Tür zu werfen, und ich hätte das auch nicht getan, wäret du und Rosaleen nicht so entschlossen gewesen, eure Hochzeit hier zu feiern. Habe eure Obsession nie verstanden, auch nicht die von Sadie in dieser Sache. Sadie war ja noch schlimmer, kriegte sich gar nicht mehr ein darüber, wie prächtig das Hotel doch sei und wie luxuriös die Zimmer. Sie brachte mich zum Wahnsinn mit ihrer Schwärmerei für die Hochzeits-Suite. Und bei dieser Hochzeitsmesse damals fürchtete ich ernstlich, sie könnte eine Herzattacke kriegen. Aber vielleicht war das alles auch Schauspielerei, als Gegengewicht zu meinem mangelnden Enthusiasmus. Ich bin nun mal keiner, der anderen etwas vormachen kann.
«Dies war vor dem Umbau das Schlafzimmer der Eigentümer, Amelia und Hugh Dollard», sagte der Hotelmanager und strahlte wie ein Honigkuchenpferd, als wäre das wer weiß was Erstaunliches.
An dem Punkt habe ich mich ausgeklinkt und bin direkt in die Bar gegangen. Saß genau an derselben Stelle wie jetzt und kippte einen Whisky, um ihren Untergang zu feiern. Ich weiß nicht mehr, wer mich damals bedient hat, dieses junge Ding allerdings bestimmt nicht – da kommt sie gerade hereingewankt mit einem ganzen Turm von Gläsern, weiß der Himmel, wo sie die alle hinstellen will, ist doch überall unter dem Tresen schon alles bis oben hin voll. In meinem ganzen Leben habe ich nie wieder so tief ins Glas geschaut wie an jenem Tag. Mein Kopf dachte, ich hätte mir den Hals gebrochen, weil ich mich weigerte aufzusehen und diesen Ort zur Kenntnis zu nehmen oder irgendeinen von denen, hätte sich einer gezeigt. An jeder Wand hingen Fotos, in den Korridoren und in allen Zimmern, und quälten diesen Berg von einem Mann mit ihrer Geschichte.
Als ihr euch schließlich zu mir geselltet, habe ich eine Runde spendiert oder eher ein paar Runden und hörte euch zu, wie ihr von den Kronleuchtern im Bankettsaal und dem Blick aus der Hochzeits-Suite schwärmtet.
«Du meinst, den Blick auf mein Land?», unterbrach ich Sadie an dem Punkt.
Damals gehörte mir schon so ziemlich jedes Feld rund um das Hotel.
«Und ist nicht gerade deshalb dieser Ort hier einfach perfekt? Man blickt auf deine prachtvolle Farm. Auf deine wundervolle, grüne Hügellandschaft, Maurice», sagte Sadie und legte ihre Hand auf meine. Ich fürchte, sie war schon ein bisschen beschwipst.
Die Besichtigung dauerte, so kam es mir jedenfalls vor, noch Stunden. Und die ganze Zeit schwenkte ich meinen Drink und versuchte, dich unter den Tisch zu trinken. Dann kam Rosaleens Familie, und schon ging es mit der ganzen Tour noch mal von vorne los. Da hat es mir dann endgültig gereicht. Ich brach auf. Sturzbetrunken fuhr ich nach Hause, um allein im Dunkeln zu sitzen.
Ich war dann ziemlich überrascht, dass ich eure Hochzeit, als sie schließlich gefeiert wurde, so genossen habe. Ich denke, es lag daran, dass ich gesehen habe, wie glücklich ihr wart, du und auch Sadie. Ich war stolz, als ich sah, wie du mit Rosaleen den Hochzeitswalzer tanztest. Und als wir alle einfielen, ich mit Rosaleens Mutter und Sadie mit dem Vater, habe ich deine Mutter lächeln gesehen und ihr Lachen gehört, als sie vorbeischwebte. Später am Abend hat sie mich sogar dazu gekriegt, noch mal einen Blick in jene Hochzeits-Suite zu werfen.
«Ist das nicht prächtig, Maurice? Was hätte ich dafür gegeben, als wir geheiratet haben! Stell dir uns mal vor, Graf und Gräfin Koks!»
Ich tanzte mit ihr durch das Schlafzimmer, krachte dabei beinahe in den Frisiertisch und fiel mit ihr aufs Bett. Der Alkohol war uns zu Kopf gestiegen. Aber mein Kuss war von ehrsamster Nüchternheit. Von all der Liebe erfüllt, die sie in mir entfache, in all den Jahren, die wir gemeinsam hatten, immer wieder aufs Neue. Dabei waren wir durchaus nicht das perfekte Ehepaar. Aber wir waren ein gutes Team, weißt du. Solide und ausdauernd. Zumindest hat es sich für mich so angefühlt. Ich habe sie allerdings nie gefragt.
«Ich werde sie uns mal mieten. Eines Tages, das verspreche ich dir, werden wir die Hochzeits-Suite ganz für uns haben», sagte ich und sah sie an. Ich habe meinen Worten absoluten Glauben geschenkt. Und ich frage mich, ob sie das wohl auch getan hat. Jetzt steh ich hier, zwei beschissene Jahre zu spät.
Sie ist im Schlaf gestorben. Sie hat immer gesagt, wenn es für sie an der Zeit sei zu gehen, wäre sie froh, wenn es auf diese Weise geschähe. Genau wie bei ihrer Schwester zuvor hatte es keinerlei Anzeichen für irgendeine Krankheit gegeben, keinerlei Beschwerden. Sie hat mich am Abend davor noch auf die Wange geküsst, bevor sie sich umdrehte mit ihrem Heiligenschein aus Lockenwicklern, die mit meinem alten Taschentuch zusammengebunden waren. Die Frau hatte absolut glattes Haar, das sie jede Nacht bis zum Anschlag zu Locken wickelte. Dieser ganze Aufwand, dachte ich immer, wenn ich ihr vom Bett aus zusah, wie sie am Frisiertisch saß – was war denn bloß falsch an den seidigen, langen Haaren, die ich immer nur für ein paar Sekunden zu sehen bekam? Aber weißt du, was? Ich würde jetzt meinen letzten Atemzug dafür geben, um sie noch einmal vor jenem Spiegel zu erblicken. Ich würde jede Handbewegung mit absoluter Bewunderung betrachten, jeden Bürstenstrich würdigen.
An jenem Morgen war ich in der Küche, und das Radio lief, und ich hatte mich schon rasiert, bevor mir auffiel, dass ich das Schlurfen ihrer Pantoffeln oder ihr übliches Summen noch gar nicht gehört hatte. Als ich den Kessel aufgesetzt und sie immer noch nicht erblickt hatte, wusste ich, dass irgendetwas passiert sein musste. Und so ließ ich die Stimme des Nachrichtensprechers hinter mir herwehen, während ich wieder durch den Flur zurückging. Mick Wallace und seine Steuerflucht. Das Bild von dem weißen, dünnen Haar und dem rosa Hemd dieses Mannes fror regelrecht in meinem Hirn ein, als ich an unserer Schlafzimmertür stand und begriff, dass sie immer noch dort im Bett lag, wo ich sie zurückgelassen hatte.
Verfluchter Mick Wallace.
Ich berührte ihr Gesicht und spürte die Kälte ihres Todes. Meine Knie wurden sofort weich. Zusammengekauert auf dem Bettrand, blickte ich auf ihr Gesicht, das nur wenige Zentimeter von meinem entfernt war. Es sah zufrieden aus. Keine einzige Sorge mehr. Noch ein roter Glanz auf ihren Wangen, oder stelle ich mir das bloß vor? Meine Fingerspitzen spürten den weichen Falten um ihre Augen nach und fanden dann ihre Hand unter der Bettdecke. Ich hielt sie in meiner eigenen, versuchte, sie zu wärmen. Hielt sie mir an die Wange, rieb sie. Nicht dass ich dachte, ich könnte sie wieder ins Leben zurückholen oder so, es war bloß … ich weiß nicht, es war einfach das, was ich tat. Ich wollte nicht, dass ihr kalt war, nehme ich an. Sie hasste es zu frieren. Es ist eines der wenigen Dinge, an die ich mich im Zusammenhang mit ihrem Tod und ihrem Begräbnis überhaupt erinnern kann – jene stille Zeit, in der sie und ich allein waren und niemand anderes dabei. Frag mich nicht, was danach passiert ist, wer gekommen ist oder wer was gesagt hat, das ist alles in meiner Erinnerung vollkommen verwischt. Ich saß bloß in meinem Sessel im Salon und hielt im Geiste immer noch ihre Hand in meiner – meine Sadie.
Ich habe dich natürlich angerufen. Zumindest hast du mir das so erzählt, als ich Monate später zugeben musste, dass ich mich nicht daran erinnern konnte. Ich war wohl auch einigermaßen beieinander, als du und Rosaleen und die Kinder gekommen seid, um euch von ihr zu verabschieden. Ich weiß noch, dass ich sah, wie sich deine Arme hoben, um mich zu umarmen, als ich in der Eingangstür stand, und wie sie zurück an deine Seiten sanken, als du mein Gesicht sahst. Du hast mir stattdessen deine Hand gegeben. Du hast meine Hand fest gepackt, und meine Blicke konzentrierten sich dann darauf, wie die beiden Hände ineinander verschränkt waren, bis du sie wieder losgelassen hast. Da hast du mir auf die Schulter geklopft, als du an mir vorbei in die Diele gingst. Ich kann deine Berührung dort immer noch spüren, das einzige Zeichen dafür, dass du mehr als ein weiterer Bekannter warst, der gekommen war, um seine Anteilnahme zu bekunden. Wie ich mich dafür schäme. Ich wünschte jetzt, ich hätte dich in die Arme genommen, an deiner Schulter geweint und dir die Chance gegeben, dasselbe zu tun. Aber nein, ich hatte wohl neben meiner eigenen Trauer nicht auch noch Raum für deine.
Und was noch dazukommt, ich hätte dich nicht wieder zurück nach New Jersey fahren lassen dürfen, so voller Sorge um mich. Aber ich konnte mich einfach nicht dazu aufraffen, konnte mich beinahe gar nicht mehr aufraffen. Wenn es mir überhaupt mal gelang, aus dem Bett zu kommen, dann kam ich auch nur bis zu meinem Sessel im Wohnzimmer. Da saß ich dann mit Sadie und spazierte durch unser gemeinsames Leben, bis eine Tasse Tee vor mir erschien und mich wieder in mein ungewolltes Witwerdasein zurückholte. Und ich weiß, du wärst nicht so bald wieder in die Staaten zurückgekehrt, wenn Robert nicht gewesen wäre, der dich davon überzeugte, dass er regelmäßig bei mir vorbeischauen und dich beim ersten Anzeichen zur Sorge sofort anrufen würde.
Zum nächsten Weihnachtsfest kamt ihr alle wieder nach Hause. Wir sollten zu deinen Schwiegereltern, Rosaleens Familie, zum Abendessen kommen. Gute Leute, um die ich mich in all den Jahren allerdings nicht allzu sehr bemüht hatte. Im letzten Moment weigerte ich mich mitzugehen.
«Hab zu viel zu tun», sagte ich.
Ich weiß, dass sie nur eine halbe Stunde mit dem Auto entfernt wohnten, aber ich konnte Sadie nicht allein lassen, nicht am ersten Weihnachtsfest danach, das fühlte sich nicht richtig an. Also schicktest du Rosaleen und die Kinder dorthin und bliebst bei mir. Ich weiß nicht einmal mehr, was wir eigentlich gegessen haben. Dosensuppe vielleicht. Ein paar Stunden später kamen sie wieder, mit zwei schwarzen Plastiktüten voller Geschenken für die Kinder und zwei Platten mit Weihnachtsessen in Alufolie. Habe ich es in jenem Jahr überhaupt geschafft, Weihnachtsgeschenke für die Kinder zu kaufen? Das hatte deine Mutter immer erledigt.
Damals fand das erste Gespräch über das Altersheim statt. Na ja, wenn ich das so sage, meine ich, es war das erste Mal, dass es in meiner Gegenwart angesprochen wurde. Sicher ist das Thema schon in vielen Gesprächen erörtert worden, bevor es mein Ohr erreichte. Natürlich wusste ich, dass das kommen würde. Welcher arme Witwer, welche arme Witwe, die irgendwo da draußen allein lebt, fürchtet nicht den Moment, in dem das Thema aufkommt?
«Das kannst du vergessen», habe ich dir gesagt. «Ich würde doch wie ein Vollidiot aussehen, wenn ich TV-Bingo mit einem Haufen alter Omas in Strickjacken spiele, statt draußen zu sein und das Vieh zu versorgen.»
Fairerweise muss ich sagen, dass du gelacht hast. Dieses laute, zuversichtliche Lachen – vielleicht hast du ja doch etwas von meiner Stimmgewalt geerbt.
«Na gut, Dad», sagtest du und legtest deine Hand auf mein Knie, «wir dachten bloß, du wärest da sicherer.»
«Sicherer? Was meinst du mit sicherer?»
«Na ja, man hört ja heutzutage alle möglichen Geschichten über Leute, du weißt schon, die fremde Grundstücke betreten und –»
«Klar, und hab ich nicht genau dafür dieses Prachtstück?», sagte ich und legte die Hand auf meine treue Winchester.
Du sahst verwirrt aus. Aber ich wollte mein Leben nicht aufgeben; erst, wenn ich so weit war.
So hart sich das vielleicht anhören mag, in gewisser Weise bin ich doch ganz froh, dass du so weit weg lebst. Ich könnte die dauernde Mahnung daran, dass man sich um mich Sorgen macht, nicht ertragen. Ich schätze doch, deine größte Sorge ist, dass ich am Ende noch einen armen, harmlosen Wanderer erschießen könnte, der aus Versehen mein Land betreten hat.
Vielleicht ist es nur ein kleiner Trost, aber ich hoffe, wenn du nach Hause kommst, siehst du, dass ich zumindest sauber bin. Was das anbelangt, so komme ich absolut klar. Ich stinke nicht, nicht wie einige andere, da könnte ich ein paar Namen nennen. Alter ist keine Entschuldigung dafür, dass man zum Himmel stinkt. Ich funkele regelrecht, wasche mich jeden Morgen mit dem Waschlappen, und natürlich bade ich einmal in der Woche. Ungefähr vor fünf Jahren habe ich so einen Badewannengriff anbringen lassen, und jetzt komme ich so leicht rein und wieder raus, wie ich das erste Pint heben kann. Ich stehe nicht so aufs Duschen, hab dem noch nie was abgewinnen können. Immer wenn ich eine Dusche sehe, fange ich an zu frieren, deshalb habe ich auch keine einbauen lassen, trotz der Proteste deiner Mutter.
Meine größte Entdeckung in letzter Zeit ist die Wäscherei drüben in Duncashel, die meine Wäsche abholt und drei Tage später wieder zurückbringt. Nicht wie die hier am Ort, die bringt etwas so Hilfreiches nicht annähernd zustande. Jede Woche kriegt Pristine Pete’s meine Sachen und schickt mir meine Hemden wieder zurück, frischer und sauberer, als Sadie sie je hätte hinkriegen können, wie blasphemisch das auch klingen mag.
Und dann gibt es da ja auch noch Bess, die das Haus putzt. Zweimal die Woche, ohne Ausnahme. Poliert und schrubbt es, bis es wieder blitzblank ist. Ich glaube, deine Mutter hätte sie gemocht.
«Ich nehme eure beste Putzfrau, die kein Englisch spricht», sagte ich zu der Agentur in Dublin, «ich will niemanden von hier. Ich möchte eine Verschwiegene, die kein Klatschmaul ist. Wenn es nötig ist, zahl ich extra für ihr Benzin.»
Sie kocht sogar. Lässt mir gleich für die ganze Woche ein paar Eintöpfe da. Wohlgemerkt, sie schmecken überhaupt nicht wie die von Sadie; ich könnte dir gar nicht sagen, was da genau drin ist. Ich habe eine Weile gebraucht, um mich an sie zu gewöhnen. Eine Menge Knoblauch anscheinend. Aber es hat mich selbst überrascht, als ich begann, mich auf sie zu freuen, besonders auf den mit Hühnchen. Die ganze Zeit mit Bess, die mich aufrechterhielt, kriegte sich Robert gar nicht mehr ein, erzählte mir, dass ich das Geld für die Putzfrau von der Gesundheitsbehörde wiederkriegen könnte und obendrauf auch noch Essen auf Rädern.
«Bist du wahnsinnig?», sagte ich. «Ich habe in meinem ganzen Leben keine Almosen angenommen, und werde ganz gewiss nicht jetzt damit anfangen.»
Swetlana ist herbeigeschlendert. Hat ihre Kontrollgänge, das Putzen und Gläserstapeln beendet. In den letzten Minuten ist sie hinter der Bar hin- und hergetigert, wartet wohl darauf, dass die Gästehorden hereinbrechen.
«Sie essen später hier auch zu Abend, ja?»
Ich mag ihren Namen. Swetlana. Der ist geradeheraus, messerscharf, hat aber auch etwas Schönes an sich. Ich frage mich, wie ich auf sie wirke. Bekloppt, nehme ich an. Wie ich hier sitze, gedankenverloren, ab und zu etwas vor mich hin murmele. Sie beugt sich auf dem Tresen vor, will, dass endlich etwas passiert, selbst ein lahmes Gespräch mit dem alten Knacker an der Bar scheint noch besser als gar nichts.
«Nein, mach ich nicht», sage ich, und normalerweise belasse ich es dabei. Aber heute Abend ist kein normaler Abend. «Ist das heute Ihr erster Abend hier?», frage ich.
«Zweiter. Gestern Abend arbeite ich auch.»
Ich nicke, schwenke den letzten Tropfen am Boden meines Glases hin und her, bevor ich ihn herunterkippe. Bereit, den ersten der fünf Toasts auszubringen: fünf Trinksprüche, fünf Leute, fünf Erinnerungen. Ich schiebe meine leere Flasche zurück über den Tresen zu Swetlana. Und während sie sie ergreift und sich abwendet, glücklich darüber, etwas zu tun zu haben, sage ich leise: «Ich bin hier, um mich zu erinnern – an alles, was ich gewesen bin, und an alles, was ich nie wieder sein werde.»