Die Vereinigten Staaten leiden unter der tief sitzenden Angst, dass der Untergang ihres Lands unmittelbar bevorsteht. In Leserbriefen, Internetseiten und öffentlichen Debatten geht es um schreckliche Kriege, ein unkontrollierbares Haushaltsdefizit, hohe Benzinpreise, Schießereien an Universitäten und eine endlose Litanei weiterer Probleme, die sämtlich nicht von der Hand zu weisen sind und die das Gefühl erzeugen, der Amerikanische Traum sei ausgeträumt und Amerika habe seinen Zenit überschritten. Wenn Sie das nicht überzeugt, fragen Sie die Europäer – diese werden Ihnen bereitwillig erklären, warum die Vereinigten Staaten ihre besten Tage hinter sich haben.
Das Merkwürdige ist nur, dass diese Vorahnungen bereits zu Zeiten von Präsident Nixon durch das Land spukten – die Themen waren weitgehend dieselben. Die Amerikaner werden von der Angst umgetrieben, die Macht und der Wohlstand der Vereinigten Staaten seien nur eingebildet und der Absturz stehe unmittelbar bevor. Dieser Eindruck herrscht über alle Partei- und Ideologiegrenzen hinweg. Umweltschützer und bibeltreue Christen verkünden dieselbe Botschaft: Wenn wir nicht Reue zeigen und umkehren, werden wir bestraft werden – aber vielleicht ist es bereits zu spät.
Es ist eine interessante Feststellung, dass ein Land, das an seine göttliche Bestimmung glaubt, in der Erwartung einer unmittelbar bevorstehenden Katastrophe lebt oder zumindest von der Furcht umgetrieben wird, es könne möglicherweise nicht mehr das sein, was es einmal war. Amerikaner hegen nostalgische Gefühle für die 1950er, als alles »so viel einfacher« war. Das ist allerdings eine merkwürdige Sicht, denn die Goldenen Fünfziger waren mit dem Koreakrieg, den |27|Kommunistenverfolgungen durch McCarthy, den Rassenunruhen von Little Rock, dem Sputnikschock, der Berlinkrise und der anhaltenden nuklearen Bedrohung eine Zeit der Angst und der bösen Vorahnungen. Ein Bestseller von W.H. Auden trug den Titel The Age of Anxiety – »Das Zeitalter der Angst«. Damals erinnerte man sich ebenfalls voller Nostalgie an ein längst vergangenes Amerika, genau wie wir heute auf die Fünfziger zurückblicken.
Die Kultur der Vereinigten Staaten ist eine manische Mischung aus arroganter Selbstüberschätzung und tiefer Niedergeschlagenheit. Das heißt, das amerikanische Selbstbewusstsein wird immerfort ausgehöhlt durch die Angst, das Land könne in der Flut der schmelzenden Polkappen untergehen, oder ein zorniger Gott könne es für die Einführung der Schwulenehe zerschmettern, beides durch eigenes Verschulden. Diese Stimmungsumschwünge machen es schwer, das Land zu Beginn des 21. Jahrhunderts einzuschätzen. Tatsache ist jedoch, dass die Vereinigten Staaten über eine gewaltige Macht verfügen. Es kann durchaus sein, dass viele Amerikaner das Gefühl haben, auf eine Katastrophe zuzusteuern, doch wenn man sich die Tatsachen ansieht, fällt es schwer, sich vorzustellen, worin diese Katastrophe bestehen könnte.
Sehen wir uns einige aufschlussreiche Zahlen an. In den Vereinigten Staaten leben nur rund 4 Prozent der gesamten Weltbevölkerung, doch sie produzieren etwa 26 Prozent aller weltweiten Güter und Dienstleistungen: Im Jahr 2007 betrug ihr Bruttoinlandsprodukt rund 14 Billionen US-Dollar, verglichen mit dem Weltinlandsprodukt von 54 Billionen. Die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt ist Japan mit einem Bruttoinlandsprodukt von 4,4 Billionen US-Dollar. Die Volkswirtschaft der Vereinigten Staaten ist größer als die nächsten vier Volkswirtschaften Japan, Deutschland, China und Großbritannien zusammengenommen.
Viele Beobachter nennen den Niedergang der Auto- und Stahlbranche, die vor einer Generation noch der Stützpfeiler der US-Wirtschaft waren, als Beispiele für die Deindustrialisierung der Vereinigten Staaten. Tatsächlich werden große Teile dieser Branchen ins Ausland verlagert, weshalb die Industrie im Jahr 2006 nur noch einen Umsatz |28|von 2,8 Billionen US-Dollar erzielte. Damit ist sie allerdings noch immer die größte der Welt und rund doppelt so groß wie die Japans, der nächstgrößten Industrienation, und größer als die Japans und Chinas zusammengenommen.
Immer wieder ist die Rede von der Rohstoffknappheit. Diese ist eine Realität, und sie wird vermutlich noch ernstere Formen annehmen. Doch wir sollten uns daran erinnern, dass die Vereinigten Staaten im Jahr 2006 pro Tag rund 8,3 Millionen Barrel Rohöl produzierten. Zum Vergleich: Russland förderte im selben Jahr 9,7 Millionen Barrel pro Tag und Saudi-Arabien 10,7 Millionen. Damit erzielen die Vereinigten Staaten 87 Prozent der saudischen Fördermenge und erzeugen mehr Rohöl als der Iran, Kuwait oder die Vereinigten Arabischen Emirate. Natürlich importieren die Vereinigten Staaten zusätzlich gewaltige Mengen von Öl, doch angesichts der industriellen Produktion ist dies nur verständlich.
Ein Vergleich der Gasproduktion zeigt, dass Russland im Jahr 2006 mit einer Fördermenge von rund 630 Milliarden Kubikmetern den ersten Platz belegte – vor den Vereinigten Staaten mit rund 530 Milliarden Kubikmetern auf Platz zwei. Allerdings erzeugen die Vereinigten Staaten mehr Erdgas als die folgenden fünf Förderländer zusammen. Mit anderen Worten, obwohl beständig die Sorge geäußert wird, die Vereinigten Staaten könnten von ausländischen Energielieferanten abhängig werden, ist das Land selbst einer der größten Energieproduzenten.
Angesichts der gewaltigen Produktion der US-Wirtschaft ist es interessant festzustellen, dass die Vereinigten Staaten im internationalen Vergleich unterbevölkert sind. Weltweit kommen im Durchschnitt 49 Menschen auf jeden Quadratkilometer, in Japan sind es 338 und in Deutschland 230. In den Vereinigten Staaten beträgt die Bevölkerungsdichte dagegen nur 31 Einwohner pro Quadratkilometer, und wenn wir den kaum bewohnbaren Bundesstaat Alaska ausnehmen, sind es immer noch 34. Selbst wenn wir die Gesamtbevölkerung auf die zur Verfügung stehende landwirtschaftliche Nutzfläche umlegen, kommt in den Vereinigten Staaten fünf Mal so viel Land auf jeden Einwohner wie in Asien, fast doppelt so viel wie in Europa und dreimal |29|so viel wie im weltweiten Durchschnitt. Eine Volkswirtschaft basiert auf Land, Arbeit und Kapital. Die Zahlen zeigen, dass die Vereinigten Staaten in allen drei Bereichen noch erhebliches Wachstumspotenzial haben.
Es gibt viele Gründe, warum die Wirtschaft der Vereinigten Staaten derart stark ist, doch der einfachste ist ihre militärische Macht. Die Vereinigten Staaten beherrschen einen gesamten Kontinent, der gegenüber jeder Invasion unverwundbar ist. Nahezu jede andere Industrienation der Welt hat im 20. Jahrhundert mindestens einen verheerenden Krieg erlebt. Die Vereinigten Staaten haben zwar Kriege geführt, aber nie selbst welche erlebt. Militärische Macht und Geografie haben eine wirtschaftliche Realität geschaffen. Andere Länder haben Zeit verloren, weil sie sich von Kriegen erholen mussten. Anders die Vereinigten Staaten: Sie sind aufgrund der Kriege sogar gewachsen.
Sehen wir uns eine weitere Tatsache an, auf die ich im Verlaufe dieses Buches noch öfter zurückkommen werde. Die Marine der Vereinigten Staaten kontrolliert die Ozeane der gesamten Welt. Ob eine Dschunke im Südchinesischen Meer, ein Kreuzfahrtschiff in der Karibik, eine Dhau vor der afrikanischen Küste, ein Tanker im Persischen Golf – jedes Schiff wird von den Satelliten der Marine erfasst, welche die Weiterfahrt zulässt oder eben nicht. Die Seestreitkräfte der Vereinigten Staaten sind größer als die aller übrigen Nationen der Welt zusammengenommen.
Dies ist ein historisch völlig einmaliger Vorgang. Zu allen Zeiten gab es regional dominierende Seestreitkräfte, doch noch nie konnte eine Seemacht, selbst nicht die britische Navy, weltweit eine derartige Vorherrschaft ausüben. Das hat unter anderem zur Folge, dass die Vereinigten Staaten zwar andere Länder erobern, aber nie selbst erobert werden können. Es bedeutet jedoch auch, dass die Vereinigten Staaten effektiv den Welthandel kontrollieren. Diese Stärke ist die Grundlage ihrer Sicherheit und ihres Wohlstandes. Die Vorherrschaft auf den Weltmeeren begann nach dem Zweiten Weltkrieg, sie festigte sich gegen Ende des Europäischen Zeitalters und ist heute die Basis ihrer wirtschaftlichen und militärischen Macht.
|30|Welche vorübergehenden Schwierigkeiten die Vereinigten Staaten auch immer haben mögen, das weltweit wichtigste Problem ist die enorme Ungleichverteilung wirtschaftlicher, militärischer und politischer Macht. Jeder Versuch einer Prognose über die Entwicklungen des 21. Jahrhunderts, der nicht bei dieser immensen Macht der Vereinigten Staaten beginnt, ginge an der Realität vorbei. Doch ich würde sogar noch weiter gehen und behaupten, dass die Vereinigten Staaten heute erst am Beginn ihrer Macht stehen. Das 21. Jahrhundert wird das Amerikanische Jahrhundert.
Lassen Sie mich diese These ein wenig weiter ausführen. In den vergangenen fünf Jahrhunderten wurde das Gefüge der internationalen Beziehungen von den europäischen Anrainerstaaten des Nordatlantik beherrscht: von Portugal, Spanien, Frankreich, England und in geringerem Umfang den Niederlanden. Diese Länder veränderten die Welt und schufen das erste globale wirtschaftliche und politische System der Geschichte.
Wie wir wissen, verlor Europa im Laufe des 20. Jahrhunderts seine Macht und mit ihr seine Kolonialreiche. In dieses Vakuum stießen die Vereinigten Staaten, die dominierende Macht im Nordatlantik und die einzige Macht, die an den Atlantik und den Pazifik grenzt. Der nordamerikanische Kontinent hat die Position eingenommen, die Europa zwischen der Entdeckungsfahrt von Christoph Columbus im Jahr 1492 und dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahr 1991 innehatte, und ist zum Dreh- und Angelpunkt des internationalen Systems geworden.
Um das 21. Jahrhundert zu verstehen, müssen wir uns diese grundlegende strukturelle Verschiebung näher ansehen, die sich Ende des 20. Jahrhunderts ergeben und den Boden für ein Jahrhundert bereitet hat, das sich radikal von den vorhergehenden unterscheiden wird, so wie sich die Vereinigten Staaten von Europa unterscheiden. Ich behaupte nicht nur, dass sich etwas Außergewöhnliches ereignet hat, sondern auch, dass die Vereinigten Staaten wenig dafür konnten. Diese Entwicklung ist keine Folge von politischen Entscheidungen, sondern ist auf die Wirkungsweise von geopolitischen Kräften zurückzuführen.
Bis ins 15. Jahrhundert lebten die Menschen in hermetisch abgeschlossenen Welten. Die Menschheit begriff sich nicht als eine Einheit. Die Chinesen wussten nichts von der Existenz der Azteken, die Mayas hatten keine Ahnung von der Existenz der Zulus. Die Europäer hatten zwar von den Japanern gehört, doch sie wussten nichts über sie und hatten keinerlei Kontakt zu ihnen. Die babylonische Sprachverwirrung erschwerte die Kommunikation zwischen den Völkern. Ganze Zivilisationen lebten nebeneinander her, ohne einander wahrzunehmen.
Die Nationen an der Ostküste des Nordatlantik überwanden die Grenzen zwischen diesen abgeschotteten Regionen und fügten die Welt zu einer einzigen Einheit zusammen, deren Teile miteinander interagierten. Das Schicksal der australischen Ureinwohner war plötzlich verknüpft mit dem Verhältnis zwischen England und Irland sowie dem britischen Bedarf an überseeischen Strafkolonien. Das Schicksal der Inkas hing auf einmal zusammen mit dem Verhältnis von Spanien und Portugal. Der europäische Imperialismus schuf eine globalisierte Welt.
Die europäischen Atlantikanrainer waren der Dreh- und Angelpunkt des globalen Systems. Europa gab weitgehend vor, was im Rest der Welt passierte. Andere Nationen und Regionen handelten immer mit Blick auf Europa. Zwischen dem 16. und dem 20. Jahrhundert gab es kaum ein Fleckchen Erde, das dem europäischen Einfluss entgangen wäre. Im Guten wie im Bösen drehte sich alles um Europa. Die europäische Drehscheibe war der Nordatlantik. Wer dieses Meer beherrschte, besaß den Schlüssel für das Tor zur Welt.
Europa war weder die zivilisierteste noch die fortschrittlichste Region des Planeten. Warum also wurde es das Zentrum der Welt? Verglichen mit China und der islamischen Welt war das Europa des fünfzehnten Jahrhunderts technisch und intellektuell rückschrittlich. Warum ausgerechnet diese kleinen und abseits gelegenen Nationen? Und warum zu diesem Zeitpunkt, und nicht fünfhundert Jahre früher oder später?
|33|Der europäische Aufstieg hatte zwei Ursachen: Geld und Geografie. Europa war von Importen aus Asien abhängig, vor allem aus Indien. Der importierte Pfeffer wurde beispielsweise nicht nur als Gewürz verwendet, sondern auch zur Konservierung von Fleisch und war daher ein wichtiger Faktor der europäischen Wirtschaft. Asien war die Schatzkammer der Luxusgüter, die in Europa stark nachgefragt wurden. Die Importe wurden traditionell über die legendäre Seidenstraße und andere Handelsrouten in den Mittelmeerraum geliefert. Mit dem Aufstieg der Türkei, auf den wir später noch näher eingehen werden, kam es zur Sperrung dieser Handelswege, wodurch sich die Importe verteuerten.
Verzweifelt suchten europäische Händler nach Möglichkeiten, das Osmanische Reich zu umgehen. Spanier und Portugiesen – die Iberer – suchten nach einem nicht-militärischen Ausweg: einer alternativen Handelsroute nach Indien. Nach Ansicht der Iberer gab es nur einen einzigen Weg nach Indien, der nicht durch das Osmanische Reich führte: den Seeweg um das Horn von Afrika in den Indischen Ozean. Sie spekulierten über die Möglichkeit einer Alternativroute, die darauf basierte, dass die Erde eine Kugel war, und die sie auf dem westlichen Seeweg nach Indien bringen würde.
Dies war ein historisch einmaliger und entscheidender Moment. Zu einem anderen Zeitpunkt wären die Anrainerstaaten des Atlantik möglicherweise in Armut und Provinzialität zurückgefallen. Doch die wirtschaftlichen Zwänge waren real, die Türken stellten eine echte Gefahr dar – es bestand dringender Handlungsbedarf. Die Spanier, die gerade die Muslime von der Iberischen Halbinsel vertrieben hatten, standen auf dem Höhepunkt ihrer barbarischen Überheblichkeit. Außerdem verfügten sie endlich über die technischen Mittel, eine solche Entdeckungsfahrt durchzuführen. Mit der Karavelle hatten die Iberer ein hochseetaugliches Schiff. Dazu kam eine Vielzahl von Navigationsinstrumenten wie der Kompass und das Astrolabium. Schließlich verfügten sie über Feuerwaffen, insbesondere Kanonen. Sämtliche dieser Technologien hatten die Iberer von anderen Kulturen übernommen, doch erst sie waren es, die daraus ein effektives wirtschaftliches und militärisches System schufen, das sie in die Lage versetzte, |34|weit entfernte Länder zu erreichen, dort Kriege zu führen und diese zu gewinnen. Völker, die den Schuss einer Kanone hörten und sahen, wie ein Gebäude in die Luft flog, zeigten tendenziell größere Verhandlungsbereitschaft. Bei der Ankunft am Zielort konnten die Iberer gewissermaßen die Tür eintreten und das Kommando übernehmen. Während der nächsten Jahrhunderte beherrschten die Europäer mit ihren Schiffen, ihren Kanonen und ihrem Geld die Welt und errichteten das erste globale System, das Europäische Zeitalter.
Europa beherrschte zwar die Welt, doch nicht sich selbst. Über fünf Jahrhunderte hinweg zerriss sich der Kontinent in endlosen Kriegen. Daher gab es nie ein geeintes Europäisches Reich, sondern ein britisches, ein spanisches, ein portugiesisches, ein französisches, und so weiter. Während die Europäer Länder besetzten, Völker unterwarfen und schließlich weite Teile der Welt beherrschten, zehrten sie ihre Kräfte in endlosen Bruderkriegen auf.
Es gibt viele Gründe, weshalb die Europäer außerstande waren, sich zusammenzuschließen, doch der entscheidende ist ein einfaches geografisches Merkmal: der Ärmelkanal. Spanier, Franzosen und schließlich auch Deutsche beherrschten zu einem bestimmten Zeitpunkt das Festland, doch keinem gelang es, den Ärmelkanal zu überqueren. Und weil niemand Großbritannien unterwerfen konnte, gab es auch keinen Eroberer, der je die Kontrolle über ganz Europa gewonnen hätte. Frieden war nie mehr als ein vorübergehender Waffenstillstand. Schon zu Beginn des Ersten Weltkriegs, in dem zehn Millionen junge Männer ums Leben kamen, war Europa müde. Nach dem Krieg war das europäische Selbstbewusstsein gebrochen, und die Wirtschaft lag am Boden. Demografisch, wirtschaftlich und kulturell war Europa nur noch ein Schatten seiner selbst. Doch das war erst der Anfang.
Das Ende der alten Ordnung
Die Vereinigten Staaten gingen aus dem Ersten Weltkrieg als neue Weltmacht hervor. Diese Macht steckte allerdings noch in den Kinderschuhen. Geopolitisch war Europa noch längst nicht am Ende, und |35|psychologisch waren die Vereinigten Staaten noch nicht bereit, auf der Bühne des Weltgeschehens dauerhaft eine Rolle einzunehmen. Doch es waren zwei Dinge passiert. Erstens hatten die Vereinigten Staaten während des Ersten Weltkriegs eine eindrucksvolle Demonstration ihrer Macht abgeliefert. Und zweitens hatten sie in Europa eine Zeitbombe zurückgelassen, die ihre Macht in der Zeit nach dem nächsten Krieg sicherstellte. Diese Zeitbombe war der Friedensvertrag von Versailles, der den Ersten Weltkrieg beendete, aber viele der Konflikte, die den Krieg verursacht hatten, nicht lösen konnte. Aufgrund dieses Vertrags waren neue Auseinandersetzungen vorprogrammiert.
Tatsächlich flammte der Krieg zwanzig Jahre später wieder auf. Innerhalb von nur sechs Wochen eroberte Deutschland das benachbarte Frankreich. Die Vereinigten Staaten hielten sich zunächst heraus, doch sie stellten sicher, dass der Krieg nicht mit einem deutschen Sieg endete. Großbritannien erhielt den Widerstand aufrecht, unterstützt durch die Vereinigten Staaten und den sogenannten Lend-Lease-Act. Die meisten erinnern sich an den »Lend«-Teil und daran, dass die Vereinigten Staaten Großbritannien Kriegsmaterial zur Verfügung stellten. Doch der »Lease«-Teil wird meist vergessen: Im Gegenzug übergaben die Briten fast sämtliche ihrer Marinestützpunkte in der westlichen Hemisphäre an die Vereinigten Staaten. Damit erhielten die Vereinigten Staaten den Schlüssel zum Nordatlantik – im Klartext: zum europäischen Tor zur Welt.
Schätzungen zufolge kamen im Zweiten Weltkrieg 55 Millionen Menschen – Soldaten und Zivilisten – ums Leben. Der Krieg hinterließ ein Trümmerfeld, ganze Nationen waren verwüstet. Die Vereinigten Staaten hatten dagegen nur 500 000 gefallene Soldaten und kaum zivile Opfer zu beklagen – weniger als ein Prozent aller Kriegsopfer. Im Gegensatz zu allen anderen Kriegsteilnehmern verfügten sie nach Kriegsende über eine erheblich stärkere Industrie als zu Beginn. Keine amerikanischen Städte wurden bombardiert (mit Ausnahme von Pearl Harbor), kein amerikanisches Territorium besetzt (mit Ausnahme zweier kleiner Inseln in den Aleuten).
Dafür kontrollierten die Vereinigten Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur den Nordatlantik, sondern sämtliche Weltmeere. |36|Sie hatten mehr oder weniger ganz Westeuropa besetzt und lenkten die Geschicke Frankreichs, der Niederlande, Belgiens, Italiens und sogar Großbritanniens. Im fernen Asien hatten sie die vollständige Kontrolle über Japan.
So verloren die Europäer ihre Kolonialreiche – zum Teil aus Erschöpfung, zum Teil aus Kostengründen und zum Teil, weil deren Fortbestand nicht im Interesse der Vereinigten Staaten lag. Im Laufe der kommenden zwanzig Jahre schmolz das europäische Weltreich dahin, ohne dass die alten Kolonialherren ernsthaften Widerstand geleistet hätten. Die geopolitische Realität (die schon Jahrhunderte zuvor in Spaniens Dilemma sichtbar geworden war) kam in einer Katastrophe an ihr logisches Ende.
Die entscheidende Frage lautet nun: War der Aufstieg der Vereinigten Staaten nach 1945 das Ergebnis einer brillanten machiavellistischen Politik? In einem Krieg, der 55 Millionen Menschen das Leben gekostet hatte, erlangten die Vereinigten Staaten die Vorherrschaft über die Welt um den Preis von 500 000 Opfern. War Franklin Delano Roosevelt ein genialer und skrupelloser Politiker, oder wurden die Vereinigten Staaten eher nebenbei zur Supermacht, während sie die »vier Freiheiten« und die Charta der Vereinten Nationen verfolgten? Unterm Strich spielt das keine Rolle. In der Geopolitik sind die ungeplanten Folgen die eigentlich wichtigen.
Die Konfrontation zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion, der sogenannte Kalte Krieg, war ein globaler Konflikt. Gegenstand der Auseinandersetzungen war letztlich die Frage, wer das zerfallende Weltreich der Europäer erben würde. Obwohl beide Seiten über erhebliche militärische Mittel verfügten, waren die Vereinigten Staaten im Vorteil. Die Sowjetunion hatte zwar ein riesiges Staatsgebiet, doch sie war im Grunde ein Binnenland. Die deutlich kleineren Vereinigten Staaten hatten hingegen Zugang zu sämtlichen Weltmeeren. Die Sowjets waren nicht in der Lage, die Vereinigten Staaten einzukreisen – umgekehrt waren es diese sehr wohl. Von Norwegen über die Türkei bis zu den Aleuten schufen die Vereinigten Staaten einen Gürtel von Verbündeten rund um die Sowjetunion. Ab 1970 gehörte sogar China dazu. Wo immer die Sowjets einen Hafen hatten, wurde dieser durch die geografischen Gegebenheiten oder die amerikanischen Seestreitkräfte blockiert.
In der Geopolitik herrschen zwei widersprüchliche Auffassungen vom Zusammenhang von Geografie und Macht vor. Eine geht auf einen Engländer namens Halford John Mackinder zurück, der die Ansicht vertritt, wer Eurasien kontrolliere, der kontrolliere die Welt: »Wer Osteuropa [das russische Europa] beherrscht, beherrscht das Zentrum. Wer das Zentrum beherrscht, beherrscht die Weltinsel [Eurasien]. Wer die Weltinsel beherrscht, beherrscht die Welt.« Diese Denkweise liegt der britischen Strategie zugrunde und bestimmte die amerikanische Außenpolitik während des Kalten Kriegs, in dem es darum ging, das europäische Russland einzukreisen und abzuschnüren. Dem steht jedoch die Auffassung eines amerikanischen Admirals namens Alfred Thayer Mahan, einem weiteren geopolitischen Vordenker, gegenüber. In seinem Buch The Influence of Sea Power on History |38|widerspricht Mahan seinem britischen Kollegen Mackinder und behauptet, die Kontrolle über die Weltmeere sei der Schlüssel zur Kontrolle über die Welt.
In gewisser Hinsicht bestätigt die Geschichte beide Sichtweisen. Die Tatsache, dass die Vereinigten Staaten nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zur alleinigen Weltmacht wurden, bestätigt Mackinders Theorie. Doch Mahan verstand zwei entscheidende Faktoren: Der Zusammenbruch der Sowjetunion ist auf die amerikanische Seemacht zurückzuführen und verlieh seinerseits den Seestreitkräften der Vereinigten Staaten die Hoheit über die Weltmeere. Mahan führt aus, es sei immer günstiger, Güter auf dem See- als auf dem Luft- oder Landweg zu transportieren. Schon im fünften vorchristlichen Jahrhundert war Athen wohlhabender als Sparta, denn Athen verfügte über einen Hafen, eine Handelsflotte und Kriegsschiffe, die diese schützten. Bei ansonsten gleichen Voraussetzungen sind Seemächte immer wohlhabender als ihre im Binnenland gelegenen Nachbarn. Mit dem Beginn der Globalisierung im 15. Jahrhundert wurde diese Tatsache zu einer geopolitischen Konstante.
Die Kontrolle über die Weltmeere bedeutete zum einen, dass die Vereinigten Staaten nicht selbst nur Seehandel betreiben, sondern die Bedingungen des gesamten Seehandels vorschreiben konnten. Sie konnten die Regeln aufstellen oder die Regeln anderer Staaten aushebeln und ihnen den Zugang zu den Welthandelsrouten verwehren. Allerdings üben die Vereinigten Staaten ihren Einfluss auf das Welthandelssystem meist subtiler aus und benutzen den Zugang zum großen amerikanischen Markt als Hebel, um auf das Verhalten anderer Nationen einzuwirken. Es ist also kein Wunder, dass die Vereinigten Staaten großen Wohlstand erlangten, und dass die Sowjetunion als Binnenland nicht in der Lage war, mit ihnen in Konkurrenz zu treten.
Zum anderen verschaffte die Kontrolle über die Weltmeere den Vereinigten Staaten einen entscheidenden militärischen Vorteil. Sie selbst konnten nicht erobert werden, doch sie konnten andere Länder erobern, wann immer sie wollten. Nach 1945 konnten sie Kriege führen, ohne je eine Unterbrechung ihres Nachschubs befürchten zu müssen. Gleichzeitig konnte kein anderes Land ohne ihre Zustimmung |39|einen Seekrieg beginnen. Die Briten konnten 1982 nur deshalb den Falklandkrieg gegen Argentinien beginnen, weil die Vereinigten Staaten dies nicht verhinderten. Und als die Briten, Franzosen und Israelis 1956 gegen den Willen der Vereinigten Staaten Ägypten besetzten, mussten sie auf deren Druck schließlich wieder abziehen.
Während des Kalten Kriegs war ein Bündnis mit den Vereinigten Staaten immer profitabler als ein Bündnis mit der Sowjetunion. Die Sowjets hatten Waffen, politische Unterstützung, Technologie und vieles mehr zu bieten. Doch die Vereinigten Staaten boten Zugang zu ihrem internationalen Handelssystem und das Recht, auf dem amerikanischen Markt tätig zu werden. Das stellte jede andere Form der Unterstützung weit in den Schatten. Aus dem Handelssystem ausgeschlossen zu sein, bedeutete Armut, Teil des Handelssystems zu sein dagegen Wohlstand. Ein ausgezeichnetes Beispiel ist die unterschiedliche Entwicklung von Nord- und Südkorea sowie von Ost- und Westdeutschland.
Interessanterweise waren die Vereinigten Staaten während des Kalten Kriegs psychologisch immer in der Defensive. Der Koreakrieg, McCarthys Kommunistenjagd, der Sputnikschock, die Kubakrise, der Vietnamkrieg, der linke Terrorismus der 1970er und 80er Jahre, die Kritik der europäischen Verbündeten an Präsident Ronald Reagan – das alles hinterließ ein Gefühl der Niedergeschlagenheit und der Verunsicherung. Aufgrund der negativen Stimmungslage lebten die Amerikaner immer unter dem Eindruck, der Vorsprung gegenüber der Sowjetunion schmelze dahin. Doch angesichts der objektiven Machtverhältnisse hatten die Sowjets nie eine Chance. Dieser Widerspruch zwischen der amerikanischen Selbstwahrnehmung und der geopolitischen Realität ist nicht unwichtig, und zwar aus zwei Gründen: Zum einen wird hier deutlich, wie unreif die amerikanische Macht ist, zum anderen zeigt sich genau hier ihre immense Stärke. Diese Unsicherheit veranlasste die Vereinigten Staaten zu einem überwältigendem Aufwand und setzte große Energien frei. Während des Kalten Kriegs überließen die Amerikaner – von den politischen Führern über Ingenieure bis zu Militär- und Geheimdienstoffizieren – nichts dem Zufall.
|40|Aus diesem Grund traf sie das Ende des Kalten Kriegs vollkommen unvorbereitet. Die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten hatten die Sowjetunion eingekreist. Die Sowjets konnten es sich nicht leisten, sich den Amerikanern auf dem Meer entgegenzustellen, und mussten daher ihr Budget auf die Landstreitkräfte und den Bau von Raketen verwenden. Gleichzeitig kamen sie nie an das Wirtschaftswachstum der Vereinigten Staaten heran und konnten ihre Verbündeten nicht mit vergleichbaren wirtschaftlichen Geschenken an sich binden. Die Sowjetunion fiel immer weiter zurück, bis sie schließlich zusammenbrach.
Mit dem Ende der Sowjetunion im Jahr 1991, beinahe auf das Jahr genau fünf Jahrhunderte nach der Entdeckungsfahrt von Christoph Columbus, ging ein Zeitalter zu Ende. Zum ersten Mal seit einem halben Jahrtausend befand sich das Machtzentrum nicht mehr in Europa, und Europa war nicht mehr der Mittelpunkt der internationalen Auseinandersetzungen. Seit 1991 sind die Vereinigten Staaten die einzige Supermacht und das Zentrum des internationalen Beziehungsgefüges.
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Auf den vorangegangenen Seiten haben wir den Aufstieg der Vereinigten Staaten zur Weltmacht verfolgt. Ich möchte noch einmal auf eine wenig beachtete Tatsache zurückkommen, die ich bereits erwähnt habe und die Bände spricht. Im Jahr 1980, dem Höhepunkt der Konfrontation zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion, erreichte der transpazifische Handel erstmals die Größenordnungen des transatlantischen Handels. Nun zehn Jahre später, kurz vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion, lag der transpazifische Handel bereits 50 Prozent über dem transatlantischen Handel. Das Gleichgewicht des Welthandels und damit des weltpolitischen Systems hatte sich in noch nie dagewesener Art und Weise verschoben.
Dies hat konkrete Auswirkungen auf den Rest der Welt. Die Kontrolle der Schifffahrtsrouten ist eine kostspielige Angelegenheit. Die meisten Handelsnationen sind nicht in der Lage, diese Kosten zu übernehmen, und sind von Ländern abhängig, die dies können. Auf |41|diese Weise erlangen Seemächte erhebliche politische Macht. Die Kontrolle eines angrenzenden Gewässers ist teuer. Die Kontrolle eines Tausende Kilometer entfernten Meeres ist extrem teuer. In der Vergangenheit war nur eine Handvoll von Ländern in der Lage, diese Kosten zu tragen, und die Aufgabe ist seither weder einfacher noch billiger geworden. Ein Blick in den Verteidigungshaushalt der Vereinigten Staaten bestätigt dies. Die Marine des Lands gibt mehr Geld für den Unterhalt eines einzigen Flugzeugträgers samt Begleitflotte im Persischen Golf aus als die meisten Länder für ihr gesamtes Verteidigungsbudget. Den Atlantik und den Pazifik kontrollieren zu wollen, ohne direkt an beide Ozeane zu grenzen, würde die wirtschaftlichen Möglichkeiten eines jeden Lands sprengen.
Nur eine Nation auf dem nordamerikanischen Kontinent ist imstande, den Atlantik und den Pazifik gleichzeitig zu kontrollieren. Aus diesem Grund ist Nordamerika heute der Dreh- und Angelpunkt des internationalen Machtgefüges. Und ich nehme an, dass Nordamerika über die nächsten Jahrhunderte das Machtzentrum der Welt bleiben wird und dass die Vereinigten Staaten zumindest im kommenden Jahrhundert ihre Vormachtstellung auf dem Kontinent behalten. Doch die Tatsache, dass die Vereinigten Staaten heute die dominierende Nation des Kontinents sind, bedeutet nicht, dass sie dies auch bleiben müssen, wie das Beispiel Spaniens eindrucksvoll belegt, das einst das Europäische Zeitalter einläutete. Es ist vieles denkbar, von einem Bürgerkrieg über die Niederlage in einem Krieg bis zum Aufstieg eines anderen Staats auf dem Kontinent selbst.
Ich gehe jedoch davon aus, dass die Vereinigten Staaten mittelfristig – also für die nächsten hundert Jahre – militärisch, wirtschaftlich und technologisch derart übermächtig sein werden, dass ihr weiterer Aufstieg trotz aller Krisen und Kriege nicht aufzuhalten sein wird.
Diese Sicht ist durchaus vereinbar mit den amerikanischen Ängsten. Die Psyche der Vereinigten Staaten ist eine sonderbare Mischung aus arroganter Selbstüberschätzung und tiefen Selbstzweifeln. Interessanterweise trifft eine solche Beschreibung auch auf das Gemüt eines Heranwachsenden zu – und genau das sind die Vereinigten Staaten im 21. Jahrhundert. Die Supermacht befindet sich in einer |42|anhaltenden, pubertären Identitätskrise, die von dem neu entdeckten Gefühl der Stärke und irrationalen Stimmungsumschwüngen begleitet wird. Historisch gesehen sind die Vereinigten Staaten eine ausgesprochen junge Nation und eine unreife Gesellschaft. Daher gehören Angeberei und Verunsicherung zu dem, was wir heute von Amerika erwarten können – so fühlt sich eben ein Jugendlicher, der seinen Platz in der Welt sucht.
Doch wenn wir die Vereinigten Staaten als eine heranwachsende Nation begreifen, dann wissen wir auch, dass das Land trotz seines Selbstbildes irgendwann das Erwachsenenalter erreichen wird. Erwachsene sind in der Regel psychisch gefestigter und körperlich stärker als Jugendliche. Daher ist es stimmig, wenn wir davon ausgehen, dass sich die Vereinigten Staaten heute erst in der Frühphase ihrer Macht befinden. Es ist noch kein zivilisiertes Land. Wie das Europa das 16. Jahrhunderts sind die Vereinigten Staaten eine barbarische Nation (das ist lediglich eine Beschreibung, keine Wertung). Sie verfügen nicht über eine fertige Kultur. Sie haben jedoch einen starken Willen, und ihre Gefühle ziehen sie in unterschiedliche und widersprüchliche Richtungen.
Jede Kultur durchläuft drei Phasen. Die erste ist die der Barbarei. Barbaren halten die Gepflogenheiten ihres Dorfes für Naturgesetze und meinen, wer anders lebe als sie, sei verachtenswert und müsse entweder bekehrt oder zerstört werden. Die dritte Phase ist die Dekadenz, in der eine zynische Haltung vorherrscht: Nichts ist besser als irgendetwas anderes. Wenn Zyniker jemanden verachten, dann Menschen, die an etwas glauben. Es gibt nichts, für das es sich zu kämpfen lohnt.
Die zweite und seltenste Phase ist die Zivilisation. Zivilisierte Völker sind in der Lage, widersprüchliche Auffassungen nebeneinander zu dulden. Sie sind der Ansicht, dass es Wahrheiten gibt und dass sich ihre Kultur diesen Wahrheiten annähert. Gleichzeitig lassen sie die Möglichkeit zu, dass sie sich im Irrtum befinden könnten. Diese Mischung aus Skepsis und Glaube ist in sich instabil. Kulturen gehen schließlich von der Zivilisation in die Dekadenz über, da die Selbstgewissheit durch die Skepsis ausgehöhlt wird. In jeder Kultur leben barbarische, |43|zivilisierte und dekadente Menschen nebeneinander, doch nur eines dieser Prinzipien ist jeweils vorherrschend.
Im 16. Jahrhundert war Europa ein barbarischer Kontinent, die Selbstgewissheit des Christentums beflügelte seine Eroberungen. Im 18. und 19. Jahrhundert trat Europa in die Phase der Zivilisation ein und verfiel im Laufe des 20. Jahrhunderts in die der Dekadenz. Die Vereinigten Staaten stehen dagegen erst am Anfang ihrer Geschichte. Als einzige verbleibende Weltmacht entwickeln sie eine Kultur, die notwendig barbarisch ist. Die Vereinigten Staaten sind ein Land, in dem Rechte die Muslime wegen ihres Glaubens hassen, während Linke sie aufgrund ihrer Haltung gegenüber Frauen verachten. Diese beiden scheinbar unterschiedlichen Sichtweisen haben eines gemeinsam: die Gewissheit, dass die eigenen Werte die besten sind. Und wie jede barbarische Kultur sind auch die Amerikaner bereit, für ihre vermeintlichen Wahrheiten in den Krieg zu ziehen.
Das soll keine Wertung darstellen – man kann schließlich auch einen Jugendlichen nicht dafür verurteilen, dass er ein Jugendlicher ist. Es handelt sich um eine notwendige und unvermeidliche Entwicklungsphase. Die Vereinigten Staaten sind eine junge Nation, die scheinbar unbeholfen, plump, direkt und manchmal brutal vorgeht und oft von inneren Streitigkeiten zerrissen ist. Doch ähnlich wie Europa im 16. Jahrhundert werden sie trotz ihrer scheinbaren Unbeholfenheit bemerkenswert effektiv sein.