In den Jahren um 2040 herrscht in den Vereinigten Staaten Aufbruchstimmung, ähnlich wie in den 1990er, den 1950er und 1890er Jahren. Zehn bis zwanzig Jahre nach dem Beginn des neuen Zyklus sorgt der politische Kurswechsel für neuen wirtschaftlichen Aufschwung. Die Reformen auf dem Gebiet der Ökonomie, der Technologie und der Einwanderung, die in den 2030ern eingeleitet wurden, schlagen gegen Ende des Jahrzehnts durch. Robotertechnologie und eine durch Genforschung verbesserte medizinische Versorgung steigern die Produktivität und das Wachstum. Wie schon in den 1990er Jahren tragen die militärischen Forschungen und Entwicklungen aus der Zeit der Konfrontation mit Russland wirtschaftliche Früchte.
Doch wie so oft in der Geschichte sind Zeiten des Aufschwungs international nicht unbedingt friedliche oder stabile Zeiten. Im Jahr 2040 stellt sich immer dringlicher die Frage nach dem Verhältnis zwischen den Vereinigten Staaten und dem Rest der Welt. Die Vereinigten Staaten sind derart mächtig, dass nahezu jede ihrer Handlungen Auswirkungen auf andere Länder hat. Wenn eine Konfrontation mit ihren unabsehbaren Risiken droht, setzen die betroffenen Länder alles daran, ihr auszuweichen. Andere Nationen sind hingegen auf ausdrückliche Kooperation bedacht, da diese großzügig belohnt wird.
Um das Jahr 2040 steht die Zukunft des Pazifikraums ganz oben auf der Tagesordnung. Dabei geht es vor allem um den Nordwestpazifik, genauer: um die japanische Russland- und Chinapolitik. Vordergründig dreht es sich dabei um Japans zunehmend aggressives Auftreten bei der Durchsetzung seiner Wirtschaftspolitik auf dem asiatischen Festland, das es in Konflikt mit den Interessen anderer |182|Mächte, namentlich der Vereinigten Staaten, bringt. Dazu kommt die Frage nach der Missachtung der staatlichen Souveränität Chinas durch Japan sowie der politischen Autonomie der russischen Pazifikregion.
Was jedoch in Wirklichkeit die Besorgnis der Vereinigten Staaten erregt, sind die rasch wachsenden japanischen Seestreitkräfte sowie seine Militärsatelliten. Japan, das nach wie vor Erdöl aus dem Persischen Golf bezieht, verstärkt seine Präsenz im Südchinesischen Meer und in der Straße von Malakka. Anfang der 2040er Jahre ist Japan zunehmend besorgt um die Stabilität im Golf und patrouilliert im Indischen Ozean, um seine Schifffahrtswege zu schützen. Japan unterhält enge Wirtschaftsbeziehungen zu zahlreichen Inselstaaten im Pazifik und vereinbart die Einrichtung von Bodenkontrollstationen für seine Satelliten. Die Geheimdienste der Vereinigten Staaten gehen davon aus, dass Japan in diesen Basen auch überschallschnelle Seezielflugkörper stationiert. Heute erreichen Raketen etwa fünffache Schallgeschwindigkeit, doch Mitte des 21. Jahrhunderts werden sie mehr als doppelt so schnell sein und Geschwindigkeiten von mehr als 13 000 Kilometern pro Stunde erreichen. Neben Raketen, die direkt im Ziel einschlagen, kommen unbemannte Flugzeuge zum Einsatz, die ihre Bombenlast über ihrem Zielgebiet abwerfen und an den Ausgangsort zurückkehren.
Die Japaner agieren auf dem Wasser neben der Siebten Flotte der Vereinigten Staaten und im All neben dem US-Weltraumkommando, das bis dahin weitgehende Eigenständigkeit erlangt hat. Keine der beiden Seiten will Zwischenfälle provozieren, beide unterhalten formell freundliche Beziehungen. Doch in Japan weiß man nur zu gut, wie sehr es die Vereinigten Staaten beunruhigt, dass sie ihr Privatgewässer, den Pazifik, nicht vollständig kontrollieren.
Japan ist besonders daran gelegen, seine Schifffahrtsrouten gegen mögliche Bedrohungen aus dem Süden zu schützen, vor allem bei der Durchfahrt durch Indonesien, das zwischen dem Indischen und dem Pazifischen Ozean liegt. Die zahlreichen Inseln von Indonesien sind Heimat einer Vielzahl von ethnischen Gruppierungen. Das Land ist von inneren Konflikten zerrissen, auf verschiedenen Inseln sind Separatistenbewegungen aktiv. Japan versucht, einige dieser Gruppierungen |183|gegen andere auszuspielen, um Meerengen in indonesischen Gewässern zu schützen.
Außerdem hat Japan großes Interesse daran, die Marine der Vereinigten Staaten aus dem Westpazifik fernzuhalten. Es versucht dies auf dreierlei Weise. Erstens stationiert es auf eigenem Gebiet Anti-Schiff-Raketen, die bis tief in den Pazifik reichen. Zweitens trifft es mit seinen Wirtschaftspartnern im Pazifik – etwa den Bonin-Inseln (zu denen auch Iwo Jima gehört), den Marshall-Inseln und Nauru – Vereinbarungen über die Einrichtung von Satellitenkontrollstationen und Raketenbasen, um im Bedarfsfall die Möglichkeit zu haben, von diesen Engstellen aus den amerikanischen Handel und Militärtransport im Pazifik abfangen zu können. Dies wiederum garantiert, dass die Schiffe der US-Marine nur noch bestimmte Seewege befahren und auf diese Weise leichter von japanischen Satelliten erfasst werden können. Was die Vereinigten Staaten jedoch am meisten beunruhigt, sind die Aktivitäten der Japaner im Weltall, die dort nicht nur kommerzielle und industrielle Stationen erreichten, sondern auch militärische.
Die Vereinigten Staaten antworten wie immer mit einer komplexen politischen Strategie. In den 2010er und 2020er Jahren sind US-Geheimdienste besessen von der Vorstellung, China zu stärken und zu einer Bedrohung Russlands aufzubauen. In den 2030er Jahren wird dieser Gedanke zu einer fixen Idee des Außenministeriums, das noch nie eine Strategie zu den Akten gelegt hat, nur weil sie veraltet war. Die Vereinigten Staaten beschäftigen sich also nach wie vor mit der Schaffung eines stabilen China. Das japanische Auftreten auf dem Festland steht im Widerspruch zu den amerikanischen Bemühungen. Anfang der 2040er Jahre wird die Beziehung zwischen Washington und Peking enger, sehr zum Verdruss Japans.
Die Türkei
Inzwischen drängt die Türkei mit Entschiedenheit in den Kaukasus. Dabei agiert sie teils militärisch, teils geht sie politische Bündnisse ein. Ihre wirtschaftliche Stärke spielt hierbei eine wichtige Rolle, denn |184|der Rest der Region hat großes Interesse daran, gute Beziehungen zur neuen Wirtschaftsmacht herzustellen. Das türkische Einflussgebiet dehnt sich jedoch weit über den Kaukasus in die Ukraine und Russland aus, in die politisch unsicheren Täler von Don und Wolga und die östlich gelegene Kornkammer Russlands. Über ihren Einfluss im muslimischen Kasachstan streckt sie die Fühler bis nach Zentralasien aus. Das Schwarze Meer wird ein türkisches Binnengewässer, die Halbinsel Krim und der Hafen von Odessa handeln fast ausschließlich mit der Türkei, die in erheblichem Umfang in der Region investiert.
Russland hat vor seinem Zusammenbruch analog zum Kalten Krieg im Süden der Türkei ein eigenes Bündnissystem geschaffen. Nach dem neuerlichen Kollaps Russlands bleibt ein Gürtel instabiler Nationen zurück, der vom Nahen Osten bis nach Afghanistan reicht. Die Türkei hat wenig Interesse daran, sich mit dem Iran anzulegen, und begnügt sich damit, ihn zu isolieren. Doch die Instabilität Syriens und des Irak betrifft die türkischen Interessen direkt, zumal die Kurden erneut über die Gründung eines eigenen Staats nachdenken. Ohne russische Unterstützung sind Syrien und Irak geschwächt und werden von ihren traditionellen inneren Konflikten zerrissen. Aus Sorge, diese Instabilität könnte auf den Norden übergreifen oder eine andere Macht könnte das Vakuum füllen, wird die Türkei im Süden aktiv. Vor allem will sie verhindern, dass die Amerikaner ihnen zuvor kommen: Von deren Präsenz hatten sie bereits in den 2000er Jahren genug.
Auch der Balkan versinkt im Chaos. Die Schwäche der Russen erfasst ihre einstigen Verbündeten und sorgt regional für Ungleichgewichte. Ungarn und Rumänien unternehmen den Versuch, dieses Vakuum zum Teil zu füllen, genau wie das traditionell mit der Türkei verfeindete Griechenland. Als neue Regionalmacht wird die Türkei durch die Instabilität auch in den Balkan gezogen. Dort unterhält sie bereits enge Beziehungen zu den islamischen Staaten Bosnien und Albanien, denen an jedem Beistand zum Schutz vor ihren Nachbarn gelegen ist.
Geografisch kann eine Macht in dieser Region nur ein Ziel haben: die Kontrolle über den östlichen Mittelmeerraum und das Schwarze |185|Meer. Historisch war die Türkei sowohl Land- als auch Seemacht. Je näher eine europäische Macht dem Bosporus, der Meerenge zwischen dem Schwarzen Meer und der Ägäis, kommt, umso gefährlicher wird sie für die Türkei. Um den Bosporus zu kontrollieren, muss die Türkei dafür sorgen, dass sich die europäischen Mächte nicht auf dem Balkan festsetzen. Daher muss sie sich selbst auf dem Balkan engagieren.
Mitte der 2040er Jahren ist die Türkei eine bedeutende Regionalmacht. Sie verfügt über ein Geflecht von Bündnissen, das weit nach Russland hineinreicht und ihre Versorgung mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen und Energie sicherstellt. Über die von ihr kontrollierten Staaten Irak und Syrien reicht ihr Einfluss bis hinunter zur Arabischen Halbinsel, deren schwindende Ölreserven nach wie vor den Motor der amerikanischen Wirtschaft antreiben. Im Nordwesten reicht ihr Einflussgebiet tief in den Balkan, wo sie mit den Interessen von wichtigen amerikanischen Verbündeten wie Ungarn und Rumänien kollidiert, die ihren Einfluss ebenfalls in die Ukraine ausweiten und in der gesamten Region der nördlichen Schwarzmeerküste auf die Türkei treffen. Überall entlang der türkischen Peripherie kommt es zu Konflikten, von Guerillawiderstand bis hin zu konventionellen Kriegen.
Die Türkei baut ihre ohnehin schon starken Streitkräfte weiter aus, und zwar zu Land, zu Wasser und in der Luft. Die Kontrolle des Schwarzen Meers, der Schutz des Bosporus und ein Einsatz in der Adria zur Einflussnahme auf den Balkan erfordern erhebliche Seestreitkräfte und eine Vorherrschaft im östlichen Mittelmeer bis nach Sizilien. Nicht nur der Bosporus muss unter türkischer Kontrolle sein, sondern auch die Straße von Otranto, der Zugang zur Adria.
Es dauert nicht lange, bis die Türkei in Konflikt mit amerikanischen Verbündeten in Südosteuropa gerät. Italien beobachtet den Machtzuwachs mit Sorge. Der entscheidende Moment ist erreicht, als in Ägypten eine innenpolitische Krise ausbricht und die Türkei als führende islamische Nation Truppen entsendet, um das Land zu stabilisieren. Plötzlich kontrollieren türkische Friedenssoldaten den Suezkanal und eröffnen der Türkei die Möglichkeit, seine traditionelle Politik zu verfolgen und weiter nach Nordafrika vorzudringen. Sollte dies gelingen, wird die Türkei die entscheidende Macht im westlichen Eurasien. Israel bleibt zwar als starke Kraft erhalten, doch die türkische Macht wird es an einer weiteren Entfaltung hindern und zu einem Arrangement zwingen.
Schifffahrtsrouten im Nahen Osten
Mit der Kontrolle des Suezkanals eröffnen sich der Türkei weitere Möglichkeiten. Im Kampf gegen arabische Separatisten unterhält sie bereits Truppen in Saudi-Arabien. Da deren Nachschub auf dem Landweg schwierig ist, kann die Türkei ihre Truppen nun über den Seeweg versorgen. Damit konsolidiert sie ihre Kontrolle über die Arabische Halbinsel und wird zunehmend zu einer Gefahr für den Iran, dessen Häfen sie blockieren und den sie von Westen her angreifen kann. Das hat sie zwar nicht vor, doch allein die Bedrohung wird den Iran ruhig stellen, was der Türkei sehr entgegenkommt.
So dringt die Türkei über das Rote Meer hinaus in den Indischen Ozean vor. Ihr Interesse gilt dem Persischen Golf, wo sie ihre Kontrolle über die Arabische Halbinsel und die nach wie vor wertvollen Ölreserven der Region festigt. So wird sie zu einem wichtigen Faktor in den japanischen Sicherheitsüberlegungen. Japan ist historisch von den |187|Öllieferungen aus der Golfregion abhängig. Da diese nun von der Türkei kontrolliert wird, ist Japan auf eine gute Zusammenarbeit angewiesen. Beide Nationen sind bedeutende Wirtschafts- und aufstrebende Militärmächte. Beide haben ein Interesse daran, die Schifffahrtswege von der Straße von Hormuz bis zur Straße von Malakka zu sichern. Sie haben viele gemeinsame Interessen und kaum Reibungspunkte.
Die Vereinigten Staaten beobachten den Aufstieg der Türkei zur führenden Seemacht der Region mit Sorge, zumal er mit der japanischen Aufrüstung zusammenfällt. Besonders besorgniserregend ist die informelle Kooperation Japans und der Türkei im Indischen Ozean. Im Persischen Golf ist die türkische Vormacht erdrückend, ebenso wie die japanische Hegemonie im Nordwestpazifik. Die Vereinigten Staaten bleiben zwar die vorherrschende Macht im Indischen Ozean, doch wie bereits im Pazifik wendet sich der Trend gegen sie.
Ebenso beunruhigend sind die Bemühungen der Türkei, sich die ideologischen Überreste des eigentlich überlebten Islamismus zunutze zu machen und auf diese Weise ihre Vorherrschaft in der Region moralisch zu untermauern. Ihr Einfluss ist längst keine rein militärische Angelegenheit mehr. Dies stößt nicht nur in den Vereinigten Staaten auf Besorgnis, sondern auch in Indien.
Seit dem amerikanisch-dschihadistischen Krieg zu Beginn des Jahrhunderts unterhalten die Vereinigten Staaten freundschaftliche Beziehung zu Indien. Dem innerlich zerrissenen Subkontinent ist zwar der Aufstieg zu einer globalen Wirtschaftsmacht nicht gelungen, doch es hat eine gewisse regionale Vormachtstellung inne. Die Präsenz der islamischen Türkei in der Arabischen See und die Ausweitung ihrer Einflusssphäre in den Indischen Ozean beunruhigt Indien. Die indischen Interessen decken sich mit denen der Vereinigten Staaten, die somit im Indischen Ozean in einer ähnlichen Lage sind wie im Pazifik: Sie verbünden sich mit einem riesigen und bevölkerungsreichen Land gegen kleinere und dynamischere Seemächte.
Die Macht Japans und der Türkei, die eine im Osten, die andere im Westen Asiens, wird im Laufe dieses Prozesses immer größer. Jede weitet ihre Interessen auf dem Kontinent aus und verstärkt ihre Seestreitkräfte |188|weiter. Daneben bauen beide ihre Weltraumkapazitäten aus und schicken regelmäßig bemannte und unbemannte Missionen ins All. Bei der Entwicklung von Weltraumtechnologien arbeiten beide in begrenztem Umfang zusammen: Japan hat gegenüber der Türkei einen erheblichen technologischen Vorsprung, doch der Zugang zu türkischen Startrampen bietet Japan zusätzlichen Schutz vor einem amerikanischen Militärschlag. Diese Zusammenarbeit wird in den Vereinigten Staaten als weiterer Grund zur Beunruhigung aufgenommen.
Gegen Mitte des 21. Jahrhunderts reicht der türkische Einfluss bis weit nach Russland und in den Balkan, wo er allerdings mit den Interessen des osteuropäischen Staatenbündnisses um Polen kollidiert.
Polen
Der polnische Alptraum ist ein gleichzeitiger Angriff durch Russland und Deutschland. Wann immer es dazu kommt, wie etwa im Jahr 1939, ist Polen chancenlos. Nach dem Zusammenbruch Russlands in den 2020er Jahren bietet sich Polen daher eine Chance, die es nutzen muss. So wie Russland keine andere Wahl hat, als seinen Puffer so weit wie möglich nach Westen zu verschieben, muss Polen nun seine Grenzen nach Osten verlagern.
In der Vergangenheit bot sich Polen nur selten eine solche Gelegenheit, denn es wurde von drei Reichen – Russland, Deutschland und Österreich-Ungarn – eingekeilt und beherrscht. Lediglich im 17. Jahrhundert hatte Polen diese Möglichkeit, als Deutschland durch den Dreißigjährigen Krieg zerrissen war und Russland seine Macht noch nicht in Richtung Westen ausgedehnt hatte.
Das Problem Polens war früher seine ungesicherte Südflanke. Im Jahr 2040 stellt dies kein Problem mehr dar, da sich die übrigen osteuropäischen Nationen noch gut an die Lektionen der Vergangenheit erinnern und genau wie Polen ein Interesse daran haben, nach Osten hin Pufferzonen einzurichten. Dieser neue Ostblock hat allerdings neben der militärischen auch eine wirtschaftliche Dimension.
Polen im Jahr 1660
Seit der Gründung des Deutschen Reichs im Jahr 1871 war Deutschland der europäische Wirtschaftsmotor. Selbst nach dem Zweiten Weltkrieg, als Deutschland sein politisches Selbstbewusstsein verloren hatte, blieb es die dynamischste Volkswirtschaft des Kontinents.
Im Jahr 2020 hat sich die Situation geändert. Eine alternde Bevölkerung belastet die deutsche Wirtschaft. Der deutsche Hang zur Schaffung von Konzernstrukturen ist langfristig ineffizient und schafft eine zwar große, aber träge Wirtschaft. Wie die übrigen west- und zentraleuropäischen Nationen wird Deutschland unter einer ganzen Reihe von Gebrechen leiden.
Doch die Osteuropäer sind als Sieger aus einem Kalten Krieg hervorgegangen, den sie an der Seite der auf dem Gebiet der Technologieentwicklung |190|führenden Macht, den Vereinigten Staaten, geführt haben. Ein Kalter Krieg ist der beste aller Kriege, da er die Wirtschaft eines Lands stimuliert, ohne sie zu zerstören. Viele der Technologien, die den Vereinigten Staaten ihren gewaltigen Vorsprung auf diesem Gebiet verschaffen, stammen aus diesem zweiten Kalten Krieg, und Polen wird vom amerikanischen Know-how profitieren.
Deutschland hat weder ein Interesse noch die Möglichkeiten, den polnischen Block, wie wir ihn nennen wollen, herauszufordern. Trotzdem ist man sich in Deutschland natürlich sehr bewusst, wie die Entwicklung weitergehen wird. Der polnische Block wird West- und Zentraleuropa überflügeln und genau das erreichen, wovon man in Deutschland lange träumte. Er wird den westlichen Teil des früheren russischen Reichs eingliedern und aufbauen und auf diese Weise zu einer ernstzunehmenden Wirtschaftsmacht aufsteigen.
Der Skagerrak
Die entscheidende Schwäche des polnischen Blocks ist seine relative Binnenlage. Seine Häfen im Baltikum lassen sich selbst von einer kleinen Flotte am Skagerrak blockieren. Da dies sein einziger Zugang zu den Weltmeeren ist, sind die Handelswege überaus verwundbar. Eine andere Alternative wäre ein Adriahafen. Kroatien, das Ungarn |191|historisch sehr nahe steht, verfügt über den Hafen Rijeka. Dieser hat zwar begrenzte Kapazitäten, wäre aber besser als gar nichts.
Der Zugang zu diesem Hafen ist allerdings mit zwei Problemen verbunden, die beide mit der Türkei zu tun haben. Zum einen engagiert sich die Türkei genau wie Ungarn und Rumänien verstärkt auf dem Balkan. Wie immer auf dem Balkan handelt es sich um eine verworrene Gemengelage, die durch Religion und historische Feindschaften weiter kompliziert wird. Die Türkei will ein Vordringen des polnischen Blocks ans Mittelmeer verhindern und wird zu diesem Zweck die Spannungen zwischen Kroatien und Bosnien forcieren. Doch selbst wenn es den osteuropäischen Nationen um Polen gelingt, Zugang zur Adria und zum Mittelmeer zu bekommen, reicht es nicht aus, dort einfach eine Handelsmarine zu unterhalten. Handel ist effektiv nur dann möglich, wenn sie die Straße von Otranto kontrollieren. Die einzige andere Alternative bestünde darin, Deutschland und Dänemark zu erobern, um den Skagerrak zu kontrollieren, doch das würde die Möglichkeiten des polnischen Blocks übersteigen.
Das Staatenbündnis um Polen gerät neben dem Balkan jedoch noch an einem zweiten Ort in Konflikt mit der Türkei, und zwar in Russland, wo die Türkei ihren Einfluss durch die Ukraine nach Westen ausdehnt, während der polnische Block nach Osten vordringt. Hier verläuft das Aufeinandertreffen weniger brisant als auf dem Balkan, da beide ausreichend Platz zur Verfügung haben, doch es handelt sich um einen nicht unbedeutenden Nebenschauplatz. Weder der polnische Block noch die Türkei haben in Südrussland und der Ukraine klar definierte Einflusssphären. Doch angesichts der fortdauernden Animositäten zwischen der Ukraine und Polen, deren Wurzeln bis ins 16. und 17. Jahrhundert zurückreichen, sowie zwischen der Ukraine und der Türkei hat jede der beiden Seiten Möglichkeiten, der anderen Schwierigkeiten zu bereiten.
Polen ist dringend auf die Unterstützung durch die Vereinigten Staaten angewiesen. Nur diese verfügen über das nötige Gewicht, um der Türkei im Mittelmeerraum etwas entgegensetzen zu können. Die Vereinigten Staaten ihrerseits ziehen es vor, nicht direkt aktiv zu werden, sondern regionale Verbündete zu unterstützen, die ebenfalls an |192|einer Eindämmung der Türkei interessiert sind. Anders als die Türkei stellt das osteuropäische Staatenbündnis um Polen keine unmittelbare Bedrohung der amerikanischen Interessen dar. Daher versorgen sie den polnischen Block mit den Technologien, die dieser benötigt, um seine eigene Strategie zu verfolgen.
Etwa um das Jahr 2045 hat das osteuopäische Staatenbündnis Slowenien und Kroatien unter seine Kontrolle gebracht und sich Rijeka gesichert. Die beiden Balkannationen sehen in dieser Verbindung einen Schutz vor ihren feindlich gesinnten Nachbarn Serbien und Bosnien. Mit Hilfe der amerikanischen Technologie entwickelt der osteuropäische Block rasch die Kapazitäten zur See und im Weltraum, die erforderlich sind, um der Türkei in der Adria und dem Mittelmeer zu begegnen.
Deutschland beobachtet die Entwicklung mit Sorge und stellt sich auf die Seite der Türkei. Deutschland selbst unternimmt nichts, doch es ist sich nur zu gut im Klaren darüber, was passieren würde, wenn es Polen gelingen sollte, die Türkei zu überwinden. Sollte das osteuropäische Staatenbündnis dabei geeint bleiben, wäre es – in geostrategischer Hinsicht – nichts anderes als eine Wiedergeburt der Sowjetunion und würde sämtliche Rohstoffvorkommen Westrusslands und des Nahen Ostens kontrollieren. Deutschland kann sich gut genug in die Lage der Vereinigten Staaten versetzen, um zu wissen, dass diese im Falle eines polnischen Siegs gegen die neue Hegemonialmacht vorgehen müssten, doch es weiß auch, dass es selbst die Hauptlast eines möglichen neuen Konflikts zu tragen hätte. Sollte der polnische Block eine derartige Machtposition erreichen, müssten die Vereinigten Staaten seine weitere Expansion in Richtung Westeuropa verhindern und Deutschland würde ein weiteres Mal zu einem möglichen Kriegsschauplatz. Ein Erfolg des polnischen Blocks würde also kurz- und langfristig eine Bedrohung für Deutschland darstellen.
Es ist daher im deutschen Interesse, die Türkei in fast jeder erdenklichen Art und Weise zu unterstützen, nur nicht militärisch. Die Türkei benötigt jedoch just eine Unterstützung bei der militärischen Blockade des osteuropäischen Staatenbündnisses. Polen und seine Verbündeten müssten vom Zugang zu den Vereinigten Staaten und dem Welthandel |193|abgeschnitten werden. Wenn es der Türkei gelänge, die Adria abzuriegeln, während Deutschland gleichzeitig eine Blockade über die Ostsee verhängen würde, wären die osteuropäischen Staaten ernsthaft in Gefahr. Doch Deutschland ist nur zu dieser Blockade bereit, wenn es sicher sein kann, dass die Türkei mit ihrer Strategie Erfolg hat, was wiederum voraussetzt, dass die Vereinigten Staaten nicht ihr gesamtes Gewicht in die Waagschale werfen. Und da man in Deutschland weder das eine noch das andere mit Sicherheit wissen kann, verlegt man sich aufs Warten.
Auch die Vereinigten Staaten warten ab. Sie bewaffnen den polnischen Block und ermuntern ihn zu einer Konfrontation mit der Türkei, während sie gleichzeitig Indien im Indischen Ozean stärken. Außerdem unterstützen sie China und Korea und verstärken ihre militärische Präsenz im Pazifik und im Mittelmeer. Sie tun alles, um Japan und die Türkei einzudämmen, ohne direkt ins Geschehen eingreifen zu müssen. Dieses Spiel beherrschen sie sehr gut – sogar zu gut. Die Türkei und Japan wissen um die Fähigkeit der Vereinigten Staaten, ihre Verbündeten für ihre Zwecke zu mobilisieren und befürchten, ein Opfer der amerikanischen Stellvertreter zu werden. Die Folge ist eine massive Eskalation.
Neue Bündnisse
In den 1940er Jahren standen die Vereinigten Staaten schon einmal zur gleichen Zeit mehreren Krisenherden gegenüber, als nämlich Deutschland und Japan gleichzeitig die amerikanischen Interessen gefährdeten. Auch im Zweiten Weltkrieg verfolgten die Vereinigten Staaten die Taktik der Stärkung ihrer regionalen Verbündeten, als sie nämlich Großbritannien und Russland in ihrem Kampf gegen Deutschland sowie China gegen Japan unterstützten. Ein Jahrhundert später bereiten sie sich erneut auf eine lange Auseinandersetzung vor. Sie haben kein Interesse an einer Besetzung der Türkei, Japans oder gar Deutschlands. Sie entscheiden sich vielmehr für ein defensives Vorgehen, das darauf abzielt, den Aufstieg der jeweiligen Hegemonialmacht |194|zu verhindern. Dabei geht es darum, mögliche Gefahren über einen langen Zeitraum hinweg abzubauen und ihre Gegner in niederschwelligen Konflikten, die sie weder gewinnen noch beenden können, zu zermürben. In der Öffentlichkeit betonen sie dabei stets das Recht auf Selbstbestimmung und Demokratie und zeichnen Japan und die Türkei als Aggressoren, die staatliche Souveränität und Menschenrechte mit Füßen treten.
Neben dieser öffentlichen Kampagne üben die Vereinigten Staaten jedoch konkreten Druck aus. Zum einen auf wirtschaftlichem Gebiet. Der gewaltige Markt der Vereinigten Staaten ist ein wichtiger Abnehmer für japanische und in geringerem Umfang auch für türkische Produkte. Gleichzeitig sind die Vereinigten Staaten nach wie vor der wichtigste Lieferant für modernste Hochtechnologie. Ein Im- und Exportstop wäre daher mehr als schmerzhaft. Die Vereinigten Staaten bringen den Handel als Hebel gegen beide Länder zum Einsatz. Sie verbieten den Export bestimmter Technologien vor allem aus dem militärischen Bereich und verhängen Importbeschränkungen für Waren aus beiden Ländern. Zum anderen unterstützen sie durch den polnischen Block russische und ukrainische Bewegungen innerhalb der türkischen Einflusssphäre. Gegen die Interessen dieses Blocks unterstützen sie zudem auf dem Balkan den serbischen Widerstand gegen die Türkei. Auch das seit Jahrhunderten mit der Türkei verfeindete Griechenland wird ein wichtiger Verbündeter der Vereinigten Staaten, auch wenn es kein formelles Bündnis mit dem polnischen Block eingeht.
Aus geopolitischer Sicht sind diese Bündnisse unschwer vorherzusehen. Sie orientieren sich an Mustern, die bereits seit Jahrhunderten Bestand haben. Ich versuche lediglich aufzuzeigen, wie sich diese bestehenden Verhältnisse in den Zusammenhängen des kommenden Jahrhunderts weiterentwickeln. Nachdem die Vereinigten Staaten mit ihrer gezielten Unterstützung von Widerstandsbewegungen begonnen haben, verwandelt sich der Balkan erneut in ein Pulverfass, was die Türkei zwingt, einen unangemessen Verteidigungsaufwand in einer Region zu betreiben, in der sie vorrangig defensive Interessen verfolgt. Der Türkei geht es letztlich nur um den Schutz des Bosporus. |195|Sollte sie sich jedoch zurückziehen, würde ihre Glaubwürdigkeit in dieser jungen Einflusssphäre Schaden nehmen.
Die Vereinigten Staaten versuchen außerdem, arabische Nationalisten in Ägypten und der Arabischen Halbinsel zu stärken. Obwohl die Türkei sich hütet, ihren Einfluss in diesen Ländern allzu aggressiv durchzusetzen, sind anti-türkische Ressentiments dort weit verbreitet. Die Vereinigten Staaten machen sich diese Stimmung zunutze, nicht aus Interesse am arabischen Nationalismus, sondern um die Türkei zu schwächen. Die Türkei beobachtet die amerikanische Unterstützung des polnischen Blocks und der nordafrikanischen Nationalisten mit Sorge. Den Vereinigten Staaten geht es darum, mit ihren Interventionen auf das Verhalten der Türkei einzuwirken und deren Aktionsradius einzuschränken, doch ihre Aktivitäten bleiben unterhalb der Schwelle, die man in der Türkei als Gefahr für die eigenen grundlegenden Sicherheitsinteressen auffassen müsste.
Spähsatelliten und Kampfsterne
Die bedrohlichsten Maßnahmen ergreifen die Vereinigten Staaten auf den Weltmeeren, wenn auch nicht direkt in den Ozeanen, sondern vom All aus. In den 2030ern haben sie ein noch relativ bescheidenes kommerzielles Raumfahrtprogramm aufgelegt, das in erster Linie der Energieerzeugung dienen soll. Mitte der 2040er Jahre ist dieses Programm zwar ein Stück weit fortgeschritten, doch es ist nach wie vor auf staatliche Mittel angewiesen und in der Entwicklungsphase. Im Rahmen dieses Programms entwickeln die Vereinigten Staaten ihre Robotertechnik weiter und setzen menschliche Astronauten ausschließlich für schwierige und komplexe Aufgaben ein. Sie haben eine beachtliche Infrastruktur errichtet und auf diese Weise ihren technologischen Vorsprung weiter ausgebaut.
Um diese Vorherrschaft im Weltraum zur Festigung ihrer Machtposition auf der Erde einzusetzen, investieren die Vereinigten Staaten weiter in diese Infrastruktur. Nach und nach verabschieden sie sich von der kostspieligen und wenig effektiven Strategie, bewaffnete Truppen |196|mit benzinbetriebenen Flug- und Fahrzeugen in Tausende Kilometer entfernte Länder zu transportieren und dort zum Einsatz zu bringen, um ihre Machtansprüche durchzusetzen. Stattdessen investieren sie in eine Flotte unbemannter Flugzeuge, die im eigenen Land stationiert sind. Gesteuert werden diese Flugzeuge über Satelliten, die sich über möglichen Zielen in einer geostationären Umlaufbahn befinden und die ich in der Folge »Kampfsterne« nenne. Zur Jahrhundertmitte kann eine Hyperschallrakete, die auf Hawaii abgefeuert wird, in einer halben Stunde ein Schiff vor der Küste Japans oder einen Panzer in der Mandschurei treffen.
Da die Rüstungskontrollverträge aus dem 20. Jahrhundert weiterhin Gültigkeit haben, entwickeln die Vereinigten Staaten insgeheim Raketen, die vom Weltall aus auf irdische Ziele abgefeuert werden können. Sollte die Kommunikation zwischen einem Kampfstern und der Bodenkontrollstation unterbrochen werden, kann dieser eigenständig vom All aus agieren und beispielsweise Raketen auf bestimmte Ziele auf der Erde lenken.
In den Kampfeinsätzen des 21. Jahrhunderts spielt effiziente Kommunikation eine ausschlaggebende Rolle. Ein entscheidender Schritt in der Entwicklung der Kriegstechnik ist die Verlagerung von Kommando- und Kontrollzentren von der Erde ins Weltall. Kontrollzentren am Boden sind leicht verwundbar. Wenn ein Bild von einem Satelliten im All aus aufgenommen, dann zur Erde übermittelt und anschließend ein Befehl an die Waffensysteme im All geschickt werden muss, vergehen kostbare Sekunden. Je mehr Schaltstellen beteiligt sind, desto größer ist die Zahl der verwundbaren Stellen und desto wahrscheinlicher ist es, dass ein Feind das Signal stören könnte. Feinde könnten Bodenkontrolleinrichtungen, Empfangsstationen und Sendeanlagen angreifen und die Kommunikation selbst mit geringem technischen Aufwand stören. Befinden sich die Kommandozentralen jedoch im Weltall, sind sie vor diesen Angriffen geschützt und können ungehindert mit Waffen und Personal kommunizieren – so die Theorie.
Heute streckt die Technik der erforderlichen Systeme noch in den Kinderschuhen. Gegen Mitte des Jahrhunderts wird sie jedoch serienreif |197|sein. Dies ist keineswegs Science-Fiction, sondern ein Ausblick auf reale Entwicklungen, die auf bereits bestehender Technik und aktueller Verteidigungsplanung basieren. Die Kampfsterne werden mit sensibelster Spähtechnologie sowie Abhörinstrumenten zur Auswertung von elektronischer Kommunikation ausgestattet sein. Von hier aus erden außerdem unbemannte Satellitensysteme kontrolliert. Die Kampfsterne nutzen hochauflösende Bilder von der Erdoberfläche und können ferngesteuerte Flugzeuge innerhalb weniger Minuten in jedes beliebige Ziel lenken. Sie sind genauso in der Lage, eine auslaufende Flotte unter Feuer zu nehmen, wie Soldaten, die Sprengsätze an einer Straße anbringen. Was sie sehen, das können sie auch beschießen.
Basierend auf den Raumprogrammen der 2030er Jahre werden die Vereinigten Staaten vermutlich drei Kampfsterne in geostationären Umlaufbahnen über dem Äquator einrichten: den ersten nahe der Küste Perus, den zweiten über Papua Neuguinea und den dritten über Uganda. Diese drei Raumstationen befinden sich in ungefähr gleichem Abstand zueinander und teilen die Erde damit in drei Sektoren auf.
Den wenigsten Ländern wird die Gegenwart der Kampfsterne gefallen, am wenigsten der Türkei und Japan. Es ist kein Zufall, dass sich einer direkt im Süden der Türkei befindet und ein zweiter südlich von Japan. Jeder dieser Kampfsterne verwendet seine eigenen Spähinstrumente sowie die Information von mobilen Satelliten, um die beiden Länder zu überwachen. Im Grunde genommen sind die Kampfsterne nichts anderes als Pistolen, die auf den Kopf der Türkei und Japans gerichtet sind. Sie sind außerdem in der Lage, von einem Moment auf den anderen über jedes der beiden Länder eine undurchdringliche Blockade zu verhängen. Die Kampfsterne können die Türkei und Japan zwar nicht besetzen, sie können ihnen jedoch effektiv die Luft abschnüren.
Dieses Weltraumverteidigungssystem wurde bereits Jahre zuvor geplant, doch nun wird es mit atemberaubender Geschwindigkeit installiert. Im Jahr 2040 wird die Stationierung beschlossen, und zur Jahrhundermitte ist das System einsatzbereit. Die Stationierung basiert auf der Annahme, dass die Kampfsterne unverwundbar sind |198|und dass kein Land über die technischen Möglichkeiten verfügt, sie anzugreifen und zu zerstören. Ähnliches haben die Vereinigten Staaten in der Vergangenheit immer wieder angenommen – von Schlachtschiffen, Flugzeugträgern und Tarnkappenbombern. Die amerikanische Militärplanung basiert immer auf der arroganten Überzeugung, dass andere Nationen nicht in der Lage sind, mit ihrer überlegenen Technologie Schritt zu halten. Diese Annahme ist natürlich riskant, doch sie beschleunigt die Stationierung.
Eskalation
Die Entwicklung der Kampfsterne, die Einführung neuer, weltraumgestützter Waffensysteme sowie politischer und wirtschaftlicher Druck zielen sämtlich darauf, die weitere Expansion Japans und der Türkei zu verhindern. Aus türkischer und japanischer Sicht sind die amerikanischen Forderungen jedoch extrem und irrational. Die Amerikaner verlangen den Rückzug sämtlicher Streitkräfte auf das ursprüngliche Territorium der beiden Länder sowie eine Garantie der Schifffahrtsrouten im Schwarzen Meer, im Bosporus und in der Japanischen See. Wenn sich Japan auf diese Forderungen einließe, würde dies seine gesamte wirtschaftliche Strategie zunichte machen. Auch die Türkei hätte wirtschaftliche Konsequenzen zu befürchten, vor allem aber politisches Chaos in der Region. Gleichzeitig richten die Vereinigten Staaten keine Forderungen an den polnischen Block. Im Gegenteil, im Grunde verlangen sie von der Türkei nichts anderes, als den Balkan, die Ukraine und Teile Südrusslands an Polen abzutreten und den Kaukasus erneut im Chaos versinken zu lassen.
Die Vereinigten Staaten haben gar nicht die Absicht, Japan und die Türkei zu einer Kapitulation zu zwingen. Sie versuchen mit ihren Forderungen lediglich, der Expansion dieser Länder Grenzen zu setzen und ihre Unsicherheit zu vergrößern. Sie gehen gar nicht davon aus, dass diese beiden Länder in ihre Grenzen von 2020 zurückkehren, sondern wollen lediglich die weitere Ausdehnung ihrer Einflusssphären unterbinden.
|199|Für Japan und die Türkei stellt sich die Situation allerdings anders dar. Aus ihrer Sicht versuchen die Vereinigten Staaten im besten Falle, sie vor unlösbare internationale Probleme zu stellen, um ihre Kapazitäten zu binden. Im schlimmsten Falle bereiten die Vereinigten Staaten jedoch ihre Vernichtung vor. Der Türkei und Japan bleibt keine andere Wahl, als sich auf letzteres Szenario einzustellen und ihren Widerstand vorzubereiten.
Keines der beiden Länder verfügt über die Weltraumerfahrung ihres Gegners. Sie sind in der Lage, bemannte Expeditionen ins All zu schicken, und haben auch ihr eigenes Aufklärungssystem. Doch an die militärischen Kapazitäten der Vereinigten Staaten reicht keins der beiden Länder heran, schon gar nicht in einem Zeitrahmen, in dem sie diese dazu zwingen könnten, ihre Politik zu überdenken. Andererseits sind die Türkei und Japan nicht in der Lage, von ihrer Position abzurücken.
Die Vereinigten Staaten planen keinen Krieg. Sie wollen lediglich Druck ausüben, um Japan und die Türkei zu zwingen, ihren Forderungen entgegenzukommen. Sowohl die Türkei als auch Japan haben großes Interesse daran, die Macht der Vereinigten Staaten einzudämmen und bilden daher ein natürliches Bündnis. Dank des technologischen Fortschritts gestaltet sich eine enge Kooperation zwischen beiden Ländern Mitte des 21. Jahrhunderts sehr einfach. Die Raumfahrt hat profunde Auswirkungen auf die Geopolitik.
Auch in traditioneller Hinsicht unterstützen sich Japan und die Türkei gegenseitig. Die Vereinigten Staaten sind in Nordamerika lokalisiert, Japan und die Türkei sind eurasische Regionalmächte. Dadurch ergeben sich ein natürliches Bündnis und ein gemeinsames strategisches Ziel. Im Jahr 2045 erstreckt sich die japanische Macht über die Pazifikküste und Ozeanien bis weit auf das ostasiatische Festland. Die türkische Einflusssphäre reicht durch Zentralasien bis in die islamischen Regionen Westchinas. Bei einer erfolgreichen Zusammenarbeit könnten die Türkei und Japan durchaus zu einer gesamteurasischen Macht werden, die es mit den Vereinigten Staaten aufnehmen kann.
Das Haar in der Suppe ist der polnische Block, der verhindert, dass die Türkei ihren Einfluss über den Balkan hinaus ausweitet. Das wird |200|die Türkei und Japan jedoch nicht daran hindern, ein Bündnis einzugehen. Sollte es gelingen, auch nur eine weitere europäische Macht als Partner zu gewinnen, wären die osteuropäischen Staaten in einer misslichen Lage. Sie müssten ihre Ressourcen auf zwei Fronten verteilen, womit die Türkei freiere Hand in der Ukraine und Russland und das türkisch-japanische Bündnis ein drittes Standbein hätte. Der naheliegende europäische Partner heißt Deutschland. Wenn die Türkei und Japan Deutschland davon überzeugen könnten, dass ein von den Vereinigten Staaten unterstütztes Polen eine ausreichend große Gefahr darstellt und dass ein Dreierbund ausreichend stark ist, die Vereinigten Staaten zu einem vorsichtigeren Vorgehen zu zwingen, dann bestünde die Möglichkeit, Eurasien gemeinsam zu beherrschen und die Rohstoffe des Kontinents unter sich aufzuteilen.
In Deutschland gibt man sich nicht einen Moment lang der Illusion hin, dass sich die Vereinigten Staaten beeindrucken lassen könnten. Im Gegenteil, man befürchtet, dass ein Dreierbund eine sofortige militärische Reaktion provozieren würde. Außerdem sieht man im Fall einer Niederlage des polnischen Blocks die Türken wieder vor Wien stehen, was wenig Begeisterung weckt. Obwohl Deutschland also der geeignetste Bündnispartner der Türkei und Japans wäre, lehnt es eine Beteiligung ab – es sei denn, Polen würde in einem möglichen Krieg so weit geschwächt, dass eine deutsche Intervention kein Risiko mehr darstellen würde. Sollten die Vereinigten Staaten den Krieg gewinnen, stünde Deutschland nicht schlechter da. In dem unwahrscheinlichen Fall, dass die Vereinigten Staaten und Polen den Krieg verlieren sollten, würde Deutschland an der Beute beteiligt. Daher hält man es in Deutschland für sinnvoller, die Entwicklung in Polen abzuwarten.
Ein weiterer denkbarer, wenngleich sehr unwahrscheinlicher Bündnispartner der Koalition ist Mexiko. Schon im Ersten Weltkrieg bat das Deutsche Kaiserreich Mexiko um Unterstützung im Krieg gegen die Vereinigten Staaten, weshalb diese Allianz kein neuer Gedanke wäre. In der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts erlebt Mexiko einen raschen wirtschaftlichen Aufstieg und ist in den 2040ern eine ernstzunehmende Wirtschaftsmacht, die jedoch noch im Schatten der Vereinigten |201|Staaten steht. Nach Verabschiedung der neuen amerikanischen Einwanderungspolitik in den 2030er Jahren wandern Mexikaner verstärkt in den Südwesten der Vereinigten Staaten aus. Das bringt zwar gewisse Probleme für die Vereinigten Staaten mit sich, doch in den 2040er Jahren ist Mexiko kaum in der Lage, einem anti-amerikanischen Bündnis beizutreten.
Die amerikanischen Geheimdienste registrieren die verstärkten diplomatischen Kontakte zwischen Tokio und Istanbul (die Regierung der Türkei ist mittlerweile von Ankara in die traditionelle Hauptstadt des Osmanischen Reichs verlegt worden) und beobachten, wie beide ihre Fühler nach Mexiko und Deutschland ausstrecken. Die Vereinigten Staaten erkennen, dass die Lage ernst wird, und wissen, dass die Türkei und Japan gemeinsame Pläne für einen möglichen Krieg haben. Obwohl die beiden Staaten kein formelles Bündnis eingegangen sind, können sich die Vereinigten Staaten nicht mehr sicher sein, dass sie es mit zwei isolierten und kontrollierbaren Regionalmächten zu tun haben. Stattdessen gehen sie davon aus, dass sie einer Koalition gegenüberstehen, die ganz Eurasien beherrschen und damit den amerikanischen Alptraum wahrmachen könnte. Diese Befürchtung hängt mit der geopolitischen Strategie der Vereinigten Staaten zusammen, die ich zu Beginn des Buchs erörtert habe. Sollte die türkisch-japanische Koalition Eurasien kontrollieren, wäre sie vor einem Angriff geschützt und könnte sich darauf konzentrieren, den Vereinigten Staaten im Weltall und auf den Meeren Paroli zu bieten.
Die Vereinigten Staaten reagieren, wie sie so oft reagiert haben: Sie üben wirtschaftlichen Druck aus. Beide Länder hängen zu einem gewissen Grad von Exporten ab, die in einer Welt der schrumpfenden Bevölkerungen immer weniger Märkte finden. Die Vereinigten Staaten formieren einen wirtschaftlichen Block und bieten denjenigen Ländern den Status als bevorzugte Handelspartner an, die ihre wirtschaftlichen Beziehungen zu Japan und der Türkei aufkündigen und ihre Importe aus Drittländern beziehen. Mit anderen Worten: Sie organisieren einen wenig subtilen Boykott der türkischen und japanischen Wirtschaft.
Daneben schränken sie den Technologieexport in diese beiden |202|Länder immer weiter ein. Da die modernste Roboter- und Gentechnologie aus den Vereinigten Staaten stammt, wirkt sich dies schmerzlich auf die Hightech-Industrie der Türkei und Japans aus. Außerdem intensivieren die Vereinigten Staaten ihre Militärhilfe für China, Indien und Polen sowie den anti-türkischen und anti-japanischen Widerstand in Russland. Die Politik der Vereinigten Staaten ist ganz einfach: Sie wollen diesen beiden Ländern so viel Ärger wie möglich bereiten, um sie daran zu hindern, ein Bündnis einzugehen.
Am meisten Kopfzerbrechen bereiten der Türkei und Japan jedoch die Weltraumaktivitäten der Vereinigten Staaten. Die Stationierung der Kampfsterne dient ihnen als Beweis, dass die Vereinigten Staaten bereit sind, wenn nötig einen Angriffskrieg zu führen. Ende der 2040er Jahre ziehen die Türkei und Japan ihren eigenen Schluss aus den zahlreichen amerikanischen Aktivitäten: Ihrer Ansicht nach haben die Vereinigten Staaten die Absicht, sie zu vernichten, weshalb nur ein formelles Bündnis als Schutz und Abschreckung dienen kann. Daher unterzeichnen die beiden Nationen einen Verteidigungspakt. Dieser wiederum mobilisiert Muslime in ganz Asien, die sich aus der Konfrontation zwischen der Türkei und den Vereinigten Staaten einen Zugang zur Macht erhoffen.
Der wiedererstarkte islamische Extremismus erfasst auch Südostasien. Dies eröffnet Japan den Zugang nach Indonesien, was wiederum die amerikanische Kontrolle des Pazifik und den Zugang zum Indischen Ozean gefährdet. In den Vereinigten Staaten herrscht jedoch eine Gewissheit vor: So groß die Gefahr ist, die von der Türkei und Japan in Eurasien ausgeht, die amerikanische Vormachtstellung im Weltall werden diese beiden Mächte nie gefährden können.
Nachdem sie also die Türkei und Japan in eine unmögliche Situation gebracht haben, verfallen die Vereinigten Staaten angesichts der Reaktion der beiden Nationen einerseits in Panik, wiegen sich aber andererseits in dem selbstgefälligen Bewusstsein, dass sie dieses Problem in den Griff bekommen können. Sie erwarten keinen Waffengang, sondern einen neuen Kalten Krieg. Die Supermacht ist überzeugt, dass es niemand wagen würde, ihr in einem offenen Krieg gegenüberzutreten.