2. KAPITEL
2019, München – eine Woche vor ihrer Reise
Der Sex mit Viktor war nicht mehr besonders leidenschaftlich. Aber vermutlich war das normal nach so vielen Jahren. Gestern war er damit angekommen, ob sie für ihn ein Krankenschwesterkostüm anziehen würde. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Ob sie es wollte, erbat sich Bedenkzeit. Sprach darüber mit niemandem, nicht einmal mit ihrer besten Freundin Carina. Denn Anna war klar, was diese erwidert hätte: »Mach dich nicht so klein vor ihm. Nur weil er Anwalt ist und du Büroangestellte. Du bist eine super Office-Managerin.«
Anna saß im edlen Wohnzimmer ihrer Dachgeschosswohnung auf dem großen Lounge-Sofa, vor sich einen Koffer. Von der Wohnung hatte Viktor den Löwenanteil bezahlt, sie zahlte lediglich eine Art Miete. Trotzdem standen sie beide im Grundbuch, was Anna sehr großzügig von ihm fand. Aber eine gemeinsame Eigentumswohnung verband einen mehr als eine Mietwohnung, aus der man einfach so ausziehen konnte. Und ungefähr einmal im Jahr hatte Anna genau diesen Gedanken. Abhauen, alles zurücklassen, weg auf eine Insel oder sonst wohin. Sie waren nun schon neun Jahre zusammen. Einmal im Jahr nervte sie Viktors Art so sehr, dass sie sich nach einem anderen Partner oder dem Alleinsein sehnte. Aber dann ließ er sich immer wieder etwas einfallen, das sie beeindruckte, das ihr klarmachte, was für ein wundervoller Mensch er doch war. Zuletzt war es der Kauf einer Ziege gewesen. Einer Spende für Burundi, mit der sich eine Familie ein Jahr ernähren konnte. Anna, die ein gutes Herz hatte, beeindruckte das sehr, sodass sie sich wieder sicher war, was ihre Beziehung betraf. Und dann hatte er Sri Lanka gebucht, ein Luxusresort, Adults only . Nur für Erwachsene. Viktor hatte es von Anfang an gut gefunden, dass Anna wirklich kein Kind wollte. Und sie, dass er sich nicht danach sehnte. Sie beide arbeiteten viel, gönnten sich jedes Jahr einen großen Urlaub und meist zwei kleinere.
Anna sah nachdenklich auf den gepackten Koffer. Sie packte immer ein paar Tage im Voraus, um besser schlafen zu können. Enttäuscht dachte sie an das Telefonat gerade eben.
Viktor hatte aus der Kanzlei angerufen, dass sie Sri Lanka übermorgen leider canceln mussten, weil er einen extrem wichtigen Klienten bekommen habe. Anna hatte widersprochen, dass ihr gemeinsamer Urlaub ja wohl vorgehe, aber Viktor hatte schon alles storniert, die Kosten übernehme er. Mit ihr zu überlegen, was Anna nun mit den nächsten zwei Wochen Urlaub anfangen sollte, dafür hatte er leider keine Zeit, musste zu einem Termin.
Frustriert dachte Anna darüber nach, wie oft sie schon die zweite Geige gespielt hatte in seinem Leben. Oder war das bei erfolgsverwöhnten Männern normal? So viele Frauen steckten zurück, so viele lebten damit, dass der Mann oft sehr spät von der Arbeit kam und auch sonst ganze Wochenenden auf Dienstreisen verbrachte.
Je länger sie darüber nachdachte, wie wenig Zeit sie die letzten Jahre miteinander verbracht hatten, quality time , desto mehr spürte sie in ihrem Bauch einen Groll. Musste es so laufen? Musste man damit leben? Seit ein paar Jahren kamen ihr immer öfter solche Gedanken. Sie befand sich in der Mitte ihres Lebens, wenn sie, wie sie hoffte, sehr alt werden würde. Es war höchste Zeit, Bilanz zu ziehen und zu überlegen, wie sie die zweite Hälfte verbringen wollte.
Anna stand entschlossen auf, holte sich ein Glas Wein, trank einen Schluck und rief dann ihre beste Freundin Carina an. Sie verabredeten sich in ihrer Lieblingsbar in Neuhausen.
»Viktor wieder?«, hakte Carina noch am Telefon nach.
»Yepp.«
»Ich hab auch wieder eine ganz tolle Männergeschichte beizusteuern.«
Die Freundinnen saßen in der schummrigen Bar am Tresen und schlürften jede an einem Getränk. Carina hatte einen nichtalkoholischen Cocktail gewählt, Anna brauchte etwas Härteres. Ein Gin Tonic stand vor ihr. Musik lief im Hintergrund.
»Wieso lässt du das eigentlich immer mit dir machen?«, fragte Carina, nachdem Anna ihr von Viktors kurzfristiger Absage erzählt hatte.
»Was mit mir machen?«
»Wieso lässt du dich so behandeln?«
Anna starrte auf ihren Gin Tonic. Sie strich mit ihren Fingern über das kühle Glas, strich das kondensierte Wasser ab. »Es ist wohl wirklich ein wichtiger Klient.«
Carina nickte. »Du solltest wichtig sein für ihn. Wichtiger als alles andere. Ich weiß, du denkst jetzt, weil ich so gnadenlos bin mit Männern, bin ich alleine. Und du willst nicht Single sein, stimmt’s?«
Anna dachte über die Worte ihrer Freundin nach. »Es geht nicht darum, dass ich nicht alleine sein möchte. Eine Beziehung ist eben nicht immer einfach. Ich kann sehr gut für mich sein. Das war ich vor Viktor auch. Aber er hat eben auch viele tolle Seiten, die ich liebe.«
»Und die wären? Und komm mir jetzt nicht mit der Ziege.«
Die Freundinnen sahen sich an und mussten losprusten.
Als sie sich wieder beruhigt hatten, sah Anna ihre Freundin an. »Er hat nur unseren Urlaub abgesagt, er hat keine Geliebte, er betrügt mich nicht oder so was.«
»Was macht dich da so sicher?«
»Carina!«
»Hey, ich sag dir nur, wie es in der Welt zugeht. Der Typ, den ich vorgestern in der U-Bahn kennengelernt habe, will mich vögeln, er betrügt seine Frau.«
»Bist du darauf eingegangen?«
»Nein, aber er hat gesagt, er betrügt sie, seit sie dreißig ist.«
»Er gibt also auch noch damit an?« Anna konnte es nicht fassen.
»Genau das habe ich auch gedacht. Und mich vom Acker gemacht.«
»Gut so.«
»Ich bin gerade eh ziemlich … na ja …«
»Was ist denn?«
»Lass uns erst mal über deinen Urlaub reden«, wehrte Carina ab.
»Den werde ich jetzt wohl auf Balkonien verbringen.« Anna seufzte. Sie liebte es, zu reisen, hatte sich schon sehr gefreut, mal wieder etwas anderes von der Welt zu sehen.
Carina stützte ihren Kopf auf die rechte Hand, sah sie an. »Was hältst du von einem Mädelsurlaub?«
Anna sah auf. »Mit dir? Immer. Aber du hast doch keinen Urlaub.«
»Den krieg ich schon, das weiß ich.«
»Der Esser gibt dir doch am liebsten nie Urlaub.«
Sie hatten unterschiedliche Chefs, kannten den jeweils anderen natürlich gut.
»Tja, diesmal wird er es tun.« Carina sah angespannt aus. Irgendetwas lag ihr auf der Seele. Und es musste etwas Wichtiges sein, denn normalerweise erzählte ihr Carina immer jede Kleinigkeit sofort.
»Was ist los?«, wollte Anna wissen.
Die Musik wechselte, ein Typ neben Carina rempelte sie aus Versehen an, entschuldigte sich.
»Also?« Anna legte die Hand auf den Arm ihrer Freundin. Sie spürte, wie Carina zitterte.
»Ich bin schwanger!«
»Nein.«
»Vom Esser.«
Sprachlos sah Anna sie an, musste schlucken. »Du nimmst mich auf den Arm.«
»Schön wärs.« Carina hatte noch nie so zerbrechlich ausgesehen.
»Er ist dein Chef, er ist verheiratet.«
»Ich weiß. Ich bin auch wirklich nicht stolz darauf, das kannst du mir glauben.«
»Wie ist es denn passiert? Ich meine, du hast mir gar nichts erzählt.«
»Ja, weil ich mich schäme. Das mit den Bienchen muss ich dir ja nicht erklären, aber …«
Carina stockte kurz. »Ich war betrunken. Wir haben mal wieder ewig gearbeitet in der Agentur, uns um Mitternacht noch eine Pizza bestellt und zwei billige Flaschen Rotwein.«
Anna schüttelte ungläubig den Kopf. »Dazu noch mit billigem Rotwein?«
»Ich sag ja, es ist mir echt peinlich. Und natürlich hatten wir kein Kondom dabei und ich hab gedacht, die Tage sind safe
»Sicher kann man sich nie sein. Entschuldige.«
»Yepp, und heute war ich beim Frauenarzt, weil meine Periode überfällig war. Ich dachte noch, dass es bestimmt so ein Hormonding ist. Ich mein, mit Ende 30 wird man ja nicht mehr so schnell schwanger.«
»Ach Mensch, Süße. Und was jetzt? Weiß Esser es?«
»Bist du verrückt? Er hat nach dem Sex gesagt, dass er seine Frau nie verlassen wird. Dass es ein Fehler war.«
»Idiot! Genau das, was eine Frau danach hören will.«
»Ja, aber ich mein, im Grunde wusste ich es. Und ich bin ja auch nicht verliebt in ihn. Ich will den gar nicht.«
»Aber trotzdem. Was jetzt?«
»Ich bin den ganzen Nachmittag durch die Stadt geirrt, hab mir nen Kopf gemacht.«
»Wieso hast du mich nicht sofort angerufen?«
»Ich hab erst mal Zeit für mich gebraucht. Bin an Spielplätzen vorbeigeschlichen, hab Mütter beobachtet. Du weißt, dass das Thema für mich eigentlich schon erledigt war, mit 39 und als Dauersingle. Und ohne festen Partner wollte ich nie ein Kind. Aber jetzt … jetzt ist irgendwie alles anders.«
Anna nahm ihre Freundin in den Arm, drückte sie fest. Sie spürte, wie diese Nachricht sie aufwühlte. Carina klammerte sich regelrecht an ihr fest. Nach ein paar Sekunden löste sie sich wieder, sah Anna entschlossen an.
»Aber nachdem ich diese Mütter heute beobachtet hab, wusste ich es plötzlich, was ich will.«
»Du willst es behalten?«
»Ja.« Carina lächelte jetzt. »Ich weiß, es wird verdammt hart alleine, aber in meinem Alter ist es vermutlich meine letzte Chance. Und ich hab immer gesagt, ich will das Leben in vollen Zügen genießen. Das heißt aber auch, dass ich alles mal mitgemacht haben will. Dazu gehören auch schwanger sein, Sodbrennen haben, Milchstau, Hängetitten …«
Anna musste lachen. »Reicht. Ich sehe, du weißt, was auf dich zukommt.«
»Na ja, nicht ganz. Sagen ja alle, dass man sich das nicht vorstellen kann, was das alles mit einem macht.«
Plötzlich fühlte sich Anna, als zöge ihr jemand den Boden unter den Füßen weg. Gefühle drängten sich hervor, die sie lange verdrängt hatte.
»Du sagst ja gar nichts.«
Anna schreckte auf. »Was? Was soll ich denn sagen?«
»Na so was wie: Hey, ich bin für dich da. Ich halte deine Hand, wenn du Presswehen hast und hechelst wie ein Dalmatiner.«
»Aber natürlich. Hey, ich hechle sogar mit dir. Wie der Dackel unserer Hausmeisterin.«
Carina lachte, dann beobachtete sie Anna genau. »Irgendwas hast du. Willst du was vom Esser oder wieso guckst du so?«
»Wie guck ich denn?«
»Keine Ahnung. Zersprengt, schockiert.«
Am liebsten hätte Anna gesagt: Genau so fühle ich mich. Aber sie konnte nichts sagen.
Rasch lenkte sie ab. »Und du willst wirklich mit mir in den Urlaub?«
»Ja, und wie. Es wird unser letzter Mädelsurlaub zu zweit werden. Die nächsten Jahre werd ich immer einen kleinen Schreihals mitschleppen müssen. Und dann willst du mich, also uns, bestimmt nicht mitnehmen.«
»Quatsch. Natürlich will ich das.«
»Trotzdem. Lass uns die Zeit noch mal so richtig genießen. Du pfeifst auf Viktor und wir lassen es uns gut gehen.«
»Ich denke über meine Beziehung nach und wir verbringen einen schönen Mädelsurlaub.«
»Siehst du, endlich lächelst du wieder. Und ich hab auch schon eine Idee, wohin wir fliegen. Barcelona, das ist meine absolute Traumstadt, da wollte ich schon immer mal hin.«
Annas Miene gefror.
»Was ist denn?«
Anna wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie räusperte sich. »Du weißt doch, dass ich dort ein Auslandsjahr studiert habe. Nachdem ich zwei Semester in Köln studiert hatte, als ich zwanzig war.«
»Ist doch super, dann kannst du mir deine Stadt zeigen.«
»Ich …« Annas Herz klopfte. »Ich würde aber lieber … etwas Neues sehen.«
»Das kannst du danach wieder mit Viktor. Bitte, bitte, bitte, bitte. Ich finde es so cool, dass du dich da auskennst, dann sprichst du Spanisch und kannst mir die Ecken zeigen, in die die Touris gar nicht kommen.«
Anna spürte, wie ihre Hände schweißnass wurden. Sofort dachte sie wieder an Rafael. Lebte er noch dort? Würde sie ihm über den Weg laufen? Ziemlich unwahrscheinlich, so groß wie Barcelona war.
Carina sah sie verständnisvoll an. »Ah, wegen einer alten Liebe willst du da nicht mehr hin. Ich seh es dir an. Wow, der Typ scheint dich ja ganz schön geflasht zu haben, wenn er so viele Jahre danach noch so etwas mit dir macht.«
Anna lächelte schwach und nickte.
»Lass mich raten: ein heißer Spanier, der dich dann schnöde sitzen gelassen hat. Wie heißt er?«
»Rafael.«
»Rafael. Aber Anna, jetzt mal ehrlich, wie groß ist die Chance, dass er dir in dieser Millionenstadt über den Weg läuft. Und selbst wenn, würdest du ihn bestimmt gar nicht mehr erkennen. Bestimmt hat er Bierbauch und Glatze. Hey, das ist … zwanzig Jahre her!«
Anna atmete durch. Ihr Herz schlug wild.
»Bitte, ich möchte so gern nach Barcelona. Die Bauwerke von Gaudí, diese geile Kirche… wie heißt die noch?«
»Sagrada Família.«
»Genau. Siehst du, du bist meine perfekte Fremdenführerin. Bitte, tu mir den Gefallen, lass uns nach Barcelona fliegen.«
Anna merkte, dass Carina nicht aufgeben würde. Und jetzt, nach der Nachricht, dass sie schwanger war, konnte sie ihr ja wirklich nicht ihren großen Wunsch abschlagen, mit ihr zu verreisen. Dennoch, sie konnte nicht. Fühlte sich, als habe jemand Betonklötze an ihre Beine gehängt.
»Wir machen gern einen Mädelsurlaub, in Italien, Frankreich oder auf Mallorca. Aber nicht Barcelona. Auf keinen Fall Barcelona!«