4. KAPITEL
2019, März – Barcelona
Während Anna mit Carina durch die kleinen Gassen der Altstadt, durch das gotische Viertel von Barcelona zog, krampfte sich ihr Magen zusammen. Es fühlte sich an, als drückte ein Riese seine große Faust hinein.
Carina sprühte vor guter Laune, begeisterte sich für die kleinen Läden, in denen es die traditionellen katalanischen Produkte gab. Vor einem Geschäft, dem La Maual Alpargatera, blieb sie stehen, denn hier verkauften sie Schuhe! Espadrilles, diese lässigen und bequemen Sommerschuhe aus Baumwolle und Juteseil. Sie bewunderte die verschiedenen Modelle. »Wow, so schöne Farben und Muster, Anna, guck mal, sogar kariert.«
Aber Anna hatte jetzt keinen Sinn für Schuhe und nickte nur abwesend.
Sofort kam ein Verkäufer heraus, zündete sich eine Zigarette an, und erklärte Carina auf Englisch, dass Espadrilles ihren Ursprung in Katalonien hatten. »Damals wurden sie als Bauernschuhe gesehen. Espardenyes heißt es in Katalan und Alpargatas in Spanisch. Wir stellen sie von Hand her.«
»Wirklich? Wie schön, das wäre eine tolle Erinnerung an unseren Urlaub, Anna. Und Espadrilles kann man immer gebrauchen. Sie sind die perfekten Sommerschuhe.«
Anna nickte wieder nur, in Gedanken.
»Anna?«
Der Verkäufer redete weiter auf Carina ein, die ihm zu gefallen schien. »In diesem Geschäft waren schon einige Hollywoodstars und haben Espadrilles gekauft. Penelope Cruz, Tyra Banks, Jack Nicholson …« Er lächelte ihr aufmunternd zu.
Carina sah ihn hin- und hergerissen an, dann wieder forschend zu Anna. »Okay, Anna, ich geh kurz rein, die Muster sind der Hammer, du kannst ja hier warten, wenn dich Schuhe plötzlich nicht mehr interessieren.«
»Äh, ja.« Anna hörte ihrer Freundin an, dass sie langsam genervt war, weil Anna nicht mit ihr über das redete, was sie beschäftigte. Aber wie sollte sie es Carina nur erklären? Das, über das sie nicht reden konnte.
Die Sonne schien ihr ins Gesicht. Touristen drängten sich an ihr vorbei. Angespannt zog Anna den Zettel aus ihrer Jackentasche, auf dem sie ihre Rechercheinformationen notiert hatte. Das, was sie zu Hause gegoogelt hatte, was ein Anfang sein konnte für ihre Suche. Nur deshalb hatte sie eingewilligt, wieder hierherzukommen, weil sie Inez’ Adresse herausgefunden hatte. Und das nach all der Zeit. Hoffentlich wohnte sie noch dort, oder vielleicht wussten die Nachbarn, wo sie Inez finden konnte.
Freudestrahlend kam Carina kurz darauf mit einem Stoffbeutel in der Hand wieder heraus. Anna steckte schnell den Zettel zurück in ihre Tasche.
»Guck mal, sind die nicht megahübsch?« Sie zog ein paar Espadrilles mit rosa Blümchen heraus. »Pfirsichblüten sind das, hat der Verkäufer gesagt.«
Anna musste schlucken. »Ach ja?«
Wieder sah Carina sie forschend an. »Jetzt rede endlich mit mir.«
Anna brachte keinen Ton heraus.
Carina hakte sie ein, zog sie weiter. »Wir gehen jetzt einen Kaffee trinken, essen ein paar Tapas dazu und du sagst mir endlich, was damals geschehen ist.«
Anna stolperte ihr hinterher. »Ich … er hat halt mit mir Schluss gemacht. Ende der Geschichte.«
»Von wegen. Die fängt gerade erst an, das spüre ich. Komm, es muss raus, das sehe ich dir an.«
»Es ist nichts, ich meine, ich sehe sicher nur Gespenster«, rutschte ihr heraus. Sofort biss sie sich auf die Lippe, wie sie es immer tat, wenn sie etwas gesagt hatte, ohne es zu wollen. Und das kam häufig vor. Besonders in jungen Jahren war es ihr oft passiert, mittlerweile hatte sie es im Griff – dachte sie zumindest.
»Gespenster? Wer sagt das? Das kommt doch nicht von dir?« Carina blieb stehen, sah sie verstehend an. »Viktor. So redet Viktor, hab ich recht?«
Anna sah zu Boden, betrachtete ihre Füße, die in leichten Turnschuhen steckten, und schüttelte den Kopf.
»Boah! Und ob. Anna, was ist los mit dir? Du bist schon seit einer Woche so seltsam. So kenn ich dich gar nicht.«
»Ich … ich bekomme meine Tage, da bin ich in letzter Zeit öfter total durcheinander«, wich sie aus. Sie konnte es Carina unmöglich sagen. Auf keinen Fall. »Die Hormone.«
Aber Carina ließ das nicht gelten, redete auf ihre Freundin ein, erst nach einer Weile, als sie merkte, wie stur Anna sein konnte, gab sie auf.
»Du bist sturer als der Hund meines Bruders. Wenn der nicht da hinwill, wo meine Schwägerin hinwill, kann sie zerren, so viel sie will.«
»Können wir nicht einfach unseren Urlaub genießen?«, versuchte es Anna zaghaft und bemühte sich, das Thema zu wechseln.
Carina schnaubte durch. »Wir gehen jetzt einen Kaffee trinken, essen ein paar Tapas dazu und du sagst mir endlich, was damals geschehen ist.«
Sie setzten sich in einem belebten Straßencafé in die Sonne, bestellten sich Café con leche, Carina entkoffeiniert. Dazu sardinhas
, Oliven und patatas bravas
. Anna fühlte sich schlecht. Carina surfte in ihrem Smartphone, die Sonnenbrille auf der Nase, schien verschnupft. Zu Recht, gestand sich Anna innerlich ein. Aber dennoch wagte sie es nicht, mit ihrer besten Freundin darüber zu reden. Die Stimmung blieb angespannt. Nicht einmal die köstlichen Tapas konnten Carina besänftigen.
Erst als sich ein attraktiver Enddreißiger an einen kleinen Tisch neben ihnen setzte und immer wieder zu ihnen herübersah, entspannten sich Carinas Gesichtszüge. Er sprach die Freundinnen an, wobei sofort klar war, dass er an Carina interessiert war und nicht an Anna. Fynn aus Schweden, er spielte Basketball, war blond, sehr groß und sehr muskulös. Noch dazu schlagfertig und amüsant. Anna hielt sich aus dem kleinen Schlagabtausch der beiden heraus, freute sich, dass Carina wieder auftaute, und während sich die beiden bestens unterhielten, dachte Anna aufgewühlt daran, was es bedeuten würde, wenn sie keine Gespenster sähe. Sie fröstelte unwillkürlich und das bei 22 Grad Celsius im Sonnenschein.
»Anna?«
»Was?«
»Er hat noch kein Hotel.«
»Wer?«
»Na wer wohl. Fynn.«
Fynn lächelte Anna jetzt an. Ein sehr nettes Lächeln, wie sie zugeben musste. Er schien in Ordnung zu sein, sofern man das
von einem Menschen sagen konnte, den man gerade mal fünf Minuten neben sich sitzen hatte.
»Und das heißt?«
»Dass er doch bei uns in der Bettritze schlafen kann, oder?«
Anna sah ihre Freundin fassungslos an.
Fynn und Carina lachten los.
»Scherz. Er hat gerade online geguckt und es ist noch ein Zimmer in unserem Hotel frei.«
»Super.« Anna klang etwas lahm.
»Find ich auch. Wenn mit dir eh nicht viel los ist«, konnte sich Carina nicht zu sagen verkneifen.
Dann lächelte sie Fynn wieder an. Und da sah Anna es. Ein Fünkchen, das von ihm zu ihr geflogen war. Oder von ihr zu ihm? Wie sehr sie es der Freundin gegönnt hätte, endlich einmal Glück in der Liebe zu haben. Aber mit einer Urlaubsbekanntschaft, noch dazu aus Schweden? Und wenn er erfahren würde, dass sie schwanger war? Ob das gut ginge?
Aber die beiden scherzten gerade schon wieder so gutgelaunt, als würden sie sich schon etliche Jahre kennen.
Vielleicht war das sogar optimal, dass Carina diesen Mann kennengelernt hatte, dachte Anna. Dann konnte sie selbst sich auf ihre Suche konzentrieren und Carina wäre nicht allzu enttäuscht von ihr. Immerhin war sie jetzt doch mit ihr hierhergekommen. Nachdem Anna, nach ihrem Entschluss, einen Mädelsurlaub zu verbringen, den alten Karton hervorgekramt hatte, in dem sie ihre Barcelona-Erinnerungen von damals aufbewahrte. Seit damals, seit über zwanzig Jahren, hatte sie ihn nicht mehr geöffnet gehabt.