7. KAPITEL
1998, Aitona, Pfirsichplantage
Der Duft der Pfirsichblüten umwehte Anna. Sie konnte ihre Augen nicht von Rafael wenden. Dieser führte eine Gruppe Touristen durch die rosarot blühende Pfirsichplantage. Die Ahs und Ohs konnte man trotz der verschiedenen Sprachen hören. Anna folgte ihm, hatte von ihrer Chefin Naia gesagt bekommen, mitzulaufen, um von Rafael angelernt zu werden. Jetzt blieb er stehen, stellte sich vor der kleinen Gruppe hin und begann, den Leuten auf Englisch von dieser Frucht zu erzählen: »In China gilt der Pfirsich als Symbol von Unsterblichkeit …«
Anna versuchte, ihm zuzuhören, aber sie hing nur an seinen vollen Lippen, die sich bewegten, die Worte aber kamen nicht bei ihr an.
Fasziniert beobachtete sie diesen schönen Mann, der mit seinem Charme die Touristinnen verzauberte, der aber auch bei den Männern gut anzukommen schien. Und immer wieder wanderten seine Blicke zu Anna. Jedes Mal blieb ihr die Luft weg, jedes Mal konnte sie nicht glauben, dass er sie meinte. Nachdem er die Gruppe verabschiedet hatte, trat er zu Anna und lächelte sie an. Sie unterhielten sich auf Englisch.
»Ich konnte mich kaum konzentrieren«, sagte er.
»Du? Wenn, dann ja wohl ich!«, entfuhr ihr. Hatte sie das wirklich gesagt? Sie biss sich auf die Lippe.
Er lächelte. »Dir geht es genauso?«
Wie direkt er war. Anna war das von den deutschen Jungs nicht gewohnt.
»Du bist wunderschön.«
Wieder blickte sie sich unwillkürlich um, ob eine attraktive Blondine hinter ihr stand.
Er lachte. »Sehr charmant. Komm mit, ich zeige dir noch etwas.«
Mit Knien so weich wie Pudding folgte sie ihm. Er ging die Reihe der blühenden Pfirsichbäume entlang, bog rechts ab, dann wieder links, und mit einem Mal befanden sie sich an einer Holzhütte. Davor stand ein Fahrrad. »Komm, wir fahren wo hin.«
»Gern, aber welches Rad soll ich nehmen?«
Wieder lachte er, stieg auf, bedeutete ihr, sich auf den Gepäckträger zu setzen.
Das hatte Anna nicht mehr gemacht, seit sie ein kleines Kind gewesen war. Zögerlich setzte sie sich darauf, suchte nach einer Möglichkeit, sich festzuhalten, aber es gab keine, außer die Arme um Rafael zu schlingen. Er fuhr ruckartig los und sofort hielt sie sich an ihm fest. Spürte seinen schlanken Rücken, seine Muskeln, die sich bewegten. So fuhren sie durch diesen rosaroten Farbentraum, bis der Weg anstieg und Rafael Mühe hatte, vorwärtszukommen. Er gab auf. »Du musst absteigen, sonst kommen wir auf diesen Hügel nicht hinauf.«
Anna löste bedauernd ihre Arme, es hatte sich so gut angefühlt. Sie stieg ab, sah ihn an und auch er sah ihr in die Augen. Anna senkte ihren Blick, ging neben ihm her.
»Hat es dir gefallen?«, wollte er wissen.
»Oh ja«, rutschte ihr heraus.
»Ich meinte die Blüten.«
»Äh ja, ich auch.«
Sie schluckte, ging neben ihm her, während er das Fahrrad schob.
Endlich kamen sie auf dem Hügel, den man schon von Weitem gesehen hatte, an.
Die Aussicht war wirklich gigantisch.
»Wow!«
Eine kleine Kapelle thronte hier oben.
»Das ist die Ermita de San Juan de Carratalá, von hier aus hat man den besten Blick auf diese rosarote Welt.«
Er stand dicht neben ihr. Sie könnte sich jetzt an ihn lehnen, dachte sie. Ihren Körper zog es wie magisch zu ihm.
Rafael schien es ähnlich zu gehen. Zumindest kam er immer noch ein bisschen näher. Schüchtern ging sie weiter, auf die Kapelle zu, und ärgerte sich im selben Moment über sich selbst. Er folgte ihr, betrat die Kapelle. Ein kleiner Altar befand sich darin. Anna sah sich ehrfürchtig um. Bestimmt hatten hier früher Hochzeiten stattgefunden.
Rasch ging sie wieder hinaus in die Sonne, ließ ihren Blick über die rosafarbenen Blüten gleiten.
Wieder trat Rafael neben sie. Sie spürte seinen Atem, während er ihr erklärte, welche unterschiedlichen Pfirsichbäume sie da unten sehen konnte. In Annas Kopf kam nichts an. Sie hatte das Gefühl, als sei er voller Zuckerwatte. Klebrig und süß.
Die nächsten Wochen lebte sie wie auf einer rosaroten Wolke. Rafael hatte sich tatsächlich in sie verliebt, dieser wunderschöne Mann, der bei Naia und den Touristen so beliebt war. Und bei Inez und Pablo, den beiden anderen Studenten, die auf der Pfirsichfarm arbeiteten. Sie schienen sich schon aus der letzten Saison zu kennen, alberten viel herum, waren ein Paar,
nahmen Anna auf, als wäre es das Natürlichste der Welt. Rafaels Freundin. Sie fühlte sich so stolz, immer noch so ungläubig darüber. Aber ihre Unsicherheit verschwand immer mehr, je öfter er Anna Komplimente machte, ihr seine Liebe schwor. Rafael, Inez und Pablo wohnten während dieses Studentenjobs oft auf der Farm und gingen nur ab und zu zur Uni. Auch Anna übernachtete jetzt dort, konnte bei Rafael schlafen. Mit ihm. Er war der erste Mann in ihrem Leben, und das, obwohl sie bereits zwanzig war. Sie hatte zunächst ein paar Wochen warten wollen, aber dann hielt sie es nicht mehr aus.
Seine Zärtlichkeiten brachten sie fast um den Verstand, sein Duft, seine Nähe, seine verwuschelten Haare am Morgen. Seine nackte Haut. Anna hörte die ganze Zeit die Stimme ihrer Mutter und ihres Vaters in sich. »Hauptsache, du wirst kein leichtes Mädchen.« »Kein leichtes Mädchen.« »Wehe, du wirst ein leichtes Mädchen.«
Nach einer Nacht am Lagerfeuer, das sie auf der Farm gemacht hatten, einiger Sangria und mit einem Bauch voller Schmetterlinge, legte sie sich zu Rafael ins Bett. Er war ganz Gentleman geblieben, hatte es akzeptiert, dass sie warten wollte. Aber heute Nacht setzte sie sich auf ihn, zog sich ihr Schlaf-T-Shirt aus, sodass er im Mondschein ihre kleinen Brüste sehen konnte. Es machte ihr nichts mehr aus, sie zu zeigen. Im Gegenteil. Es erregte sie. Und erst recht, wie er mit nacktem Oberkörper dalag, sie ernst ansah, mit seinen Händen über ihre Hüften strich, sie streichelte, sich aufsetzte, ihre Knospen berührte, als handele es sich um kostbare Blumen. Erst mit den Händen, dann mit dem Mund, mit seinen vollen Lippen. Anna sog scharf die Luft ein. Was machte dieser Mann mit ihr? Er weckte Gefühle in ihr, die sie nie für möglich gehalten hätte.
»Du darfst kein leichtes Mädchen werden«, säuselte eine Stimme in ihrem Hinterkopf. Aber mit einem Mal wusste Anna, dass sie auf ihre eigene Stimme hören musste, und die
sagte ihr, dass sie sich diesem unglaublichen Gefühl hingeben wollte, diesen Mann spüren, seine Leidenschaft, seine Hände, seinen Körper. Und noch nie hatte sie sich so frei und leicht gefühlt wie in diesem Moment.
Die Tage vergingen so schnell, als flatterte ein Blütenblatt von einem Baum.
Anna pendelte zwischen der Universitat Autònoma de Barcelona und Aitona hin und her. Sie ließ Vorlesungen ausfallen, um Rafael zu sehen, starb fast vor Sehnsucht, wenn sie sich einmal einen Tag nicht sahen, und konnte sich beim Studium kaum konzentrieren.
»Ich liebe dich, kleine Anna«, sagte er immer mit diesem süßen Akzent. »Du bist so wunderbar natürlich.«
Inzwischen beherrschte sie die spanische Sprache schon besser und so unterhielten sie sich in einem Kauderwelsch aus Englisch und Spanisch. Abends saßen sie gern an der kleinen Kapelle mit Blick über die Pfirsichbäume, träumten davon, später zusammen in einer Hütte am Meer zu wohnen und gemeinsam alt zu werden. Anna hätte nicht glücklicher sein können. Die Ehe ihrer Eltern war eine Farce im Gegensatz zu ihrer Liebe. Wie konnten die beiden nur noch zusammen sein? Anna hatte zwar auch immer wieder ein schlechtes Gewissen, wenn sie an ihre Mutter und ihren Vater dachte, da sie mit Rafael zusammen war, ohne dass er ihr die Hochzeit versprochen hatte. Denn so konservativ waren ihre Eltern tatsächlich gestrickt. Je länger sie von zu Hause fort war, in diesem schönen Land, desto klarer wurde ihr, wie eingeengt sie sich in ihrem Elternhaus und der Kleinstadt gefühlt hatte. Viele Spanier waren zwar auch katholisch und konservativ, aber die spanischen Studenten, die Anna hier kennenlernte, lebten ein lockeres, leichtes Leben. Rafael ging kaum zur Uni, nutzte die Arbeit auf der Pfirsichfarm, um
sein Konto aufzubessern, trank viel Wein, lachte gern und war verrückt nach Anna.
»Ihr zwei seid wirkliche Turteltäubchen«, sagte Inez, als sie an einem Morgen auf der Plantage standen und auf die ersten Touristen des Tages warteten. Anna sah verschämt zu Boden, dann wieder auf. Sie fing den Blick von Pablo auf, dem Freund von Inez. Dieser attraktive, groß gewachsene Spanier lächelte Anna verständnisvoll zu. Anna hatte schon öfter das Gefühl gehabt, dass ihm Inez’ Direktheit und ihre laute Art manchmal unangenehm waren. Er schien auch eher der zurückhaltende Typ zu sein, wie Anna. Rafael legte seinen Arm besitzergreifend um Anna, zog sie zu sich und drückte ihr einen Kuss auf den Mund. Dann löste er sich und lachte. »Ich bin verrückt nach ihr, ich kann nichts dagegen tun.«
Anna freute sich innerlich unbändig. Noch nie war ein Mann verrückt nach ihr gewesen. Sie schmiegte sich an ihn. Die ersten Touristen kamen. Wieder fing sie einen Blick von Pablo auf. Er mochte sie und sie ihn. Eigentlich hätte er eine nettere Freundin als Inez verdient, dachte sie. Inez hatte eine Ausbildung als Hebamme und studierte jetzt Medizin. Aber das Studium fiel ihr schwer und sie spielte mit dem Gedanken, abzubrechen. Die Zeit auf der Pfirsichplantage wollte sie nutzen, um sich darüber klar zu werden. Ihre Laune war deshalb oft nicht die beste und sie ließ sie an Pablo aus. Der schien gutmütig zu sein, dennoch wartete Anna immer darauf, dass ihm die Hutschnur platzte. Da Rafael recht besitzergreifend war, konnte sie selten mit Pablo reden. Aber er schien ein feiner Kerl zu sein, studierte Kunstwissenschaft.
Die Tage auf ihrer rosaroten Wolke vergingen wie im Flug. Eines Morgens, sie hatte bei Rafael geschlafen, fiel ihr auf, dass sie ihre Periode längst hätte haben müssen. Anna betrachtete den schlafenden Rafael, der aussah wie ein Engel. Dabei rechnete sie nach. Und plötzlich wurde ihr heiß und sie wurde
panisch. Hatte er doch nicht genug aufgepasst, so wie er es ihr versprochen hatte? Anna wusste von ihren Freundinnen zu Hause, dass diese Methode nicht gerade die sicherste war. Aber Rafael hatte ihr versichert, es immer so zu machen, und noch nie sei etwas passiert.
Nervös stand Anna auf, ging in dem kleinen Zimmer umher, blieb am Fenster stehen und sah hinaus. Ihr Blick ging über die Pfirsichbäume, die Blüte war bereits vorüber, aber immer noch gab es auf der Plantage genug zu tun für sie alle. Anna wurde immer panischer. Was, wenn sie jetzt schwanger war? Ihre Eltern würden ausflippen, sie verstoßen, sich bestätigt fühlen. Ein leichtes Mädchen, all ihre Vorhersagen hätten sich erfüllt.
Sie ging zu Rafael, rüttelte ihn aufgeregt wach. »Rafael, Rafael, wach auf. Ich brauch eine Apotheke.« Sie brauchte Gewissheit, sofort. Ihrer Berechnung nach war sie schon so weit, dass ein Test bestimmt schon Sinn hatte.
Rafael fuhr sich müde über die Augen und durchs Haar. »Was ist denn los?«
»Ich hab schon länger meine Tage nicht mehr, weißt du was für eine Katastrophe das wäre?«
Plötzlich war er hellwach, setzte sich auf. Die Nachricht sickerte langsam zu ihm durch. Er lächelte unsicher. »Ein Kind? Wir bekommen ein Kind?«
»Nein! Das darf nicht sein.« Anna schrie es fast. »Meine Eltern bringen mich um.«
»Aber es wäre doch schön.«
»Ja, aber … wir sind doch viel zu jung, haben kein Geld, wollen studieren.«
»Ach, das kriegen wir schon hin. Komm her.« Er zog sie zu sich, knutschte sie nieder und Anna freute sich über seine niedliche Reaktion. Vielleicht hatte er ja recht und es war einfach die natürlichste Sache der Welt, die Krönung ihrer Liebe. Anna
beruhigte sich in seinen Armen wieder etwas und direkt nach dem Frühstück fuhren sie mit den Rädern zu einer Apotheke.
Die Apothekerin sah sie streng an. Wieder wurde Anna bewusst, was es bedeuten würde, schwanger zu sein. Auch die Spanier waren ein konservatives Volk. Nur weil Rafael so locker reagiert hatte, musste sie nicht glauben, dass dies alle in ihrem Umfeld tun würden. Sie waren ja auch nicht verheiratet!
Noch nie waren Anna ein paar Minuten wie die, die sie nun auf das Testergebnis wartete, wie eine Ewigkeit vorgekommen.
Schwanger. Zwei Streifen. Sie würde ein Baby bekommen. Ihre Gefühle fuhren Achterbahn. Aber das Glück überwog. Freudestrahlend nahm Rafael sie an den Hüften, hob sie hoch und wirbelte sie im Kreis. »Ein Baby, unser Baby, es wird sicher ein Mädchen werden, genauso schön wie du.«
Anna lachte unsicher. Sah ihn an, nachdem er sie abgesetzt hatte. »Ich bin so froh, dass du dich freust. Meine Eltern werden das gewiss nicht tun.«
»Dann sag es ihnen nicht. Erst mal zumindest.«
Anna überlegte. Solange sie das Jahr in Spanien war, konnte sie es verheimlichen. Dann würde sie verlängern und mit einem Baby nach Hause zurückkommen und hoffentlich wären ihre Eltern dann so entzückt von ihrem süßen Enkel, dass sie sich mit ihren Vorwürfen zurückhalten würden. Ein guter Plan. Genau so wollte es Anna tun. »Und deine Eltern?«
Anna wusste nur, dass seine Mutter Ärztin war, eine strenge, kühle Person, und sein Vater nach Rafaels Aussage ein Waschlappen. Sie wohnten außerhalb von Barcelona. »Ich sag ihnen auch erst mal nichts. Meine Mutter ist Gynäkologin, sie weiß immer alles besser und ist eher von der alten, harten Sorte.«
Anna sah ihn verblüfft an. »Du willst es ihnen nicht sagen?«
»Du doch auch nicht.«
»Das ist aber etwas anderes, ich bin ja eh noch länger hier. Und sehe meine Eltern in der Zeit nicht.« Sie hatten ihr gleich gesagt, dass sie in dieses Spanien auf keinen Fall reisen würden, um sie zu besuchen.
Rafael überlegte, wurde dann ernst. »Meine Mutter wird sich nur bestätigt fühlen. Sie findet, ich bin nicht straight
genug. Habe keinen Biss. Sie wollte, dass ich Medizin studiere. Als klar war, dass ich eine Geisteswissenschaft studiere, hat sie gesagt, sie unterstützt mich nicht. In keinerlei Weise.«
Traurig sah Anna ihn an, strich ihm übers Gesicht. Sie merkte ihm an, wie sehr ihn das verletzt hatte. »Sie ist bestimmt auch stolz auf dich.«
»Auf was denn? Wenn ich jetzt noch mit einem Kind komme, fühlt sie sich bestätigt. Ich mach es wie du. Einem süßen Baby kann sie bestimmt nicht widerstehen.«
Er küsste Anna sanft auf den Mund. »Von unseren Eltern werden wir keine große Unterstützung bekommen. Aber wir schaffen das trotzdem, zusammen sind wir stark.«
»Ja, zusammen sind wir das.«