9. KAPITEL
Zurück in Barcelona kehrten sie in eine Tapasbar ein, um etwas zu essen. Es war ein langer Tag gewesen, Annas Beine schmerzten.
Carina räkelte sich. »Ich bin wirklich hundemüde, lass uns doch noch ein frisches Brot kaufen und das mit der Pfirsichkonfitüre als Nachtisch auf unserem Balkon im Hotelzimmer genießen.« Anna hatte ihr erzählt, dass ihre Mutter ihr als Kind immer ein Konfitürenbrot gemacht hatte, wenn sie sich verletzt hatte oder ihren Teddy nicht mehr fand.
»Gute Idee. Ich bin auch groggy.« Anna winkte dem Ober.
Mit dem frischen Brot unterm Arm schlenderten sie zum Hotel. Auf ihrem Balkon hatten sie zum Glück einen schönen Ausblick über die Stadt. Dort machten sie es sich gemütlich, bestrichen Brotscheiben mit der Pfirsichkonfitüre. Anna biss in eine davon. Es schmeckte herrlich. Genau wie früher. Naias Konfitüre war einfach die beste. Das Aroma der Pfirsiche erfüllte ihren Mund.
»Fynn scheint nicht im Zimmer zu sein, sonst hätte er doch schon längst herübergeschaut. Ob er jetzt wohl sauer ist, dass ich unser Date verschoben habe?« Carina sah man die Zweifel an.
»Das glaube ich nicht. Er ist sehr angetan von dir.«
»Ich hatte insgeheim gehofft, der Duft der Pfirsichkonfitüre zieht ihn doch noch an. Tja, ich weiß auch nicht, ich vertraue Männern einfach nicht mehr. Mein Ding. Du hast ja recht. Wenn er sich schon neben uns im Hotel einnistet, wird er schon nicht gleich die Nächste daten.«
»Genau. Du bist eine tolle Frau, da wäre er ja auch schön blöd.«
»Danke, Süße, das zu hören tut manchmal gut.«
Anna hatte sich in den letzten Wochen viel zu wenig Zeit für ihre Freundin genommen, musste sie feststellen. Carina schien sich einsam zu fühlen, mittlerweile hatte sie vom Singleleben die Nase voll, wie sie ihr offenbarte. »Bei jedem Date hab ich inzwischen doch die Hoffnung, es könnte Klick machen, aber was dann Klick macht, ist nur das Geräusch meines Kiefers, der nach unten fällt, weil die Typen so schamlos sind, nur mit mir in die Kiste wollen, ihre Frauen betrügen oder Dünnsinn reden.«
»Oh je, so schlimm?« Anna dachte an Viktor, wie gut sie es im Grunde hatte. Nur die Schmetterlinge, die fehlten ihr in letzter Zeit immer mehr. Aber gab es das überhaupt? Eine längere Beziehung, die immer noch ein Flattern im Bauch auslöste? Sie wagte es nicht, mit Carina darüber zu reden. Denn diese würde vielleicht sagen, sie solle sich von Viktor trennen. Nachdem sie noch eine Weile über Männer geredet hatten, verabschiedete sich Carina ins Bett. »Das muss die Schwangerschaft sein, ich bin doch sonst so eine Feiernudel und Nachteule.«
»Oder das Alter«, scherzte Anna. »Ich darf das sagen, ich bin zwei Monate älter als du. Und ich fühle mich gerade wie 95.«
Die Freundinnen lachten.
Dann machten sie sich bettfein und legten sich ins gemeinsame Bett.
»Gute Nacht, Süße, wir finden schon noch heraus, warum sich dein Rafael damals so obermies benommen hat.«
Sie hatten auf Annas Wunsch das Thema seit der Pfirsichplantage nicht mehr angeschnitten. Anna atmete durch. »Ja, vielleicht.«
Carina schlief sofort ein. Anna lag da und so viele Gedanken schwirrten in ihrem Kopf herum. So viele Bilder von diesem Tag. Barcelona, diese traumhafte Stadt, Naia, welch herzliche Frau, die blühenden Pfirsichbäume. Wie schön die Zeit damals gewesen war. Auch mit Inez und Pablo, zu viert waren sie so ein gutes Team gewesen. Sie waren jung und unbeschwert gewesen bis dahin.
Anna hatte sich nicht mehr an Inez’ Nachnamen erinnert, aber Naia hatte ihn noch gewusst. Sanchez. Der half leider nicht weiter, gefühlt halb Spanien hieß Sanchez.
Anna zog jetzt aber trotzdem ihr Handy heraus und surfte im Internet, googelte nach Inez Sanchez. Wie erwartet. Es gab unzählige Frauen in ihrem Alter mit diesem Namen. Sie fand kein Bild, in dem sie die Inez von damals wiedererkannt hätte. So ein Mist. Frustriert legte sie ihr Handy weg, da kam eine Nachricht. Viktor. »Wo steht der Rotwein, den ich mal von meinem Vater bekommen habe?« Anna starrte auf die Nachricht.
Mehr hatte er ihr nicht zu sagen?
Sie antwortete: Im Keller im rechten Regal. Trinkst du jetzt noch Rotwein?
Immerhin war es schon 23 Uhr. Viktor ging unter der Woche immer pünktlich ins Bett, um ausgeschlafen zu sein.
Er antwortete: »Hab Gäste.«
Verblüfft starrte sie auf ihr Handy. Wen hatte er denn eingeladen? Sofort war ihre Neugierde erwacht. Sollte sie nachfragen? Aber dann klang es eifersüchtig und er hasste das.
Zu gern hätte sie jetzt mit Carina beraten, aber die atmete ruhig und glückselig.
Anna legte das Handy auf den Nachttisch und sich selbst wieder hin. Sie schloss die Augen. Aber im Gegensatz zu Carina fand sie keine Ruhe. Ihr wurde klar, sie konnte nur zu sich selbst finden, wenn sie es schaffte, mit der Vergangenheit abzuschließen. Anna überlegte fieberhaft, was sie tun könnte, um ihre Gedanken zu sortieren. Sie musste wissen, warum Rafael sich so schäbig benommen hatte. Und herausfinden, was das mit Inez war.
Da hatte sie eine Idee. Sie konnte zu der Wohnung gehen, in der Inez damals gelebt hatte. Es mochte zwar etwas unrealistisch sein, dass sie dort noch wohnte, aber immerhin hatte es sich um die Eigentumswohnung ihrer Eltern gehandelt, in der sie als Studentin eine WG gründen durfte.
Am nächsten Morgen schien die Sonne in ihr Hotelzimmer. Anna blinzelte. Urlaub, Spanien, wie gut es ihr ging. Noch dazu mit ihrer besten Freundin.
Carina streckte sich, wischte sich übers Gesicht. »Guten Morgen, guck mich nicht so genau an, ohne Schminke seh ich furchtbar aus.«
»Ach Quatsch. Ich finde dich schön so.«
Carina lächelte. »Schade, dass du kein Mann bist, ich würde dich glatt heiraten.«
Anna lachte. »Stattdessen triffst du dich heute mit einem schönen Schweden.«
»Alter Schwede, ja. Soll ich noch mal absagen?«
»Untersteh dich. Mir ist eingefallen, wo Inez damals gewohnt hat. Ich schlendere da mal hin und guck, ob es einen Hinweis auf sie gibt.«
»Soll ich nicht besser mitkommen?«
»Nein, brauchst du nicht. Wie gesagt, vielleicht ist es ganz gut, wenn ich ein bisschen Zeit mit mir verbringe.«
»Okay, aber sonst rufst du mich an, dann komme ich geflogen.«
»Klar doch.«
Carina schwang sich aus dem Bett, ging ins Bad, duschte. Nach einer Weile kam sie hübsch zurechtgemacht und duftend heraus.
»Du siehst toll aus.«
Sie fasste sich an den Bauch. »Zum Glück sieht man den noch nicht.«
»Nein, du hast einen super Bauch.« Die Freundinnen lächelten sich an.
»Ach, Anna.« Sie setzte sich zu Anna aufs Bett. »Jetzt wo ich das über dich weiß, seh ich dich irgendwie mit anderen Augen.«
»Oje. Inwiefern?«
»Nein, nicht oje. Überhaupt nicht schlimm. Im Gegenteil. Du bist noch stärker und taffer, als ich dachte. Dass du das alles mit dir selbst ausgemacht hast all die Jahre. Respekt. Ich glaube, ich wäre kaputtgegangen.«
»Du bist genauso stark. Und bist mir also wirklich nicht böse, dass ich dir nie etwas gesagt habe?«
Carina schüttelte den Kopf. »Jeder geht anders mit so was um. Ich finde es aber auch super, dass du dich dem Thema jetzt stellst und dem Typen die Ohren langziehen willst, weil er dich so hängen lassen hat. Ich bin stolz auf dich.«
»Okay, danke.«
»Und gleich treffe ich meinen heißen Schweden. Schließlich sind wir da, um das Leben zu genießen, oder?«
»Sind wir. Perfekter Plan.«
Carina stand auf, sah Anna an, zögerte.
»Sollen wir nicht doch wenigstens zusammen frühstücken? In dem netten Café nebenan?« Sie hatten das Zimmer ohne Frühstück gebucht, weil sie es lieber mochten, ein
echtes spanisches Frühstück in einem Straßencafé in der Sonne einzunehmen.
»Nein, wirklich, geh mit Fynn frühstücken, macht euch einen superschönen Tag. Ich brauch noch etwas.«
»Okay, Süße.« Carina verabschiedete sich und Anna wünschte ihr ganz viel Spaß. »Genieß es wirklich. Jede Sekunde.«
»Das werde ich. Schließlich werde ich mit einem schreienden Baby nicht so schnell wieder einen Verehrer haben«, scherzte sie.
»Unsinn. Es gibt genug Männer in unserem Alter, die auch eine Frau mit Kind toll finden.«
Carina lächelte ungläubig, warf ihr einen Luftkuss zu und ging.
Anna blieb einen Moment liegen und dachte an Viktor. Er war der einzige Mann gewesen, der partout keine Kinder gewollt hatte. Warum eigentlich nicht? Was, wenn er nur mit ihr keine wollte? Wie oft hatte man gehört, dass einer, der keine Familie plante, mit der nächsten Frau sofort ein Kind bekam? Wieder dachte Anna darüber nach, ob ihre Gefühle füreinander ausreichten. Ob sie es je getan hatten? Mit den Jahren war er immer ein kleines bisschen respektloser ihr gegenüber geworden, hatte sich immer weniger für sie und ihre Gedankenwelt interessiert. Was, wenn es ihnen gerade so ging wie so vielen Paaren? Hatten sie sich auseinandergelebt und -geliebt? Hier in dieser kleinen Auszeit wollte sie sich auch die Zeit nehmen, genug darüber nachzudenken, in sich hineinzuhorchen, was sie vom Leben, von der Liebe, weiterhin wollte. Denn als middle ager
war es höchste Zeit, die zweite Hälfte seines Lebens möglichst genau so und mit den Menschen zu verbringen, die einen glücklich und zufrieden machten. Sicher, manches in seinem Leben, wie Job und Gesundheit, konnte man nur begrenzt selbst beeinflussen, aber einiges eben schon.
Anna stand auf, ging ins Bad, zog ihr Schlaf-T-Shirt aus und stieg, ohne sich kritisch zu betrachten, unter die Dusche, genoss den erfrischenden Wasserstrahl, den zitronigen Duft ihres Duschshampoos.
Die Straßen Barcelonas füllten sich. Anna saß in einem gut besuchten Straßencafé in der Sonne, vor sich einen Café con leche und einen mit Olivenöl beträufelten Toast, darauf klein geschnittene Tomate und Knoblauch. Sie liebte dieses herzhafte spanische Frühstück, spürte der Geschmacksexplosion in ihrem Mund nach. Wie oft hatte sie es damals gegessen, zusammen mit Rafael auf der Pfirsichfarm bei Naia. Anna beobachtete die Menschen um sie herum, darunter eine Mutter mit einem kleinen Kind, und genoss ihr Alleinsein. Bisher hatte sie es nie gemocht, allein in ein Café oder Restaurant zu gehen, weil sie sich immer verloren vorkam. Aber jetzt, hier in der Sonne Spaniens, konnte sie es plötzlich genießen. Und sie beschloss, es zu Hause in München wieder öfter zu tun.
Nachdem sie ihren Kaffee ausgetrunken hatte, bezahlte sie und schlenderte weiter durch die Gassen Barcelonas. An Geschäften, Bars und Restaurants vorbei, betrachtete die Tapas, die in manchen Schaufenstern zu sehen waren, die Auslagen der kleinen Designergeschäfte oder Tabakläden. An einem Laden, in dem es verschiedene Olivensorten gab, blieb sie stehen. Sofort kamen ihr wieder Bilder in den Kopf. Rafael, der sie mit grünen Oliven und Manchego-Käse gefüttert hatte. Im Bett, nackt und nach dem Sex. Wie oft hatten sie danach erneut miteinander geschlafen! Nachdem er eine Olive in die kleine Vertiefung ihres Bauchnabels gelegt und sie mit dem Mund zurückerobert hatte. Wie sehr hatte sie ihn begehrt, wie leidenschaftlich hatten sie sich geliebt. Nie wieder, auch nicht mit Viktor, hatte sie sich so fallen lassen können, wurde ihr gerade bewusst.
Nachdenklich ging sie durch das Barri Gòtic, versuchte, sich zu erinnern, wo die Eigentumswohnung von Inez’ Eltern gewesen war. Hier irgendwo in diesem Viertel, in einer dieser Gassen musste es sein. Sie hatten sich damals öfter nach der Uni bei Inez in der WG getroffen, um einen Café con leche zu trinken und dann gemeinsam zur Pfirsichplantage zu fahren. Rafael, Pablo, Inez und sie.
Aber nach all den Jahren sah alles so anders aus. Ladenbesitzer hatten gewechselt, Annas Obst- und Gemüsehändler, bei dem sie für sich und Rafael immer Obst gekauft hatte, gab es leider auch nicht mehr. Stattdessen hatte sich dort eine dieser Kaffeeketten breitgemacht.
Sie bog um eine Straßenecke und blieb nachdenklich stehen. Hier konnte es sein. Für einen Moment schloss sie die Augen, um sich zu erinnern. Dann öffnete sie diese wieder, schritt auf ein Haus zu, suchte das Klingelschild und las die Namen. Tatsächlich, Sanchez stand da. Zweiter Stock. Anna wusste zwar, dass es diesen Namen hier so oft gab, aber vielleicht hatte sie ja Glück, da es eine Eigentumswohnung der Sanchez gewesen war. Sie atmete kurz durch, dann drückte sie auf die Klingel.
Es tat sich nichts. Offenbar war niemand zu Hause. Enttäuscht sah sie sich um. Sollte sie warten? Es konnte Stunden dauern. Oder Tage. Vielleicht war es ja eine Ferienwohnung geworden, die gerade leer stand. Was ja in Barcelona nicht so unüblich geworden war. Anna drückte erneut auf die Klingel. Dann überlegte sie unentschlossen, wandte sich enttäuscht um und ging einen Schritt los. Da hörte sie plötzlich den Summer. Rasch drehte sich Anna wieder um und drückte die Tür auf. Ein kühler, gekachelter Flur empfing sie. Sofort erinnerte sie sich an das Grün der Fliesen. Ein etwas muffiger Geruch umfing sie. Irgendjemand hatte etwas mit Kohl gekocht. Anna ging die knarzenden Treppen hoch in den zweiten Stock. Die Tür war
angelehnt, Inez oder wer auch immer schien einfach geöffnet zu haben. Vielleicht erwartete sie jemanden? Anna klopfte an die Tür und fragte auf Spanisch, ob jemand da sei. Niemand antwortete. Sie klopfte erneut, hörte Schritte und dann öffnete sich die Tür und ein großer Mann in ihrem Alter stand da und sah sie irritiert an. Sein Oberkörper war nackt und muskulös, die schwarzen Haare verwuschelt, als wäre er gerade aufgestanden. Mit dunklen, warmen Augen blickte er sie forschend an. »Hola?«
Sie erkannte ihn. Pablo! Inez’ damaliger Freund. Wie sehr er sich verändert hatte. Die Sonne hatte seine Haut gegerbt, so muskulös war er früher nicht gewesen. Er sah viel besser aus als damals. Reifer, erinnerte sie an George Clooney.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte er auf Spanisch. Offensichtlich hatte er sie nicht erkannt. Wie sehr musste sie gealtert sein, durchfuhr es Anna.
Sie räusperte sich und sagte auf Spanisch: »Hola. Ich bin’s, Anna.«
Man konnte förmlich sehen, wie die Erinnerung bei ihm zurückkam. Ein Strahlen ging über sein Gesicht. »Anna! Das gibt’s ja nicht. Wie kommst du denn hierher? Ich meine … komm rein, komm …«
Er bedeutete ihr, einzutreten, herzlich, einladend, als hätte er all die Jahre auf sie gewartet.
Anna betrat die ehemalige WG, in der offenbar nur noch Pablo wohnte. Oder er mit einer Partnerin? Nach Kindern sah es zumindest nicht aus. Keine kleinen Jacken an der Garderobe, keine Legosteine oder Turnbeutel auf dem Boden, wie sie es von ihren Freundinnen kannte. Er führte sie den weiß gehaltenen Flur entlang, dessen Decke türkis gestrichen war. Ein Kronleuchter hing von der Decke. Er führte sie weiter ins Wohnzimmer, in dem ein karamellfarbenes Stoffsofa stand, vor einem großen, flauschigen Teppich. Ein antik aussehender
Tisch mit modernen Stühlen gegenüber. Beeindruckt sah Anna sich um.
»Schön hast du es hier. Geschmackvoll.« Viel gemütlicher als ihr eigenes Zuhause mit Viktor, durchfuhr es sie. Denn Viktor liebte Designstücke und mochte einen kühleren, moderneren Stil.
»Danke. Wow, wie schön, dich zu sehen! Setz dich. Ich bin ganz durcheinander. Magst du etwas trinken?«
»Gern ein Wasser.«
Er deutete auf einen Stuhl, ging zu der offenen Küche, holte eine Flasche Wasser und zwei Gläser. »Einen Café con leche dazu?«
»Ich hatte gerade erst einen.«
»Aber keinen von Pablo. Den wirst du lieben.«
Sie lachte. »Also gut. Gern.«
Während sich Pablo zu einer edlen Kaffeemaschine umwandte und einen Kaffee zubereitete, betrachtete sie seinen durchtrainierten, breiten Rücken. Der Wohnung nach zu urteilen, arbeitete er nicht als einfacher Handwerker, hatte seine Muskeln also eher vom Sport. Da die Kaffeemaschine laut zischte, sagten beide einen Moment nichts, sahen sich nur immer wieder lächelnd an. Er kam ihr sofort wieder so vertraut vor, unglaublich. So viele Stunden hatten sie damals zu viert zusammen verbracht, eine echte Clique, die sie später so schmerzlich vermisst hatte.
Anna sah sich wieder neugierig im Wohnzimmer um. Auch dieser Raum wirkte nicht, als würde er mit einer Frau zusammenleben. Insofern schien er mit Inez nicht mehr liiert zu sein, denn wenn, hätten sie doch zusammengewohnt.
Der Duft des Kaffees erfüllte den Raum. Pablo brachte die beiden Kaffeetassen, setzte sich Anna gegenüber, betrachtete sie lächelnd und sichtlich fasziniert. »Anna, du bist noch schöner geworden.«
»Ach was«, erwiderte sie auflachend. »Ich bin älter geworden.«
»Wir alle. Ich mag Frauen, die etwas reifer sind. Sie duften dann noch besser – wie ein reifer Pfirsich«, scherzte er.
Sie lächelte, nahm einen Schluck, verbrannte sich ein wenig den Mund. Dann stellte sie die Tasse wieder ab, sah ihn an. Seine freundlichen, funkelnden Augen. Ein warmes Gefühl durchströmte sie. Sie erinnerten sie an die dunklen Augen ihres Teddybären als Kind.
»Was führt dich her? Die Sehnsucht nach mir wird es nicht sein.«
»Wer weiß?«, kokettierte sie. Denn mit einem Mal wurde ihr klar, dass sie Pablo vermisst hatte. Seine ruhige, gütige Ausstrahlung. Wieso nur hatte sie zu ihm den Kontakt abgebrochen, nachdem sie so übereilt nach Deutschland zurückgekehrt war? Sie waren doch Freunde gewesen.
»Du warst damals einfach verschwunden.« Seine Stimme klang enttäuscht. »Ich wäre für dich da gewesen.«
»Ich weiß. Ich … in meiner Erinnerung ist die Zeit ein schwarzes Loch, ich glaube ich bin einfach abgereist, nachdem mich Rafael verlassen hatte.«
»Es tut mir sehr leid, was du erleben musstest.«
»Danke.«
»Hast du bei deinen Eltern Trost gefunden?«
»Ich habe ihnen nur gesagt, dass mich ein Mann verlassen hat. Mehr nicht.«
»Verstehe. Hast du weitere Kinder bekommen?«
»Nein. Ich hätte das … nicht mehr gekonnt.«
»Du bist aber verheiratet?«
»Nein. Ich bin in einer Beziehung, aber … ich weiß nicht, ob es noch richtig ist.«
Er nickte, als wüsste er, wovon sie sprach. Er wirkte erleichtert.
»Hast du noch Kontakt zu Rafael?«, platzte es jetzt aus ihr heraus.
Pablo sah auf, als verstünde er jetzt, weshalb sie hier war. Dann schüttelte er den Kopf.
Jegliche Hoffnung zerbrach.
»Nein, tut mir leid, Anna, du also auch nicht?«
»Nein. Er ist damals abgereist und hat sich nie wieder gemeldet.«
»So ein Mistkerl.«
»Jepp. Und zu Inez?«
»Ich habe mich ein paar Monate danach von ihr getrennt. Sie wurde immer mehr … wie ein Eisblock.«
»Oh, und dann wohnst du in dieser Wohnung, der Wohnung ihrer Eltern?«
»Ja, mit ihrem Vater hab ich mich immer gut verstanden. Sie ist damals nach Andalusien gegangen, hatte also keinen Bedarf, und so habe ich die Wohnung gemietet. Seit damals. So eine günstige Miete bekomme ich nie wieder.«
»Verstehe. Dann weißt du nicht, ob sie noch etwas von Rafael gehört hat?«
»Nein. Kann ich mir auch nicht vorstellen. Es gab eine Situation, vor seiner Abreise, da sind die beiden heftig aneinandergeraten. Ich habe nicht verstanden, weshalb, und sie wollten es mir beide auch nicht sagen. Rafael war außer sich, hat sie hasserfüllt angesehen, angeschrien, wäre ihr beinahe an die Gurgel gegangen. Ich konnte ihn gerade noch davon abhalten.«
Anna bekam einen Kloß im Hals. Er war Inez beinahe an die Gurgel gegangen? Was war damals geschehen?