In allen Büchern, allen Zeitungsartikeln, die man in die Finger kriegt, steht drin, dass das berühmte »Silberglöckle« auf dem Großen Turm der Stuttgarter Stiftskirche anno Domini 1507 (in Worten: fünfzehnhundertundsieben) von dem Esslinger Glockengießer Pantaleon Sidler gegossen worden sei. Wenn man aber den Esslinger Decker-Hauff-Schüler Claus Huber, den Glockensachverständigen der württembergischen Landeskirche, fragt, dann sagt der einem, dass auf dem Glöckle in Wirklichkeit eindeutig das »Baujahr« 1502 draufsteht »in gotischen Minuskeln: † Ossanna hais ich. Pantlion Sidler von Eslingen gos mich im XV.C.II. iar«
Und es ist auch nicht aus Silber, sondern aus gewöhnlichem Glockenmetall, 35 Kilo schwer und hat 38 Zentimeter Durchmesser und den Ton Cis. Und wird werktags wie sonntags abends um neun und nachts um zwölf geläutet. Und wenn man durch die adventlich geschmückte Stadt läuft, dann ist das nach der akustischen Umweltverschmutzung durch das kommerzielle Weihnachtsgedudel ein richtiger Ohrenschmaus auf die Nacht.
Früher kannte jedes Kind in Stuttgart die romantischen Sagen, die sich um dieses Glöckle ranken. Eine, die hat so ein literarischer Geschäftemacher anno 1845 erfunden und geht so: Ein Edelfräulein von der Weißenburg habe es gestiftet und jeden Abend geläutet, dass ihre 1347 verschwundene Mutter wieder heimfinden solle. Eine andere Version ist grad so verlogen, nach der habe sich das wirtembergische (nachmals mit dem späteren Kurfürsten von Sachsen vermählte, früh im ersten Kindbett verstorbene und im Dom der Silberstadt Freiberg beigesetzte) Prinzeßchen Sibylla Elisabeth (1584–1606) auf dem Heimweg vom Kloster Denkendorf in finstrer (Mitter-)Nacht im dunklen (Bopser-)Wald verirrt und bloß durch das Glockenläuten wieder heimgefunden, und zum Dank habe sie anno 1598 das Silberglöckle gestiftet. Und der Karl von Gerok hat anno 1883 ein schönes langes Gedicht darüber gemacht: »Einst irrt ein edles Herzogskind/Durch Feld und Wald bei Nacht und Wind./Prinzeß Sibyll Elisabeth,/Gen Stuttgart will sie heim so spät …«