Prolog
4 Uhr BBC World News
»Sie sehen BBC World News aus London, zu ungewöhnlich später Stunde, mein Name ist Don McMillan. Die Breaking News dieser Nacht werden uns noch tagelang in Atem halten, so schrecklich sind die Vorgänge und die Bilder, die uns aus dem Norden Spaniens, genauer aus der Altstadt von San Sebastián, erreichen. Und wir gehen direkt dorthin zu unserer Korrespondentin Kylie McDuffy. Kylie, Sie berichten seit fünf Stunden ununterbrochen aus dem Baskenland, fassen Sie uns die Ereignisse bitte noch einmal zusammen.«
»Ja, Don, es ist der wahrscheinlich schrecklichste Abend in meiner ganzen Karriere, und niemand, der diese Bilder hier sieht, wird sie jemals vergessen können.
Wir sind seit kurz nach 23 Uhr vor Ort, circa zwei Stunden nach dem schrecklichen Anschlag. Der erste Notruf bei der baskischen Polizei, der Ertzaintza, ging um 21 Uhr ein.
Mehrere Anrufer berichteten, dass ein schwerer Lkw, ein schwerer Schlepper, durch die Altstadt raste und dabei wahllos Menschen überfuhr. Wir konnten die Ereignisse inzwischen so weit rekonstruieren, dass der Lkw, den wir auch auf diesen Bildern sehen, ein gestohlener Dreißigtonner der Marke MAN, kurz vor 21 Uhr von der breiten Foru Pasealekua kommend, noch einmal Tempo aufnahm und an der Markthalle Mercado de la Bretxa ungebremst in die Altstadt raste. Sie müssen sich vorstellen, an einem solchen Abend ist hier ohnehin die Hölle los, 21 Uhr, da sind Zehntausende Flaneure unterwegs, wollen essen, trinken, Spaß haben, aber heute Abend findet ja auch noch die Sommerakademie statt − mit 2000 jungen Frauen aus aller Welt, die sich hier treffen, um für mehr Bildung zu kämpfen, unter ihnen auch die Initiatorin und Friedensnobelpreisträgerin Ashrami Rafiki.
Schon in den ersten kleinen Straßen, vor den unzähligen Bars dieser so belebten Stadt, überrollte der Lkw Dutzende Menschen, bis er dann über die etwas breitere Portu Kalea in Richtung des Plaza Constitución raste, eines zentralen Platzes in der Altstadt, auf dem die Abschlusskundgebung der Sommerakademie stattfand. Noch immer fuhr er mit etwa 70 Stundenkilometern durch die Gassen. Natürlich entstand sofort eine Massenpanik, aber Sie müssen sich das vorstellen, es gibt in diesen engen Gassen bei diesem Tempo natürlich keine Chance zu entkommen, der Sattelschlepper fuhr außerdem Slalom, um möglichst viele Menschen zu erwischen. Um 21 Uhr 05 fuhr er dann auf den Platz, dort kam es zu einem traurigen Höhepunkt, als er mitten durch die Kundgebung raste.«
»Kylie, gibt es schon eine Bilanz der Opfer?«
»Don, es ist eine Katastrophe, wie sie sich seit dem 11. September 2001, also seit genau 17 Jahren nicht mehr abgespielt hat. Wir beklagen hier zur Stunde 368 Tote und über 1000 zum Teil Schwerverletzte, darunter unzählige junge Mädchen der Sommerakademie. Ashrami Rafiki, die Friedensnobelpreisträgerin, wurde auch erfasst, schwebt aber nicht in Lebensgefahr.«
»Wir hören, der Fahrer sei auf der Flucht? Wie ist das möglich?«
»Ja, in der Tat, das ist nach einem Anschlag mit diesen Dimensionen absolut ungewöhnlich. Aber es ist so, dass das Chaos hier am Tatort in den Sekunden nach der Tat so groß war, dass der Fahrer aus dem völlig zerstörten Führerhaus springen und im Chaos verschwinden konnte. Die Ertzaintza und die gesamte spanische Polizei suchen nach ihm. Er konnte mittlerweile identifiziert werden, doch die Polizei gibt die Identität des Mannes noch nicht bekannt. Jedoch ist vor zwei Stunden ein Bekennervideo im Internet aufgetaucht, es zeigt einen maskierten Mann. Aber sehen Sie selbst:«
Auf dem Bildschirm ist eine kahle Wand in einem Gebäude zu sehen, davor eine schwarze Fahne und ein Mann mit Sturmhaube.
»Ich bekenne mich zu der Tötung von unzähligen Ungläubigen heute Abend in der Altstadt von San Sebastián.
Diese Tat kann keiner einschlägigen Terrororganisation zugerechnet werden, sie ist die Tat einer neuen Zelle, die ihren Ursprung in den Kriegen der Ungläubigen gegen uns hat.
Mein Ziel war es, so viele Frauen zu töten, wie es mir möglich war. Die Zukunft des Islams hängt an uns Kämpfern – unsere Frauen sollen für Nachwuchs sorgen und uns Kämpfer umhegen – und sich nicht durch Verwirrte wie die Afghanin Rafiki auf Abwege führen lassen.
In den Schulen lernen sie die Umtriebe des Westens, doch sie lernen nichts von ihrem Glauben.
Unsere Zukunft sind wir selbst – und unser Glauben.
Wir Männer sind die Zukunft – das zeigt sich auch darin, dass es eine Frau war, die mich hierhergeführt hat: eine Kommissarin von Europol, die meiner List und Tücke erlegen ist. Sie hat mich hierhergebracht, in die Straßen Spaniens – um meine Tat zu vollbringen. Sie hat es mir durch ihr Unwissen ermöglicht, pünktlich von Afrika hierher nach Europa zu gelangen und meinen Plan umzusetzen.
Durch ihre Fehlbarkeit ist diese Katastrophe gelungen. Und das zeigt uns Kämpfern ein für alle Mal: Die Behörden im Westen haben keine Chance gegen uns. Weil sie ängstlich sind. Wir aber sind entschlossen.
Sollte ich diesen Anschlag überlebt haben, werde ich fortan der Anführer der neuen Zelle sein. Auf den Tod der Ungläubigen.«
Ende der Aufnahme
Ihr war gar nicht eingefallen, dass sie eingeschlafen war. Sie hatte seit Stunden in ihrem Bett gelegen, draußen kreisten einige Polizeisirenen, irgendein Fußballspiel im nahe gelegenen Jahn-Sportpark. Doch sie musste dann doch weggetrieben sein, in einen leichten Schlaf. Jedenfalls wachte sie nun so heftig auf, dass sie sich hinsetzen musste. Der kalte Schweiß stand ihr auf der Stirn, dabei war es im Zimmer herrlich kühl. Berliner Altbau eben.
Sie sah sich um, Stefan schlief neben ihr, so friedlich, wie es nur ein Mann ohne elementare Sorgen konnte.
Sie lauschte nach den Kindern im anderen Zimmer, doch die Wohnung lag still da.
Dieser Traum, er war realistisch gewesen, als würde sie selbst vorm Fernseher sitzen. Sie konnte jedes Wort nacherzählen, sogar jetzt noch, Minuten später.
Eine Spur zu realistisch. Sie wusste, was das bedeutete.