Isaakson
Ledras Street, Altstadt von Nikosia, Zypern
S ie habe keine Zeit, hatte es geheißen.
Familiäre Verpflichtungen in Berlin.
Er glaubte Rui, seinem Boss, kein Wort. Wahrscheinlich war sie an irgendeinem heißen Ding dran, ohne ihn.
Dabei war das hier das heiße Ding. Da hatte er nicht den geringsten Zweifel.
Isaakson hörte, wie der Muezzin auf der anderen Seite der geteilten Stadt wie wild rief, Freitag, Gebetszeit. Ohne Zweifel hatten die Türken den Lautsprecher in Richtung der Republik Zypern gedreht, damit es hier lauter zu hören war als im eigenen Land. Aus dem heißen Krieg während der türkischen Besetzung des Inselnordens im Jahre 1974 war über die Jahrzehnte ein kalter Krieg geworden, der aber nur noch kuriose Züge hatte: Kein Flugzeug ging in den Norden, außer es kam aus der Türkei. Selbst Briefe mussten über die türkische Küstenstadt Antalya geschickt werden. Die Grenze wurde bewacht von jungen Soldaten, die aber nur noch pro forma hinter den Sandsäcken standen, selbst die Blauhelme der UN betrachteten einen Zypern-Einsatz als Kurzurlaub im Mittelmeer. Dennoch war es ein Fakt: Nikosia war die letzte geteilte Hauptstadt der Welt.
Der Grenzübergang war dort vorne, eine Hütte für die griechisch-zypriotischen Beamten, eine weiter hinten für die türkischen. Dazwischen ein schmaler Steg, links und rechts Niemandsland. Entmilitarisierte Zone. Soldaten mit Gewehren, die Kaugummi kauend auf ihren Wachtürmen herumhingen.
Er konnte von der anderen Seite dieses Landes nicht viel sehen, nur die Spitze der Moschee und die omnipräsenten roten Flaggen mit dem Halbmond, die sie alle fünfzig Meter aufgehängt hatten – zweifellos auch reine Provokation.
Nach kurzer Suche hatte er ein Kafenion gefunden, das ohne Weiteres auch in Stockholm hätte stehen können.
Die Barista war atemberaubend, weißes Tanktop, kurze hellblaue Hotpants, ein Lächeln wie aus dem Griechenland-Urlaubskatalog. Dazu gab es eine richtige Kaffeemaschine, hausgemachte Kuchen und einen unverbauten Blick auf die Grenze.
Nachdem er mit der Zypriotin hinter der Bar ausreichend geflirtet hatte, bezog er Stellung an einem kleinen Tisch auf der Terrasse.
Er schaffte zwei ganze Cappuccini.
Dann hielt ein Stück die Straße runter der blau-weiße Ford Mondeo mit der kryptischen griechischen Beschriftung für Polizei, darunter kleiner Police.
Nur die hintere Wagentür öffnete sich, genau wie es verabredet war. Ein Mann stieg aus. Klein, schlank. Und hellblond. Er blickte sich kurz um, hielt die Hand vors Gesicht, als schütze er sich vor der Sonne. Ein zweiter Blick, die Straße hinunter. Der Mann war geschult darin, Gefahren zu erkennen. Das erkannte Isaakson sofort.
Nun ging er los, schüttelte an der Schlange vor dem KFC-Hähnchengrill den Kopf, lauschte kurz dem Muezzin, der noch immer von drüben rief, und ging dann weiter, langsam und doch irgendwie zielstrebig.
Als er fast bei dem griechischen Kaffeehaus angekommen war, stand Isaakson auf und ging ein Stück auf ihn zu. Leise und ohne eine Spur des Zögerns sagte er auf Arabisch: »Salam aleikum, Herr Al-Haddad. Ich habe auf Sie gewartet, setzen Sie sich bitte zu mir.«
Der junge Mann blickte ihn aus zusammengekniffenen Augen an und sagte ganz freundlich: »Ein Zwei-Meter-Riese mit dem Akzent meiner Heimat. Ich bin überrascht.«
»Ich nenne Beirut meine zweite Heimat«, gab Isaakson zurück. »Und meine erste Liebe.«
»Und dann sind Sie auch noch Poet. Ich fühle mich geschmeichelt.«
Sie setzten sich unter den hellen Sonnenschirm.
Die dunkelblonde Barista kam heraus, der Blick des Mannes ruhte einen Moment zu lange auf ihr, dann wandte er die Augen rasch ab und sagte zu Isaakson: »Sagen Sie ihr, ich nehme einen Kaffee. Schwarz.«
»Zucker?«
»Einen normalen Kaffee. Nicht dieses süße zypriotische Gesöff. Das hat mir schon im Gefängnis gereicht.«
»Gut, bring uns bitte einen schwarzen Kaffee, ich nehme ein Keo«, sagte er, und die Barista verschwand mit einem Lächeln für ihn und einem verächtlichen Blick für seinen Begleiter.
»Zu viel Weiblichkeit?«, fragte der Schwede, der gelernt hatte, dass es in diesem Kulturkreis unter Männern besser war, ohne Skrupel zu sein.
Der blonde Mann schien zu überlegen, wie viel von seinem Innenleben er preisgeben konnte.
»Ich kann mich einfach nicht daran gewöhnen, dass sie so … frei sind«, sagte er. »So …«
»… verführerisch?«
»… nuttig. Leicht zu haben. Verstehen Sie? Ich war sehr froh, dass der Knast ein reiner Männerort war.«
»Ein Jahr?«
»Zehn Monate und fünfzehn Tage.«
Die junge Frau kam wieder heraus, stellte den Café und das Bier vor den Männern ab. Al-Haddad warf einen verächtlichen Blick auf das Bier.
Isaakson fand ihn schwer erträglich.
»Und wie sind Zyperns Knäste?«
»Wie Beiruts Wohnungen. Bisschen zu warm, aber einfach und sauber.«
»Sie sollten froh sein, dass Sie nicht in Spanien sitzen. Wenn die Sie da für Radikalisierung drangekriegt hätten, säßen Sie ’ne Ewigkeit ein. Und – was man so hört – ist der Terrorknast von Valdemoro nicht unbedingt zu empfehlen.«
Der Libanese schnaubte verächtlich.
»Nette Zellengenossen gehabt?«
»Diese Insel ist ein Phänomen. Selten so wenige Glaubenskumpanen kennengelernt.«
»Ist das der Grund, warum Sie sich die ganze Sache noch mal überlegt haben?«
Der Mann nahm einen Schluck von seinem Café, prüfte ihn auf der Zunge, dann trank er die Tasse rasch aus.
»Lassen Sie uns ein Stück gehen, ja?«
Isaakson sah sich um, doch außer älteren zypriotischen Herren, die auf den Holztischen Tavli spielten, war da niemand. Trotzdem sagte er: »Gut, gehen wir.«
Er brachte 20 Euro in die Bar und nahm sich vor, später am Abend wieder herzukommen. Nachdem er erstaunliche 11 Euro Wechselgeld erhalten hatte, liefen sie die Ledras hinauf Richtung Grenze.
»Können Sie mich Adel nennen? Das macht es einfacher«, sagte der Mann und sah Isaakson zum ersten Mal direkt in die Augen.
»Klar. Isaakson«, gab der zurück.
»Norweger?«
»Schwede.«
»Viele Glaubensgenossen in deinem Land.«
»Ja. Und viele von ihnen sind meine Freunde.«
»Und? Schlechte Erfahrungen?«
»Bei meinen Freunden? Nein. Hat aber auch niemand von ihnen versucht, innerhalb einer salafistischen Organisation Kämpfer für den Dschihad anzuwerben.«
»Wir sollten aufhören, uns gegenseitig zu beleidigen«, erklärte Al-Haddad, und seine Stimme war scharf. »Weißt du, Isaakson, ich mache das hier aus Überzeugung. Ich habe so viele Nächte wach gelegen …«
Er brach ab, als dächte er nach. Sie bogen in eine kleine Gasse, die ausgestorben dalag. Zu ihrer Rechten war eine Sackgasse versperrt mit Sandsäcken, dahinter Schießscharten und ein Wachturm, darauf ein junger Soldat, der ihnen gelangweilt nachsah. Über allem lag die Hitze des Spätsommers. Adel atmete schwer.
»Ich wusste von Anfang an, dass wir nicht richtigliegen. Aber was machst du als junger Libanese aus einer religiösen Familie, wenn du niemanden hast, an dem dir etwas liegt. Wenn alle in deiner Familie …«
Wieder eine Pause. Isaakson ärgerte sich, dass sein Bier noch beinahe unangerührt auf dem Tisch stand. Er hoffte, hier nicht seine Zeit zu verplempern. Der Typ nervte.
Aber wenn es stimmte, was der Libanese angedeutet hatte, dann hatte er derart gute Informationen, dass er der Schlüssel sein konnte, um die Bürger Europas zu schützen. Eine einmalige Chance.
»Wenn da niemand ist, der an dich glaubt … Wenn es einfach nichts gibt, was deinem verdammten Leben einen Sinn gibt? Meine Brüder waren für mich da – wohlgemerkt, meine Glaubensbrüder –, also habe ich ihre Idee nach Europa getragen.«
»Was leicht war, als Sohn eines Handelsreisenden, der gute Kontakte in die westliche Welt hatte?«
Al-Haddad nickte.
»Sind Sie deshalb so blond wie ich?«
»Mein Vater hat es wohl nicht so ganz genau genommen mit der Treue. Wir haben nie darüber gesprochen«, bekannte Al-Haddad bitter. »Deshalb war ich immer ein Ausgestoßener in Beirut.«
»Kindheitstrauma?«
Der Libanese überging die Bemerkung.
»Ich habe im Westen gesehen, was meine Brüder euch vorwerfen. Eure Maßlosigkeit. Eure Verführbarkeit. Euer Verrat an Familie und Zusammenhalt.«
Isaakson lachte laut auf.
»Ich weiß nicht, ob die Scheidung einer zerrütteten Familie ein größerer Verrat ist, als wenn ich mit einem Sprengstoffgürtel die Madrider U-Bahn in die Luft jage. Mit Frauen, die auch Familie haben. Mit Kindern, die zu jemandes Familie gehören.«
»Ich wusste, dass wir so ein Gespräch führen würden«, sagte der Mann und blickte ihn starr an, dann ließ er seine Augen wieder schweifen, sog durch die bebenden Nasenflügel die Luft ein und hielt inne, als er den Muezzin hörte, der aus der Moschee zu ihnen herüberrief.
»Hörst du, was er sagt?«
»Ja. Er sagt: ›Allah ist der Gesetzgeber. Allah schreibt vor, was Recht und Gesetz ist.‹«, übersetzte Isaakson.
»Genau. Und deshalb führt mich, was du sagst, in die Irre. Du weißt wie ich, dass der Islam Frieden verheißt.«
»Es sind deine Brüder, die das Wort umkehren und Taten begehen, die uns töten sollen. Und du warst einer dieser Männer.«
»Alles hat seine Zeit«, antwortete Adel. »Ich habe verstanden, dass der Hass uns vergiftet. Dass Allah uns sagen wird, wohin unser Weg führt. Dass wir es nicht allein können. Darum habe ich mich an die Behörden gewandt, an die zypriotischen Behörden, meine ich. Und deshalb bist du jetzt hier, so scheint es.«
»Ich will sicher sein, dass du deinen neuen Platz kennst.«
»Hat den Satz jemand für dich vorbereitet?«
Isaakson denkt an Zara und antwortet nicht. Adel hält inne und grinst.
»Ja, ich füge mich in die Ordnung der westlichen Welt. Ich werde für euch arbeiten. Ich übermittle euch alle Informationen über mein Handy. Wenn es zu unsicher wird, sende ich eine Postkarte per Luftpost.«
»Wir brauchen richtig gute Informationen, kein Blabla.«
Der Libanese blickte ihn intensiv an.
»Was du von mir kriegen kannst, wirst du von keinem anderen in der Szene bekommen. Die vertrauen mir, seit ich in Syrien …«
Er brach ab. Mehr war nicht nötig. Isaakson kannte die Geschichte. Die Bilder.
»Ich habe alles vorbereitet. Es gibt Papiere, die du unterzeichnen musst. Eine Verpflichtungsvereinbarung. Guck nicht so, ich hab mir das nicht ausgedacht. Ich habe deinen originalen Pass hier, mit dem du sofort hinüberkannst in die türkische Republik Nordzypern. Von dort bringt dich ein Boot nach Mersin in die Türkei, das Ticket ist in diesem Umschlag. Dort wird es für dich ein Leichtes sein, nach Rakka zu gelangen.«
»Werden meine Brüder die Geschichte glauben?«
»Dass dich die Behörden auf Zypern freigelassen haben? Einfach so? Ja, klar. Nach allem, was du unserem Kontakt auf der Insel erzählt hast, glaubt ihr doch eh, dass die Behörden in Europa allesamt Weicheier sind, die keine Ahnung haben, wen sie ins Land lassen. Deine Entlassungspapiere sind wasserdicht – wir konnten dir keine Anschlagsvorbereitungen nachweisen –, und das bisschen Radikalisierung führt zur Freilassung. So ist nun mal der Rechtsstaat.«
Isaakson stöhnte, weil es wahr war. Und der Libanese grinste, weil er das wusste.
»Was mache ich dann, wenn ich drüben bin?«
»Du tust, was sie dir sagen. Sie werden dich wieder ins Spiel bringen wollen. Du lässt dich darauf ein.«
Zwei zypriotische Mädchen hüpften zum Rhythmus des eigenen Gesangs vorbei, die Schulranzen wippten auf ihren Rücken. Adel schien kurz gebannt, sein Blick folgte ihnen, dann riss er sich los, sah wieder Isaakson an und wies auf die Passanten.
»Und wenn die wollen, dass ich viele von euch töte? Kuffar, Ungläubige?«
»Dann werden wir wissen, was sie vorhaben. Wir werden dich vorher rausholen.«
»Sie sind klug.«
»Wir sind klüger.«
»Inshallah.«